Als Vorbereitung auf eine Diskussion unter Freunden habe ich ein paar Thesen aufgeschrieben, die ich auf diesem Weg etwas breiter streuen möchte.
Letztlich geht es dabei nicht nur um ein abstraktes Thema, sondern um die konkrete Frage, ob und wie unsere demokratisch-pluralistisches System angesichts der Bedrohung durch autokratische Tendenzen überleben kann.
1) Unsere pluralistisch angelegte Gesellschaft bietet einen sicheren Rahmen dafür, dass unterschiedliche Interessen, Weltanschauungen und Wertesysteme nebeneinander stehen können und dürfen. Damit entsteht Raum für individuelle Freiheit bzw. Weiterentwicklung und Schutz vor Bevormundung und Unterdrückung.
2) Pluralistische Gesellschaften weisen aber auch Schwächen auf: Ihnen fehlt ein einigender Bezugspunkt, der Identität, Zugehörigkeit und Orientierung schafft (wie es z.B. Staaten bieten können, die ihre Basis in Tradition, Religion, Ideologie oder Nationalismus definieren und zelebrieren). Dieses Problem verschärft sich noch zusätzlich, wenn die potentielle gemeinsame Basis (Grundgesetz) nur abstrakt vorhanden ist und nicht auch emotional verankert wird.
3) Ein extrem ausgebildeter Pluralismus kann in eine Beliebigkeit führen. Dadurch, dass alle denkbaren Lebensvarianten quasi gleichwertig nebeneinander gestellt werden (und dabei auch noch Abweichungen und Minderheiten besonders beachtet bzw. geschützt werden), geht das Gefühl für das „Normale“ (vielleicht auch das „Richtige“) immer stärker verloren.
4) Die Vielfalt und offensichtliche Beliebigkeit von Lebensentwürfen und Normen überfordert insbesondere Menschen mit eher geringen (intellektuellen, emotionalen) Ressourcen. Sie sind dann z.B. Einflussnahmen von Demagogen oder wirtschaftlichen Interessen ausgeliefert und werden so – unter dem Mantel einer vermeintlichen Autonomie und Freiheit – wirkungsvoll manipuliert (z.B. indem man die Neigung in Richtung Sensation und Extrem ausnutzt).
5) Angesichts der realen Menschheitsprobleme (Ressourcen, Klima, Migration, Rüstung…) können wir uns möglicherweise diese pluralistische Haltungen einfach rein objektiv nicht mehr leisten. So können z.B. unterschiedliche Vorstellungen zur Energieerzeugung oder zum Verkehrssystem dann nicht mehr dem freien Spiel pluralistischer Überzeugungen überlassen werden, wenn davon die Zukunft der Menschheit oder des Planeten abhängt.
6) Es wird sich in den nächsten Jahrzehnten vermutlich noch stärker als bisher erweisen, dass Gesellschaften, die weniger pluralistisch sind (insbesondere China und andere asiatische Staaten) effizienter, zielgerichteter und weitsichtiger handeln können und damit wirtschaftlich erfolgreicher sein werden.
7) Aus meiner Sicht läge die Lösung in einem „gebremsten“ Pluralismus. In so einem System, würden die Grundwerte der Gesellschaft (Verfassung, Menschenrechte, Gewaltfreiheit) viel stärker in das öffentliche und erzieherische Zentrum gerückt und dort auch emotional verankert. „Abweichungen“ würden zwar nicht unterdrückt, würden aber nicht mehr automatisch durch einen besonderen „Minderheiten-Bonus“ geadelt. Gewisse Basis-Tugenden (Anstand, Ehrlichkeit, Verantwortung für das Allgemeinwohl) würden im öffentlichen Raum nicht mehr ein unverbindliches Angebot bleiben, sondern zum gewollten Identitätskern des Zusammenlebens gemacht und verteidigt.
Inwieweit in diesem Zusammenhang auch der Einfluss der Medien auf die Entstehung von gesellschaftlich relevanten Wertsystemen zum Thema werden müsste, bedarf einer besonderen Diskussion.