“Patria” von Fernando ARAMBURU

Ein großer Roman. 750 Seiten. Ein Stück echte Literatur.

Inhaltlich geht es um den ETA-Terror im Baskenland, der in den 70iger Jahren Spanien in Atem hielt. Es wird beschrieben, wie sich aus dem Stolz, ein Baske mit eigener Kultur und Sprache  zu sein, allmählich der zerstörerische Wahn ausbildet, mit der Waffe gegen die vermeintlichen Unterdrücker kämpfen zu müssen. Und es wird erzählt, was danach möglich oder unmöglich ist beim Heilen der Wunden und im Prozess der Versöhnung.

In zwei – ursprünglich befreundeten – Familien stoßen scheinbar alle denkbaren Facetten und Widersprüchlichkeiten dieser Gemengelage aufeinander: zwischen Täter und Opfer gibt es eine ganze Reihe von Abstufungen quer durch die Familien – mit weitreichenden Folgen für die Lebensläufe der beteiligten Personen.

Der Autor schildert diese menschlichen Verstrickungen rund um den Terror mit einer bemerkenswerten Eindringlichkeit und  schafft es so, allen Personen einen nachfühlbaren, psychologisch stimmigen Charakter zu geben. Man versteht diese Menschen, weil man sie so von innen heraus kennen lernt. Ihr Verhalten scheint zwangsläufig – weil sie so sind, wie sie sind. Was nicht bedeutet, dass es kein “richtig” oder “falsch” gäbe: es gibt keinen Zweifel daran, dass der Autor den sich schleichend ausbreitenden Hass, der in zahlreichen Morden endet, für ein Krebsgeschwür hält. Aber er lässt verstehen, warum dieser Tumor der Unmenschlichkeit auch zwischen zwei eng befreundeten Familien seine zerstörerische Kraft entfalten kann.

Das gesamt Buch ist wie ein riesiges Puzzle zusammengesetzt aus extrem kurzen Kapiteln von durchschnittlich ca. fünf Seiten. Es handelt sich jeweils um kurze Momentaufnahmen und diese setzen sich nur ganz allmählich zu einem Gesamtbild zusammen. Dabei wird insgesamt ein Zeitraum von über 20 Jahren durchmessen – jedes Kapitel setzt an einem anderen Punkt an. Dabei werden zwei Spannungsbogen parallel aufgespannt: die der entscheidenden Mordtat und die des Aussöhnungsversuchs.

Dass nicht nur die Konstruktion des Buches sondern auch die sprachliche Umsetzung von hoher literarischer Qualität ist, versteht sich schon fast von selbst.

Das größte Kompliment für den Autor eines solchen Buches ist aber vermutlich, dass seine Botschaft gehört wird. Diese Botschaft wird auf eine eher leise, aber absolut unüberhörbare Weise vermittelt:
Die ganz normale alltägliche Menschlichkeit ist so viel wertvoller und bedeutsamer als jedes ideologisch aufgeblähte Ideal!

Der Roman von Aramburu macht Mut, weil sich die Humanität letztlich ihren Platz weitgehend zurückerobert. Aber er bietet auch mahnendes Anschauungsmaterial dafür, wie eine gesellschaftliche Verrohung im Dienste einer “großen Idee” um sich greifen kann. Gründe, einer solchen Gefahr auch aktuell entgegenzutreten, lassen sich nicht nur im heutigen Spanien finden….

“Unter der Drachenwand” von Arno GEIGER

Ein Kriegsroman, der die Zeit kurz vor dem Ende des 2. Weltkrieges beschreibt. Es geht um einen jungen österreichischen Soldaten, dem eine Verwundung ein Jahr Auszeit in einer ländlichen Umgebung ermöglicht.

Geiger spannt ein atmosphärisch dichtes erzählerisches Netz auf, in dem nicht nur der Ich-Erzähler sondern auch seine und die Familie seiner Geliebten und ein jüdisches Einzelschicksal zu Wort kommen. So ergibt sich ein vielschichtiges Bild vom “Leben und Leiden im Krieg”, das sich vor allem durch eine – manchmal fast übertrieben detailverliebte – Alltagsnähe auszeichnet.

Alle Figuren werden sehr plastisch gezeichnet; man lernt reale Menschen mit all ihren Widersprüchen kennen. Genau das macht die Qualität dieses Buches aus: Es sind mehr die leisen, unspektakulären Erlebnisse und Beobachtungen, die den Irrsinn des Nazi-Krieges spürbar werden lassen. Nicht überwiegend auf dem Schlachtfeld, sondern in der scheinbar beschaulichen Provinz. Auch die große Politik reflektiert sich an Einzelpersonen – und es werden durchaus auch Grauzonen sichtbar. Selbst beim Erzähler, der eine existentielle Entscheidung treffen muss.

Die eingewobene Liebesgeschichte zwischen dem Soldaten und einer verheirateten Frau und die solidarische Beziehung zu einem regimekritischen Nachbarn macht deutlich, dass Menschlichkeit auch in kriegerischen Zeiten möglich und lebbar ist. Insofern macht der Roman auch Mut: Auch unter schwierigen und bedrohlichen Umständen lohnt es sich, eine elementare Grundanständigkeit zu bewahren und den Spuren von Vertrauen und Zuwendung zu folgen.

Ein aufklärender und menschenfreundlicher Roman – der vielleicht an einigen wenigen Stellen doch ein paar Längen aufweist.

“Downsizing” von Alexander Payne, mit Matt Damon

Ich ging völlig unvorbereitet in diesen Film, hatte nur die Vorinformation, dass es um die Idee gehen sollte, durch extreme Verkleinerung der Menschen u.a. die Ressourcen-Probleme unseres Planeten lösen zu wollen.
Mein Interesse galt somit sowohl dem Konzept, der darauf basierenden Handlung, als auch dessen filmtechnischer Umsetzung.

Leider wurde ich auf allen Ebenen enttäuscht.

Ich bin ja bereit, mich auf futuristisch-abgedrehte Fantasien einzulassen – auch dafür gibt es ja schließlich Kino. Wenn einem dann aber eine Geschichte vorgesetzt wird, die so zufällig, belanglos und willkürlich erscheint, wird es für mich schwierig. Ich fühlte mich nicht eingewoben in einen Handlungsablauf oder in eine Identifikation mit den Figuren, sondern stellte mir immer wieder die Frage: “Wie ist das jetzt gemeint?”
Soll das jetzt eine tiefgründige Geschichte mit einer echten Botschaft sein? Soll es eine bitterböse Satire werden? Oder tatsächlich ein ernstgemeinter Liebesfilm? Oder – was das Schlimmste wäre – wusste der Regisseur selbst nicht, was er da gerade anstellt?

Natürlich gab es einige Szenen, die von der aktuelle cineastischen Tricktechnik lebten. Gut gemacht – aber auch erwartungsgemäß und nicht gerade sensationell. Dafür gab es bei der Umsetzung der Miniaturisierung an anderen Stellen so eklatante Schwächen, dass man nur mit dem Kopf schütteln konnte.
Die mögliche ökologische Weltrettungsperspektive wurde so verkitscht, dass sie nur noch als Persiflage dienen konnte; ähnliches gilt für die Love-Story.

Für mich ein wirklich unausgegorener Film. Muss  man nicht gesehen haben; selbst wenn man ihn irgendwann im Fernseher geboten kriegen sollte.

War trotzdem ein schöner Abend…

Chaos bei der SPD – eine andere Perspektive

Natürlich: Es wurden Fehler gemacht – nicht zuletzt auch von Martin Schulz!
Was aber in den letzten Tagen und Stunden passiert ist, ist meiner Meinung nach nicht das Ergebnis solcher Fehler der Hauptakteure, sondern vorrangig die Folge einer gesellschaftlichen Negativ-Stimmung, die sich – nicht nur, aber auch – in der SPD breitgemacht hat.

Was will ich damit sagen:
Mir scheint es immer stärker darum zu gehen, sich an (vermeintlichen) Schwächen, Fehlern oder Widersprüchlichkeiten von Führungsfiguren  schonungslos abzuarbeiten. Es gibt ein extrem destruktives Vergnügen daran, Leitfiguren zu demontieren – im Extremfall solange und so gründlich, dass deren Laufbahn in Schutt und Asche liegt.
Es ist ein Spiel, das scheinbar alle höchst vergnüglich finden: die politischen Konkurrenten, die Parteibasis, die Medien und all die Privatleute, die in Gesprächen und Posts lustige oder wütende Beiträge machen und damit die Steigerungsspirale vorantreiben.

Es macht scheinbar unendlichen Spaß, Autoritäten zu kippen! Die Pubertät lässt grüßen! Die Folgen? Ist doch egal – Hauptsache es fühlt sich geil an oder es verschafft Aufmerksamkeit oder Quoten!

Ich würde gerne über die Folgen reden.
Ich bin z.B. stinksauer, dass gerade in wenigen Tagen zwei hoch kompetente potentielle Außenminister dieses Landes zerwurstet wurden. Ich wollte gerne, dass dieses Land – und Europa insgesamt – bestmöglich vertreten wird. Mir war letztlich egal, ob Schulz oder Gabriel das tun – wenn sie es nur endlich tun dürften.
Vielleicht war das Blitz-Gekungel zwischen Schulz und Nahles nicht der beste Stil – aber was hat man (als SPD)  bitte davon, wenn in dieser hoch-sensiblen Phase sofort wieder alles durch einen Proteststurm in Klump gehauen wird?
Man wirft den Handelnden ihre persönlichen Ambitionen vor – ich werfe denen, die auf jede denkbare Abweichung von ihrer Ideallinie mit wütendem Geheul reagieren, Verantwortungslosigkeit vor. Diese Art, mit Entscheidungen umzugehen, die einem selber nicht passen, drückt genau den Egoismus und Narzissmus aus, den man angeblich kritisieren will.

Das “Nein-Sagen”, die unerweichliche Ablehnung von Kompromissen, ist offenbar das Gebot der Stunde. Nur nichts zähneknirschend akzeptieren, weil es der Sache dienen könnte. Es gibt ja die “Reine Lehre”, es gibt ja eine frühere Festlegung, die man den Handelnden auf Lebenszeit vorhalten kann. Irgendwas findet man immer – und man sich daran hochziehen und sich von anderen dafür feiern lassen.
Nur wie soll in einem solchen Klima noch sinnvolles politisches Handeln möglich sein?

Das allgemeine Unbehagen an dem “Weiterwursteln” einer vermeintlich ausgelaugten GroKo ist mir nicht völlig fremd. Auch ich hätte mir angesichts der wirklich brennenden Themen und Probleme einen mutigeren und zukunftsweisenderen Aufbruch gewünscht. Ich finde es nur absolut unfair und extrem destruktiv, diesen Frust jetzt an den an verantwortlicher Stelle handelnden Politikern abzuladen. Die Wahl ist im September gelaufen – und im Februar ist man hochgradig frustriert, dass die SPD nicht alle ihre Vorstellungen durchsetzt! Das ist doch nicht mehr nachzuvollziehen! Das ist Kinderkram: “Ich will einen Lolli haben, und zwar den roten!”

Ich will, dass dieses Land regiert wird, und zwar von erfahrenen und kompetenten Leuten – auch wenn diese mal einen Looping vollziehen.

 

“Eine Idee erscheint (Die Ermordung des Commendatore 1)” von Haruki MURAKAMI

Ich habe in den letzten 6 Jahren von keinem Autor mehr Bücher gelesen/gehört als von Haruki Murakami; ich nannte ihn deshalb oft schon „meinen Japaner“. Er hat einen wirklich sehr individuellen Schreibstil entwickelt, der sicherlich nicht jedermanns Geschmack ist – aber ihn gleichzeitig seit Jahren regelmäßig auf die Kandidaten-Liste für den Literatur-Nobelpreis gebracht hat.

Der neue Roman reiht sich lückenlos in das bisherige literarisches Schaffen von Murakami ein, weist aber trotzdem eine Besonderheit auf: Er ist für sich alleine in keiner Weise abgeschlossen; endet sozusagen „mitten im Satz“. Daher wollte ich eigentlich den (zwingend notwendigen) zweiten Band abwarten, bevor ich meine Bewertung abgebe. Nun ist aber dieses Buch offenbar außerordentlich erfolgreich und schon weit oben in der SPIEGEL-Bestseller-Liste. Es wird also Zeit.

Der Roman spielt in der Nähe von Tokio und ist natürlich in die japanischen Kultur und Lebensweise eingebettet; der Autor ist aber immer international aufgestellt. Diesmal spielt klassische Opernmusik aus Österreich und Deutschland eine große Rolle; es gibt auch Bezüge zur Machtergreifung der Nazis.

Der Ich-Erzähler ist (Portrait-)Maler und berichtet über eine Episode aus seinem Leben, die mit der plötzlichen Trennung seiner Frau beginnt. Dieser Einschnitt bringt ihn in eine neue Umgebung und damit in Berührung mit sehr ungewöhnlichen und skurrilen Ereignissen.
Man erfährt viel über Malerei, über Opern, über besondere menschliche Beziehungen.

Was macht nun das Buch so anders?
Murakimi schafft immer wieder eine sehr besondere Atmosphäre, in dem er eine einzigartige Verbindung schafft zwischen zwei „Welten“: Auf der einen Seite schildert er in einer unglaublich unauffälligen Selbstverständlichkeit normale Alltagssituationen bzw. -abläufe; er lullt den Leser so durch entsprechende Wiederholungen (mit hoher Redundanz) geradezu in eine fast meditativ wirkende Banalität ein. Es geht dabei z.B. oft um Alltagsverrichtungen wie Kochen und Hausarbeit. Diese geradezu langweilige Normalität dient dann Basis für die Entwicklung völlig skurriler und phantastischer Inhalte, die den normalen Realitätsrahmen oft weit hinter sich lassen. Weil diese Geschichten aber in dem gleichen „Tonfall“ und einer unveränderten – im Prinzip sehr einfachen – Erzählstruktur dargeboten werden, gelingt es dem Autor tatsächlich, den Leser mit in diese Alternativwelten zu nehmen und die sonst zu erwartenden Widerstände zu überwinden. Ein toller Trick, der immer wieder wirkt – auch wenn man ihn kennt.

Man kann nach Murakami süchtig werden oder ihn als einen verrückten Spinner zur Seite legen.
Ich jedenfalls warte auf den zweiten Band (der für April angekündigt ist). Dass man so – durch die Aufteilung in zwei Bände – deutlich mehr Gewinn erzielen kann als durch ein entsprechend dicken Einzelband, sei hiermit verziehen. Es ist halt mein Japaner. Und er wird den Nobelpreis noch bekommen. Früher oder später….

(s. a. “1Q84“)