“Neustart im Kopf” von Norman DOIDGE

Untertitel: “Wie sich unser Gehirn selbst repariert”

Damit ist schon mal geklärt, dass es sich nicht um einen Psycho-Thriller handelt, sondern um ein wissenschaftliches Sachbuch. Genaugenommen um ein Buch, das auf dem oberen Level eines populär-wissenschaftlichen Textes angesiedelt ist. Als Zielgruppe sind wohl in erster Linie interessierte Laien angesprochen, aber auch für medizinisch oder psychologisch vorgebildete Menschen hält das Buch eine Menge Hintergrund-Informationen bereit.

Sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Gehirns zu befassen, ist seit einigen Jahren schwer in Mode gekommen. Die Frage, wie sich in dem Spannungsfeld zwischen Psychologie, Philosophie und Neurowissenschaft die uralten Fragen nach Geist und Bewusstsein beantworten lassen, hat mit der technischen Weiterentwicklung eine neue Dynamik bekommen. Mit modernen bildgebenden Verfahren kann man mittlerweile dem Gehirn beim Denken zugucken – und damit haben sich frühere Zweifel an dem biologischen Fundament unserer Geistigkeit endgültig in die Mottenkiste zurückgezogen. Alles, was unser Ich ausmacht, passiert im Gehirn (ja, der Bauch und die Hormone sind auch wichtig…).

Der Autor dieses Buches hat sich nun einer speziellen Mission verschrieben – und man kann ihm wirklich nicht vorwerfen, dass er diese Zielsetzung halbherzig verfolgen würde. Im Gegenteil: Es scheint tatsächlich sein Lebensthema zu sein, die (Fach-)Welt darüber aufzuklären, dass und in welchem Ausmaß das Gehirn veränderungsfähig, also plastisch ist. Und zwar bis ins hohe Alter.

DOIDGE zeichnet die Entwicklung der Gehirnforschung der letzten ca. 50 Jahre nach, akribisch und mit vielen Beispielen unterlegt. Seine Methode besteht darin, möglichst viele Spitzenforscher in diesem Bereich persönlich aufzusuchen, Gespräche zu führen und ihnen in ihren Laboren über die Schultern zu schauen bzw. ihre klassischen Experimente ausführlich zu schildern.

Seine Kernbotschaft könnte man so zusammenfassen:
Früher glaubte man, dass Gehirn wäre eine klar geordnete und stabile Welt, in der bestimmte Bereiche für bestimmte Aufgaben zuständig wären. Eine “Kartographie” des Gehirns wäre somit sowohl interindividuell (also zwischen Personen) und intraindividuell (also im zeitlichen Verlauf) zuverlässig und unveränderlich. Werden Nervenzellen bzw. ganze Gehirnbereich durch Krankheit oder Unfall zerstört, dann gehen auch die entsprechenden Funktionen dauerhaft und unwiederbringlich verloren.
Heute weiß man, dass das Gehirn eine enorme Plastizität besitzt und bestimmte Areale bei Bedarf sowohl schrumpfen und wachsen können bzw. ganz neue Funktionen übernehmen können – ohne zeitliche Begrenzung auf bestimmte sensible Phasen oder Altersbereiche.  

Der Autor gibt sich unendlich viel Mühe, diese Kernthese – die er übrigens in einer manchmal kaum zu ertragenden Redundanz wiederholt – zu untermauern. Dazu werden – wie schon angedeutet – sehr viele Experimente herangezogen. Das ist durchaus beeindruckend – wenn man vielleicht auch manchmal irritiert ist, wie wenig der Autor und seine Gesprächspartner auf die ethischen Konflikte bei Tierversuchen eingeht.
Ein zweiter Blick geht auf die Anwendungsmöglichkeiten der neuen Erkenntnisse für Medizin und Rehabilitation – aber auch für Pädagogik und Psychotherapie.

Das Besondere an diesem Buch ist für mich die Breite des Blicks. Irgendwann geht es nicht mehr darum, ob die gängigen “Gehirnlandkarten” wirklich so allgemeingültig und stabil sind bzw. ob verlorene Bereiche ersetzt werden können. Stattdessen wird immer deutlicher, dass jede Form von Erfahrung und Lernen zu Veränderungen im Gehirn führen und so letztlich die Plastizität eine Grundvoraussetzung für jede Entwicklung ist.
Ein wenig ist dieser unterschiedliche Umgang mit dem Plastizitätsbegriff zwischendurch irritierend.

Letztlich überzeugt hat mich dieses Buch dadurch, dass wirklich interessante und kreative Bezüge zwischen den Grundlagen-Erkenntnissen und unterschiedlichsten Anwendungsbereichen herausgearbeitet werden.
So hätte ich z.B. nie gedacht, dass die Technik der “Freien Assoziation” in der Psychoanalyse mal eine hirnphysiologische Interpretation erfährt. Oder dass ein gezieltes Gehirn-Training im Bereich der Lernbehinderung viel mehr erreichen kann als eine normale Förderbeschulung. Oder dass ein Mensch mit einem halben Gehirn (nur rechte Gehirnhälfte ist funktionsfähig) ein halbwegs normales Leben führen könnte. Oder dass sich für die Behandlung von Zwangspatienten neue Schlussfolgerungen ergeben könnten.Usw.
Das Buch ist eine Fundgrube für solche Beispiele und dadurch wirklich sehr informativ und anregend.

Fazit: Wenn man sich daran gewöhnen kann, dass manches nicht nur zwei- oder dreimal sondern 30-mal gesagt wird, bietet das Buch sowohl einen lebendigen Eindruck hinter die Kulissen der Hirnforschung als auch einen faszinierenden Ausblick in  – erst ansatzweise genutzte – Potentiale einer auf den Ergebnissen basierenden Reha, Psychotherapie, Förderung und in eine gehirnkompatible Gestaltung von Lernprozessen überhaupt.
Dass der Autor ein Überzeugungstäter ist, muss man nicht als Nachteil bewerten. Ohne eine große Portion Enthusiasmus würde man sicher so ein Projekt nicht angehen.

MTV unplugged 2 von UDO LINDENBERG

Bewertung: 4.5 von 5.

Nachdem ich kürzlich den Lebensrückblick von UDO  recht kritisch besprochen habe, geht es jetzt um sein neues musikalisches Werk. Nach dem sensationellen Erfolg seines ersten Unplugged-Albums (2011) wollte er es nochmal wissen: Gleiches Konzept, andere Lieder, andere Gast-Künstler.

Dies wird eine sehr persönlicher Blick auf diese Veröffentlichung. Sie ist geprägt davon, dass ich den Morgen des 4. Adventsonntags zur Verfügung hatte, um mich mit voller Aufmerksamkeit und hoher emotionaler Ansprechbarkeit dem kompletten Konzert in Blue-Ray-Qualität und in Dolby-Surround-Sound zu widmen.
Das Ergebnis: Ich war begeistert und angerührt. Und das will ich kurz erklären.

Zunächst zu den Rahmenbedingungen:
Das Ambiente ist aufwändig und liebevoll gestaltet. Das Thema: Seefahrer-Romantik. Es geht um Aufbrüche, um Abenteuer, um Unterwegs-Sein. UDO und seine Gäste bewegen sich in einer maritimen Bühnenlandschaft, ein Teil der Musiker ist in den Aufbauten eines großen Segelschiffes
untergebracht, die Schiffs-Bar darf natürlich nicht fehlen. Das ganze strahlt eine warme Atmosphäre aus.
Die musikalische Qualität der Darbietung ist wirklich über jeden Zweifel erhaben: Da sitzen und stehen ausnahmslos Spitzen-Musiker, denen die Unplugged-Arrangements wie auf den Leib geschnitten erscheinen. Es ist eine Freude, ihnen beim Spielen zuschauen und man hat durchweg den Eindruck, dass sie alle dieses besondere Ereignis genießen.
Das gilt übrigens auch für die Musiker vom Elbphilharmonischen Orchester, die sich ganz offensichtlich in diesem Moment als Teil der großen Lindenberg-Familie fühlen.

Da sind wir schon bei der Emotionalität:
UDO und sein Team schaffen es mal wieder, ein Grundgefühl von Herzlichkeit und Zusammengehörigkeit zu schaffen – eben die berühmte “Panik-Familie”. Wobei es inzwischen natürlich viel mehr ruhige und nachdenkliche Lieder gibt als den alten “Panik-Rock”.
Es sind nicht nur die Botschaften in und zwischen den Liedern, die auf Solidarität und Menschlichkeit setzen, es ist auch der demonstrativ liebevolle Umgang miteinander. Man mag sich und man zeigt es auch. Selbst wenn ein Teil davon Show-Business sein sollte – es ist ein liebenswerter Aspekt.
Auch die Einblendungen aus dem Publikum spiegeln mehr als nur die Begeisterung für einen verehrten Star wieder: Es ist zu spüren, dass man ein Lebensgefühl und eine Lebenshaltung teilt.

Die Grundthemen sind lindenbergisch klar: Es ist die Ambivalenz zwischen “großer Liebe” und dem Vagabunden-Dasein, es geht um empfundene Enge des Spießbürger-Daseins und die Flucht daraus, es geht um euphorischen Genuss und tiefen Absturz (im Alkohol-Exzess), es geht um den nie endenden Kampf gegen die zerstörerischen Kräfte: das gierige Kapital, das machthungrige Militär und die korrupten Politiker.
Ja – UDO hält seine Botschaft gegen jede Zeitgeist-Strömung aufrecht. Und er lässt wieder die Kinder auf der Bühne mitsingen, wenn er “in den Frieden zieht”. Das mag kitschig und naiv sein – aber es ist trotzdem um ein Vielfaches wertvoller als ein Großteil der inhaltslosen Konsum- und Promi-Welt, die sonst die Bildschirme vermüllt.

UDO hat sich mit diesem Album mal wieder selbst ein Denkmal gesetzt. Wirklich bemerkenswert. Und – das sei auch nicht unterschlagen – er selbst singt so gut und sauber wie niemals zuvor.
Hier tritt kein abgehalfterter Polit-Clown auf, um noch mal die schnelle Mark zu machen. Hier wird niveauvolle Unterhaltung auf allerhöchstem technischen und musikalischen Niveau geboten.

Wer in sich eine “UDO-Affinität” spürt, sollte sich dieses Konzert vielleicht mal gönnen. Ich würde stark dazu raten, es nicht beim bloßen Hören zu belassen, sondern auch optisch in die UDO-Welt einzutauchen.
Mir hat es einen intensiven und anrührenden Vormittag geschenkt. Was kann man von einer Silberscheibe mehr erwarten?!

(Übrigens: Wer wissen will, welche Künstler UDO diesmal um sich versammelt hat, kann das ganz schnell aus anderen Quellen erfahren).

“deutsch, nicht dumpf” von Thea DORN

Ein ganzes Buch über die die richtige Art „deutsch“ zu sein!
Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir diese Aufgabe nicht wirklich selbst ausgesucht: Diese Rezension ist eine Art Auftragsarbeit für einen guten Freund. Wie sollte ich mich dem Interesse an meiner Meinung zu einem Buch entziehen?!

Dieses Buch ist ein Buch einer „klassischen“ Intellektuellen – geschrieben für genau die Sorte von intellektuellen Mitstreitern, die mit Vorliebe den Feuilleton-Teil der ZEIT, der FAZ oder der Süddeutschen studieren, um sich über die aktuellen gesellschaftlichen Diskurse auf dem Laufenden zu halten.

So zu schreiben bedeutet, dass Frau Dorn gerne zeigt, wie groß und tief der kulturelle Fundus ist, aus dem sie schöpfen kann. Es ist in erster Linie der Fundus des traditionellen humanistisch-gymnasialen Bildungsbürgers, der sich in den Geistesgrößen der deutschen Klassik verankert sieht und sich ganz selbstverständlich und souverän in den historischen, literarischen, philosophischen und musikalischen Strömungen der letzten 250 Jahren bewegt – wie ein Fisch im Wasser.

Den Text zu lesen bedeutet, dass man sich einlassen muss – auf eine komplexe Sprache, auf einen – manchmal fast schwindelerregenden – Parforceritt durch Zitate und Argumentationslinien. Man fühlt sich gefordert – aber lohnt sich diese Anstrengung auch?

Zunächst aber zum Inhalt: Das Buch arbeitet sich in acht aufeinander aufbauenden Kapiteln durch die Themen Leitkultur, Identität, Heimat, Europa, Weltbürgertum, Nation und schließlich Patriotismus.
Frau Dorn gibt sich dabei durchaus Mühe, ihre Leser mitzunehmen: Sie erklärt immer mal wieder, wo sie gerade ist, wie sie die Bezüge sieht und wo sie hin will. Das ist hilfreich und sympathisch.

Der Autorin gelingt es ganz offensichtlich, unter diesen Oberbegriffen ihr gesamtes kulturelles und politisches Weltbild unterzubringen. Sie hat klare Meinungen und eine Botschaft (der Begriff „Message“ verbietet sich in diesen Kreisen – ebenso wie andere Anglizismen).

Was will sie uns nun sagen? Ich versuche es mal exemplarisch in ein paar kurzen und einfachen Thesen:

  • Wir Deutschen dürfen stolz sein auf unsere Kulturnation.
  • Eine heimatliche Einbettung in sich zu tragen ist erstrebenswert und unverzichtbar; erst auf dieser Grundlage kann man im guten Sinne „Weltbürger“ sein.
  • Die Nation ist immer noch die beste Basis für die verlässliche und schützende Einbindung in ein Gemeinschaftssystem (auch wenn man langfristig größere Einheiten anstreben darf).
  • Ein aufgeklärter und unaufgeregter Patriotismus ist nicht nur erlaubt, sondern erstrebenswert. Dabei dürfen – über den „Verfassungs-Patriotismus“ hinaus, auch eher emotional besetzte „Wesenszüge“ des Deutschseins eine Rolle spielen.
  • Man darf sich der eigenen Nation stärker verbunden und verantwortlich fühlen als dem Rest der Welt und darf nach realistischen Kompromissen suchen zwischen solidarischer Nothilfe und Eigeninteressen.
  • Moralische Prinzipien und die universelle Gültigkeit der Menschenrechte schließen einen pragmatischen Umgang mit „schwierigen“ Partnern auf der Weltbühne nicht aus.
  • Die größte Bedrohung für die Menschheit geht von den technikberauschten Weltveränderern des Silicon-Valleys aus, die den Wesenskern des Menschen auf dem Altar des Transhumanismus opfern.

Was vielleicht deutlich geworden ist: Dorn ist eine Frau der Mäßigung, des Abwägens, des Sowohl-als auch. Extreme Haltungen und Antworten sind ihr suspekt. Sie mag die Differenzierungen. Gerne stellt sie immer wieder sich widersprechende Textstellen von mehr oder weniger bekannten Autoren gegenüber, um dann die Synthese zu präsentieren – entweder in Form eines noch schlaueren Zitats oder gerne auch selbstdefiniert.

Brauch man nun all das oder erlebt man es eher als intellektuelle Selbstbeweihräucherung?

Nun, ich habe mich auf den ersten Seiten tatsächlich gefragt, ob mir diese ganze Welt der Frau Dorn nicht doch zu fremd ist. Nicht nur deshalb, weil ich einfach nicht so verwoben bin mit der „Deutschen Klassik“ und ich meine Haltungen und Antworten im Allgemeinen mit deutlich weniger historischem Tiefgang ausbilde.

Tatsächlich war mir die geradezu missionarische Konzentration auf die „Hochkultur“ der Goethes, Kleists, Bachs und Wagners ein bisschen zu dominant und rückwärtsgerichtet. Ich verstehe ja, dass man Opern als ein wertvolles Kulturgut betrachten kann – aber muss das der notwendige Bezugspunkt im 21. Jahrhundert sein? Ganz sicher nicht! War Frau Dorn mal in einem Pink Floyd-Konzert? Ganz sicher nicht!
Sie sollte mit ihrem einseitigen Kultur-Begriff den Ball vielleicht ein wenig flacher halten.

Doch es gab beim Lesen auch die anderen Momente: Man wollte spontan den gut geführten Argumentationslinien folgen und fühlte sich angeregt und inspiriert von Ausführungen, die schon ein oder zwei Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Manchmal ist es einfach überzeugend und klug, was da zusammengetragen und geschlussfolgert wird.

Ich habe kein Problem damit, dass jemand, der ein Buch schreibt, seine Weltsicht verbreiten will. Welche Motivation sollte naheliegender sein?! Dabei darf man gerne auch mal polemisch zuspitzen. Geschenkt!

Letztlich ist es ein Buch für eine eher begrenzte, speziell motivierte Leserschaft. Es wird nicht in den Mainstream vordringen. Aber es war keine verlorene Zeit. Wenn man denn Menschen um sich hat, mit denen man sich auf diesem Niveau austauschen kann…

“NSA – Nationales Sicherheitsamt” von Andreas ESCHBACH

Ich empfehle dieses aktuelle Buch sehr. Es lohnt sich also vielleicht doch, hier mal weiterzulesen.

Historische oder zeitgeschichtliche Romane sind überaus beliebt. Science-Fiction-Literatur erreicht eine – zwar begrenzte – aber treue Leserschaft. Liebesromane und Krimis treffen auf lesehungrige Massen.

Warum erwähne ich diese Banalitäten?
Nun: NSA ist ein Buch, das alle diese Genres in sich vereint – in gewisser Weise liest man also mit diesem Roman mindestens vier Bücher gleichzeitig. Dann um die Vermittlung von technisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen geht es nebenbei auch noch.

Am interessantesten erscheint mir die Kombination von zeitgeschichtlichem Rückblick und Zukunftsroman. Der ganz besondere Clou des Autors ist es nämlich, dass eine – inzwischen tatsächlich etablierte – technische Entwicklung (um einige Jahrzehnte) in die Vergangenheit transferiert wird und damit aus dieser (früheren) Perspektive ein mögliches Zukunftsszenario beschrieben wird. Da diese “Zukunft” ja bereits ein Teil unserer Geschichte ist, ergibt sich ein anregendes Spiel mit Eventualitäten.
Um es nochmal anders zu sagen: NSA ist ein “was-wäre-gewesen-wenn-Roman”.

Ich werde mal konkreter: Eschbach schildert die Entwicklung des “Dritten Reiches” unter der Voraussetzung, dass der Computer schon am Anfang des letzten Jahrhunderts erfunden und entwickelt wurde. Also: NS-Regime mit den technischen Möglichkeiten von Google und Co.

Da fällt einem ganz spontan eine Menge ein. Über die Risiken, die entstehen, wenn digitale Überwachungs-Macht von diktatorischen Systemen genutzt werden kann, wurde ja schon reichlich  geschrieben und diskutiert.
Durch den Kniff, dieses Szenario am Beispiel des Hitler-Regimes konkret durchzuspielen, gewinnt dieses Thema eine faszinierende Lebendigkeit.

Da dieses Buch ja nicht für historische Seminare geschrieben wurde, bietet es natürlich sowohl spannende Erzählstränge als auch reichlich Stoff für die emotionale Identifikation mit den dargestellten Einzelschicksalen. Es geht um Liebende, um Hassende, um Böse, um Gute, um Persönlichkeitsgestörte, usw.
Man kann sich das sicher irgendwie vorstellen…

Mich haben insbesondere folgende Aspekte beeindruckt und zu dem Urteil beigetragen, dass es sich wirklich um ein besonders lesenswertes Buch handelt:

  1. Dem Autor hat es offensichtlich großes Vergnügen gemacht, die moderne PC-Technik mit all ihren Facetten in den zeitgeschichtlichen und sprachlichen Kontext zu übertragen. Das ist wirklich durchweg sehr originell gemacht und lädt immer wieder zum Schmunzeln ein.
  2. Eschbach baut auf eine elegante Weise historische Einzel-Ereignisse (Anne Frank, Geschwister Scholl, …) in seinen Plot ein, wodurch sein Spiel mit der “alternativen Realität” nochmal an Ausdruckskraft gewinnt.
  3. Das Spiel mit den Ebenen wird auf eine sehr kreative Weise auf die Spitze getrieben: Ausgerechnet in einem Roman, in dem es um eine historische Alternative geht, tritt eine Figur auf, die sich als Geschichts-Student mit dem Thema beschäftigt, was denn hätte geschehen können, wenn der Computer erst viel später erfunden worden wäre. Toll!
  4. Ich mag Bücher, die nicht erwartungsgemäß enden.
    Dazu sage ich an dieser Stelle selbstverständlich nichts Genaueres.

Natürlich spürt man fast in jeder Zeile die Botschaft – in diesem Fall die Warnung – des Autors vor den Gefahren der aktuellen und drohenden digitalen Totalüberwachung und -kontrolle.
Aber: So intelligent und unterhaltsam bekommt man dieses Thema sicher nur extrem selten dargeboten.
Und wann kann man schon mit einem guten Gefühl sagen: “Ich habe gerade vier gute Bücher gelesen!”

“UDO” von Udo LINDENBERG und Thomas HÜETLIN

Der Leser / die Leserin meines Bücher-Blogs wird sich vielleicht fragen: Warum lese (höre) ich überhaupt so ein Buch – wo es doch unzählige “wertvollere”  literarische Themen und Texte in der Warteschlange gibt?

Nun: Udo Lindenberg ist ein Teil meiner persönlichen Zeitgeschichte, musikalisch, politisch und bezogen auf Konzertbesuche. Es gibt dadurch eine Art von Verbundenheit, die als Motivationsquelle für die Beschäftigung mit seiner aktuelle Biografie völlig ausreicht.

Viele – etwas jüngere Menschen – haben Udos erste musikalische Schaffensphase nicht “live” verfolgen können. Sie haben ihn eher als ein öffentliche Figur kennengelernt, die irgendwo zwischen einer schon etwas angestaubten Galionsfigur des “Deutsch-Rocks”  und einem insgesamt sympathischen Politclown durch die Medienwelt geisterte. Udo war irgendwie schon früh sein eigenes Denkmal, der durch die gut gepflegten Attribute seines Markenzeichens die Jahrzehnte überdauerte.
Übersehen wird dabei, dass er Anfang bis Mitte der 70iger einige musikalisch und textlich überragende Platten angeliefert hat, die heute noch fast alles in den Schatten stellen, was je in deutscher Rockmusik produziert wurde.

Ach so – das Buch!
Nach einem kurzen Einstieg in der Come-Back-Phase stellt die (Auto-)Biografie das private, musikalische und öffentliche Leben des Künstlers facettenreich und detailverliebt dar. Das ist zunächst alles ganz interessant und unterhaltsam. Man staunt, wie früh der jugendliche Udo damals schon in die Musik-Szene eingetaucht ist (wie die meisten wissen werden, als Jazz-Schlagzeuger) und wie übergangslos er von dem Alkoholismus seines Vaters in die eigene Säufer-Karriere gerutscht ist.

Da wären wir auch schon beim entscheidenden Stichwort: “Alkohol”.
Sowohl das persönliche Leben von Udo als auch dessen literarische Beschreibung leiden an diesem Thema. Selbst der gutmütigste Leser wird irgendwann ermüden oder verzweifeln an der nicht enden wollenden Schilderung von Alkohol-Exzessen, kurzen Ausstiegsversuchen und ewigen Rückfällen. Es ist wirklich nur schwer erträglich und irgendwann – wenn die Fassungslosigkeit abgeklungen ist – einfach auch langweilig.

Eine besondere Rolle spielt in der Darstellung die Rolle von Udo als ziviler Kämpfer für die Durchlöcherung der innerdeutschen Mauer – exemplarisch ausgetragen in dem zähen Kampf um eine Auftrittserlaubnis im abgeschotteten Osten. Seine besondere “diplomatischen” Beziehung zu Erich Honecker wird ausführlich beschrieben – ebenso wie die große symbolische Bedeutung, die Udo für seine treuen Fans in der DDR hatte.

Natürlich ist das Buch so aufgebaut, dass es ja nicht auf ein endgültiges Scheitern dieser zwiespältigen Figur hinausläuft, sondern auf das große Come-Back. Es erscheint wirklich fast wie ein Wunder, dass dieser kaputte Typ nochmal ganz nach oben kam. Die Geschichte dieses “letzten Aufbäumens” gehört sicher zu den informativen Teilen dieses Buches.

Bleibt die Bilanz:
Für Udo-Fans eine Menge Infos aus dem sehr persönlichen Umfeld. Für den allgemein Interessierten eine Portion Zeitgeschichte. Für den Musik-Liebhaber ein wachsendes Unverständnis und Unbehagen angesichts der scheinbar so dominanten Rolle des Alkohols in dieser Subkultur.

Persönliche Schlussbemerkung:
Ich kann mich nicht davon freimachen, dass der Respekt vor der Person Udo doch ein wenig gelitten hat. Eignen sich solche Menschen wirklich als Vorbilder bzw. Idole; als Instanzen, die der Jugend Orientierung geben können?
Anderseits: Vielleicht erreicht so jemand wie Udo gerade deshalb – wegen der eigenen Unvollkommenheit und inneren Zerrissenheit – eben auch Gruppen, die sonst gar nicht oder durch weitaus gefährlichere Verführer angesprochen würden.
Er steht ja doch irgendwie auf der richtigen Seite!

Die Bewertung der aktuellen musikalischen Leistung findet sich hier.