“Die Macht der Affäre” von Esther Perel

Im privaten Leben lässt man sich von Büchern häufig in unbekannte Welten führen – seien es nun Lebenswelten anderer Personen oder anregende Sachthemen. Eine Ausnahme bildet dabei die Ratgeber-Literatur: Diese sucht man sich doch meist aufgrund einer persönlichen Nähe zum Thema aus, meist in der Rolle des Laien, der auf das Wissen und die Erfahrung von Experten vertraut.

Meine Ausgangslage hinsichtlich des hier besprochenen Buches ist noch einmal sehr besonders: Ich bin nicht nur Betroffener, sondern als jemand, der selbst (zusammen mit einer Co-Autorin) seit über drei Jahren zum Thema “Liebes- und Nebenbeziehungen” schreibt, auch so etwas wie ein Experte. Ich habe Hunderte von Stunden nachgedacht, gelesen, geschrieben, diskutiert, Theorien und Systematiken entworfen, Fragebogen entwickelt. In all dieser Zeit habe ich eine ganze Menge der angesprochenen Punkte auch hautnah durchlebt und durchlitten.
Was ich damit sagen will: Dies ist vielleicht die fundierstete Rezension, die ich jemals geschrieben habe – oder überhaupt schreiben könnte. Ich kenne mich tatsächlich ein wenig aus in der Materie (was natürlich nicht bedeutet, dass ich privat vor Fehlern oder Fallstricken gefeit wäre).

Diese Vorrede sollte jetzt wohl ausreicht haben, um Aufmerksamkeit für dieses Buch und meine Meinung dazu aufzubauen.

Das schlechteste an diesem Buch ist der deutsche Titel. Das Original heißt: “The State of Affairs: Rethinking Infidelity” (Also z.B. : “Der Sachstand: Untreue überdenken”). Dieses Buch mit dem reißerischen Begriff “Affäre” auszustatten, ist geradezu eine Beleidigung – oder sogar eine bewusste Täuschung.

Das beste an dem Buch ist der Rest, der Inhalt!
Es geht – zum Glück – nicht nur um Affären. Es geht um alle Formen von Untreue, von Verletzung traditioneller Grenzen von monogamen Beziehungen. Wer auch immer auf diesem Gebiet persönliche Erfahrungen haben sollte – auf welcher Seite des Geschehens auch immer – wird sich in diesem Buch wiederfinden. Nicht nur gesehen, sondern auch verstanden.

Das ist nicht von Anfang an so klar ersichtlich. So entsteht angesichts des grenzenlosen Verständnisses für die Verstörung, den Schmerz und die Trauer des/der “Betrogenen” zunächst der Eindruck, dass PEREL von einer klar strukturierten Täter/Opfer-Welt ausgeht, in der kein Platz für Zwischentöne ist. Auch bekommt man in den ersten Kapiteln des Buches sehr stark das Gefühl, dass entstandene Nebenbeziehungen überhaupt keine eigene Bedeutung haben – also ausschließlich danach beurteilt werden, was sie in der Basisbeziehung angerichtet haben und bewirken könnten.
Dieses – nicht immer gut auszuhaltende – Leseerlebnis hat damit zu tun, das die Autorin “schön der Reihe nach” vorgeht. Und dabei bekommt jede Perspektive die volle Aufmerksamkeit – so wie es auch in ihrer therapeutischen Arbeit passiert. Und dieser Aufbau und diese Differenzierung von Perspektiven ist nicht zufällig gewählt, sondern entspricht den emotionalen Prozessen und Erfordernissen bei der Bewältigung einer – bisher verheimlichten – Nebenbeziehung.

So langsam wird es deutlich: Ich bin wirklich begeistert von diesem Buch!
Es ist einfühlsam, niveauvoll, gründlich, facettenreich und fachlich fundiert. PEREL schafft es, in scheinbar unversöhnlich gegenüberstehenden Standpunkten, Erlebensweisen, Sehnsüchten und Zielen etwas gemeinsames zu sehen: die urmenschliche Suche nach Glück und Erfüllung.
Dabei ist sie nicht völlig wertfrei: Bei Gewalt, Erniedrigung, dem Ausnutzen von Abhängigkeiten und Machtmissbrauch kennt sie kein Pardon. Aber hinsichtlich der Möglichkeiten, Liebesleben auf der Basis gleichberechtigter Absprachen zu gestalten, ist sie absolut offen und frei von Vorurteilen.
Natürlich kristallisieren sich mit der Zeit einige Grundhaltungen der Autorin heraus. Sie steht erstmal auf der Seite der Ausgangsbeziehung und ihrer “Rettung” nach der Krise. Und sie ist überzeugt von der großen Bedeutung der Erotik als Basiskraft einer jeden Liebesbeziehung. Es ist ihr daher auch ein großes Anliegen, nach Veränderungsmöglichkeiten auch in langjährigen Beziehungen Ausschau zu halten.

Mir fällt es schwer, hier nicht seitenlang all die Facetten aufzuführen, die dieses Buch zu einer Schatztruhe für Betroffene und Interessierte macht. Dieses Buch hat den Charakter eines Kompendiums. Man findet letztlich alle Varianten und Konstellationen. Natürlich wird auch – so ganz nebenbei – eine historische und gesellschaftliche Einordnung von Ehe und Liebesbeziehungen geliefert.

Wo bleibt die kritische Einschätzung?
Nun – es wird vielleicht einige wundern: Am Ende ist es sogar die scheinbar grenzenlose Toleranz gegenüber allen denkbaren Überschreitungen von monogamen Grenzen, die mich befremdet hat. Zwar werden diese Grenzverletzungen jetzt gemeinsam beschlossen bzw. verwaltet und bieten so eine positive Alternative zum Klassiker des “Betruges”. Aber es wird mir dann doch etwas zu dolle. Am Ende entsteht ein wenig der Eindruck, als ob ein monogames Beziehungsglück gar nicht mehr denkbar wäre – und statt dessen jede exzentrische Verrücktheit eine Überlegung wert.
Um es positiv auszudrücken: Welch ein riesiger Bogen, der da aufgemacht wird in diesem Buch, zwischen der Verzweifelung des Opfers über eine “harmlose” Affäre und den Experimenten einer “neuen Monogamie”.

Es bleibt dabei: in der Gesamtheit für mich ein konkurrenzloses Buch!

“Der Distelfink” von Donna Tartt

Dieser 2013 erschienene Roman ist nicht einfach nur ein gutes Buch; er ist ein literarisches Ereignis! Das finde nicht nur ich, sondern auch die Juroren, die ihm den Pulitzer-Preis zuerkannt haben.
Ich habe den Roman gerade zum zweiten Mal als Hörbuch gehört und währenddessen zufällig erfahren, dass seine Verfilmung im Herbst in die Kinos kommt. Kaum vorstellbar, dass man dieser Vorlage wirklich auf der Leinwand gerecht werden kann…

Diese Geschichte, diese Sprache, diese Intensität nimmt einen nicht nur mit, sie reißt einen mit.

Aber erstmal kurz zum Inhalt: Es ist die Geschichte eines zum Mann reifenden Jungen und es ist die Geschichte eines berühmten (realen) Gemäldes. Oder, noch besser: Es ist die Geschichte der Verbindung dieser beiden Geschichten.

Bei einem Terroranschlag auf ein Museum verliert der 13-jährige Theo seine Mutter und “gewinnt” das besagte Gemälde, den Distelfinken. Beide Ereignisse prägen sein weiteres Leben in einem kaum zu übertreffenden Ausmaß.
Der Lebenslauf des Jungen wird aus der Bahn gerissen; die damit verbundenen Traumatisierungen wird er nie überwinden. Der Leser begleitet ihn in seinem kurvenreichen und zum Teil selbst-gefährdenden Weg durch eine zerbrochene Welt, der zunächst zu einer “Ersatzfamilie” im vertrauten New York, später in das halbseidene Milieu seines Vaters in Las Vegas und letztlich zurück nach New York führt. Drei zentrale Figuren begleiten ihn über die Jahre: Ein Mädchen, das auch Opfer des Anschlages war; ein gleichaltriger Freund, der auch – mutterlos – seinem haltlosen Vater ausgeliefert war und ein väterlicher Mentor, der ihn in die Welt der Antiquitäten einführt. Allein die facettenreiche und in ihrer lebensgierigen Radikalität provozierende Figur des Freundes Boris fordert einen auf eine Art heraus, dass es alleine für ein ganzes Buch reichen würde.
Der Versuch, in wenigen Sätzen anzudeuten, was alles rund um Theo, das Gemälde und die genannten Personen passiert, wäre zum Scheitern verurteilt. Da hilft nur eins: lesen!
Man kann dabei sicher sein, dass so viele menschliche bzw. existenzielle Grundfragen berührt werden, dass da niemand etwas vermissen wird.

Man könnte sich selbst dann in die Sprachkunst der Autorin verlieben, wenn es keine Story, keinen Spannungsbogen gäbe. Sie schildert Situationen, und Atmosphären mit einer Dichte, die – meiner bescheidenden Meinung nach – die Grenzen von dem markiert, was man mit Sprache überhaupt ausdrücken kann. Manchmal möchte man vor stiller Bewunderung förmlich den Hut ziehen oder ehrfürchtig  auf die Knie fallen.

Gibt es über dieses Buch noch etwas anders zu sagen als diese Schwärmereien?
Ja, gibt es. In einigen Momenten wird vielleicht die große Stärke der Autorin – so total hemmungslos eintauchen zu können in ein bestimmtes Milieu oder eine bestimmte Szenerie, sie mit allen Facetten auszumalen, dabei auch dick aufzutragen – fast zu einer kleinen Schwäche. Manchmal erschien es mir des “Guten” zu viel. Ich hätte z.B. auf den einen oder anderen Drogen-Exzess zusammen mit dem schillernden und selbstzerstörerischen Freund Boris verzichten können.
Doch das sind eher kleine Nuancen eines beeindruckenden Gesamt-Kunstwerkes.

Inzwischen gibt es dieses Buch zum Taschenbuch-Preis. Das erscheint fast ein wenig unwürdig für so ein Werk.
Zurückhaltung bei diesem Buch empfehle ich nur dann, wenn man dem Thema Kunst und Antiquitäten so gar nichts abgewinnen kann und es ganz gerne hat, wenn sich eine Geschichte zielstrebig fortentwickelt.
Bei diesem Roman ist ganz eindeutig der Weg das Ziel.

“Diese gottverdammten Träume” von Richard Russo

Es hat einige Jahre gedauert, bis dieser 2001 erschienene Roman ins Deutsche übersetzt wurde – obwohl er den angesehenen Pulitzer-Preis erhalten hat.
Mich hat er neugierig gemacht, weil ich schon immer einen gewissen Drang hatte, die amerikanische Denk- und Lebensweise zu ergründen. Und genau das sollte angeblich in diesem Werk geschehen.

Erzählt wird die Geschichte einer US-Kleinstadt in Neuengland, also an der Ostküste. Das Hintergrund-Thema ist der allmähliche wirtschaftliche Niedergang einer ehemals prosperierenden Gemeinde, der aus zwei Perspektiven persönlich in den Fokus genommen wird: Aus der Sicht der prägenden Unternehmer-Dynastie, deren Fabriken einst entscheidend für den Wohlstand der ganzen Stadt waren, und durch das Alltagsleben einer Familie, die sich in dem typischen Kleinstadt-Milieu mit ganz privaten Problemen befassen muss.

Der Handlungsverlauf – der durchaus einen gewissen Spannungsbogen aufmacht – speist sich aus den Querbezügen zwischen den beiden Familien-Systemen, die es sowohl auf privater als auch auf beruflicher Ebene gibt.

Was macht diesen Roman lesenswert (hörenswert)?
– Die ca. 10 Hauptfiguren sind differenziert und insgesamt psychologisch sehr stimmig gezeichnet. Man lernt sie wirklich gut kennen und wird Schritt für Schritt mit in ihr Leben mitgenommen. Der Autor lässt sich Zeit dafür, beschreibt Situationen und Interaktionen mit einer ausgeprägten Liebe zum Detail und zu atmosphärischen Feinheiten.
– Die Themen decken ein weites Spektrum dessen ab, was Menschen umtreibt: Konflikte zwischen den Generationen, Liebe und Trennung, Schuld und Wiedergutmachung, Geheimnisse und deren Langzeitfolgen, usw..
– In weiten Teilen des Buches geht es nicht um spektakuläre Ereignisse, sondern um den Alltag – der allerdings scharfsinnig und aufmerksam ausgeleuchtet wird.
– Durch die eher ruhige, unaufgeregte  Erzählstruktur schafft es der Roman, den Leser immer weiter eintauchen zu lassen in den beschriebenen Ausschnitt des amerikanischen Seins. Wenn man durchhält, entsteht irgendwann so ein Gefühl, wie wir alle es aus guten Büchern kennen: Man wird ein Teil des Geschehens und merkt am Ende, dass man sich fast ein wenig eingerichtet hat in dieser anderen Welt…

Was ist schwierig?
– In gewisser Weise ist das Buch eben sehr amerikanisch. Wer sich für die Alltagskultur der USA nicht interessiert, der könnte Überdruss empfinden – angesichts der wiederkehrenden Schilderungen typischer Gewohnheiten.
– Detailverliebtheit kann auch zu Längen führen. Davon ist dieser Roman sicher nicht ganz frei.
– Einige wenige Figuren sind vielleicht ein wenig zu eindimensional geraten. So kann man wirklich nur mühsam nachvollziehen, warum die Ehefrau der Hauptperson der Geschichte an diesen neuen Partner (und dann auch Ehemann) gerät – der so offensichtlich gar nichts zu bieten hat.

Und die Bilanz:
Für mich war es lohnend. Das hat aber sicher auch damit zu tun, dass ich so ein Buch mal eben zwischendurch “weghören” kann, ohne gleich mehrere kostbare Wochenenden oder einen halben Jahresurlaub darauf verwenden zu müssen. Wenn man im Jahr nur fünf Bücher schafft, dann würde ich nicht unbedingt diesen Roman auf die Liste setzen. Wenn man die Muße hat, sich immer mal wieder in andere Lebenszusammenhänge hineinzulesen, ist er durchaus eine Empfehlung.

“Eine bessere Welt – Die Abnormen 2” von Marcus Sakey

Eigentlich lese ich ja keine Thriller. Ich verstehe nicht so recht, warum so viele Autoren und Leser daran Interesse haben, interessante Geschichten bzw. anregend ausgestaltete Figuren immer wieder in einen Kontext von Kriminalität, Gewalt oder Horror zu stellen. Warum selbst so begnadete Erzähler wie Stephen King einfach von diesem Genre nicht lassen können.
Es ist mir übrigens genauso schleierhaft, warum ausgerechtet die TATORT-Serie seit Jahrzehnten als ein gelungenes Spiegelbild unser gesellschaftlichen Wirklichkeit betrachtet wird. Als ob es ohne einen Mord als Auftakt keine treffenden und unterhaltsamen Einblicke in unser Leben gäbe. Als ob verschiedene Teams von Sozialarbeitern oder Reportern sich nicht mindestens genauso gut dafür anböten, gesellschaftliche Trends und komplexe Persönlichkeiten bzw. deren Beziehungskisten abzubilden.

Diesmal geht es aber tatsächlich um einen Thriller. Er hat mich thematisch angesprochen und er hat mich beim Lesen so gepackt, dass ich das Nachfolgebuch gleich hinterher gelesen habe.
Wie konnte das passieren?

Zuerst zum Thema:
Es geht um den Konflikt zwischen den Normal-Menschen und einer kleinen Gruppe von „Genialen“. Seit einem bestimmten Zeitpunkt – so der Rahmen der Geschichte – werden ca. 10 % der Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten geboren. Diese „Genialen“ unterscheiden sich dann nochmal in dem Ausprägungsgrad ihrer extrem erweiterten Kompetenzen im Bereich Wahrnehmung, Intelligenz, Kreativität, Körperbeherrschung, usw..
Erzählt wird, wie sich aus ersten gesellschaftlichen Spannungen allmählich ein erbitterter Kampf um die Vorherrschaft wird. Wobei diese Zuspitzung nicht nur aus der Ausgangslage hervorgeht, sondern von machtgierigen Einzelpersonen befeuert wird.
Mich reizte an dieser Thematik die Nähe zu der Diskussion um Transhumanismus, also um die Erweiterung menschlicher Möglichkeiten mit Hilfe von Gen-Technologie und digitaler Mensch-Maschine-Systemen. Viele Forscher sind ja ernsthaft der Meinung, dass schon in 20 bis 30 Jahren eine Elite von genmanipulierten Super-Wesen entstehen könnte, die den „Homo Sapiens“ hinter sich lassen und eine neue Gattung bilden könnten. Über die moralischen und politischen Implikationen einer solchen Entwicklung wird schon eifrig diskutiert – nicht nur von vermeintlich durchgeknallten Silicon-Valley-Phantasten, sondern auch von ganz seriösen Philosophen.
Also erschien mir das Szenario dieses Buches vielversprechend: Ein Science-Fiction-Thriller zum Thema „Übermenschen“ – warum nicht?!.

Und die Umsetzung?
Ich muss zugeben: Da bin ich letztlich dem ganz normalen Strickmuster einer Heldengeschichte „Gut gegen Böse“ verfallen. Ja – es gibt jede Menge Klischees aus dem Standard-Baukasten der konventionellen Spannungs-Literatur (wenn man diesen Begriff wirklich benutzen will). Und es gibt auch jede Menge Gewalt: „böse“ und „gute“ Gewalt.
Alles wie immer: Man identifiziert sich mit dem Helden und seinen Liebsten; wundert sich, was einzelne Menschen alles leisten können und ist immer wieder überrascht, welche vielfältigen Komplikationen einem guten Ausgang entgegenstehen können. Und wie böse die Bösen sein können.
Kurz gesagt: Wenn man sich einmal eingelassen hat, ist es einfach spannend.
Der Autor ist ohne Zweifel ein Profi; er versteht sein Handwerk.

Für mich war das Lesen dieser beiden Bücher (das erste Buch der Trilogie habe ich ausgelassen; man bekommt den Inhalt ausführlich genug erzählt) eine gute Erfahrung. Ich habe mich drei Tage gut unterhalten gefühlt und konnte meine manchmal etwas hochnäsige Haltung gegenüber den „Thriller-Süchtigen“ mal ein wenig relativieren: Es darf tatsächlich auch mal was anderes als seriöse Belletristik oder ein Sachbuch sein.

“Der Trafikant” von Robert Seethaler

Ein kleines aber feines Stück Literatur!

Ich bekam den Trafikanten in die Hände, als ich mich Weihnachten mit Freunden über die bevorzugte Literatur der letzten Zeit austauschte. Ich hatte von dem Autor und dem Titel zuvor nichts gehört.

Die Geschichte spielt in dem von den Nazis besetzten Wien. Ein junger Mann wird aus der verarmten österreichischen Provinz zu einem Verwandten in die Hauptstadt geschickt, um dort in einem Zeitungskiosk auszuhelfen. Er lernt das zunehmend von Gewalt und Antisemitismus bestimmte Alltagsleben aus dieser speziellen Perspektive kennen. Er verliebt sich unglücklich. Und er trifft einen schon kränkelnden alten Herrn: Professor Sigmund Freud.

Aus diesen Zutaten entsteht ein leiser, unaufgeregter Roman. Eine Milieustudie, die sich ganz auf die Seite der kleinen, rechtschaffenden Leute stellt. Es sind alltägliche Mühen und bescheidene Sehnsüchte, die das Leben bestimmen. Zu den persönlichen Enttäuschungen kommt die Willkür und Brutalität der Besetzer und ihrer einheimischen Helfershelfer.  Während Freud – mit dem eine seltsam anmutende kleine Freundschaft entsteht – schließlich mit seinem Hausrat emigrieren kann, sind die Durchschnitts-Menschen, die ihre Anständigkeit bewahren wollen, dem System wehrlos ausgeliefert.

Es gibt keine großen Helden in diesem Roman, nur kleine mutige Gesten. Auch kein Sieg des Guten. Aber man erhält einen sehr authentisch wirkenden Einblick, wie sich Geschichte von unten anfühlt.

Die, die wir heute so selbstverständlich (und manchmal auch eitel und selbstverliebt) mit der Optimierung unserer Karrieren, Beziehungen und Körper beschäftig sind, werden mal für einige Stunden darauf gestoßen, wie Leben auch verlaufen könnte. Unter anderen Bedingungen. Auf die wir genauso wenig Einfluss haben würden, wie der Trafikant es hatte.

“Der Ernährungskompass” von Bas Kast

Nein, ich schließe mich nicht einer Diät-Mode oder einer Ernährungs-Ideologie an. Ich finde auch nicht, dass bewussteres Essen jetzt das wichtigste Thema überhaupt wäre.
Ich berichte nur über ein sehr lesenswertes Buch.

Der Journalist Bas Kast hat etwas getan, was ich als einen wirklich gewinnbringenden Service empfinde: Er hat sehr viele (sicher nicht alle – wie von den Werbetextern etwas großspurig behauptet) Studien ausgewertet, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Ernährung auf der einen und Gewichtsreduktion, Gesundheit und Lebenserwartung auf der anderen Seite befassen. Sein Ausgangspunkt war nicht das Bedürfnis, Argumente für eine bestimmte  – von ihm bevorzugte – Ernährungsweise zu sammeln. Kast stellt glaubhaft dar, dass ihm das Ergebnis seiner Recherchen ziemlich egal war: Er wollte nur wissen, wie denn die wissenschaftliche Faktenlage nun tatsächlich aussieht. Vor allem: Wie sich die Widersprüche zwischen den geradezu feindlichen Diät-Lagern – insbesondere zwischen den Aposteln des “möglichst wenig Fett” und des “möglichst wenig Kohlenhydrate” aufklären lassen.

Die Art, wie der Autor seine ambitionierte Aufgabe angeht, ist aus meiner Sicht außerordentlich gut gelungen. Befunde und Zusammenhänge werden unaufgeregt, sachlich und mit einem bemerkenswerten Tiefgang dargestellt und bewertet. Kast nimmt die Leser sogar mit bis in die Feinheiten des Zellstoffwechsels – ohne den roten Faden zu verlieren oder in ein Fachchinesisch zu verfallen.
Wenn man sich auf all die Informationen einlässt, bekommt man sehr viel mehr als ein paar gut begründete Ernährungs-Tipps. Man fühlt sich aufgeklärt; man hat einen Blick hinter die Kulissen geworfen. Auch wenn man vielleicht nicht jede Einzelheit abspeichern wird: Es bleibt der Eindruck, hier hat jemand die Materie zu durchdringen versucht und hat einen Weg gefunden, dies nachvollziehbar zu vermitteln.
Sympathisch ist dabei, dass Kast auch mit Unsicherheiten und Widersprüchen umgehen kann. Er steht dazu, wenn nur vorläufige Aussagen möglich sind. Er macht deutlich, wenn er – bei einer unklaren Datenlage –  seine persönlichen Schlussfolgerungen zieht. Er missioniert nicht, hat aber den Mut zu klaren Empfehlungen.

Natürlich werde ich an dieser Stelle keine Zusammenfassung der Ratschläge geben; das kann man an anderer Stelle nachlesen. Es geht auch gar nicht so sehr darum, dass man so viel Neues lernt (für mich war es trotzdem eine ganze Menge). Ich habe am meisten davon profitiert, dass die Art des Umgangs mit dem Modethema Ernährung so erfrischend un-ideologisch und damit überzeugend und motivierend ist.

Auf meine persönliche Ernährungsgewohnheiten hat dieses Buch – zumindest in dem bisherigen Beobachtungszeitraum – mehr Einfluss gehabt als alles, was ich jemals zuvor gehört oder gelesen habe.
Gibt es für ein Ratgeber-Fachbuch ein größeres Kompliment?