“Die aufgeregte Gesellschaft” von Philipp Hübl

Schon wieder ein Sachbuch!
Warum tue ich mir das an, statt – zumindest auf Reisen – mal Zerstreuung in einem gut geschriebenen Krimi zu suchen?
Nun, ich habe das gelegentlich versucht, dann eher mit Science-Fiktion als mit Krimis. Einige davon sind in anderen Blogbeiträgen auch besprochen.
Aber meine Erfahrung ist: Für mich ist nichts anregender oder spannender als durch ein didaktisch gelungenes Sachbuch neue Perspektiven auf die Welt geöffnet zu bekommen und diese damit wieder ein kleines Stück besser verstehen zu können. Mit diesem Genuss können die üblichen Unterhaltungsliteratur-Genres nur in Ausnahmefällen mithalten.

In diesem Sinne und nach diesem Anspruch ist das hier besprochene Buch ein “großer Wurf”!
Es verbindet in einer – für mich beeindruckenden Weise – psychologische, philosophische und gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisse zu einem griffigen Modell, das einen erstaunlich breiten Erklärungswert aufweist und dabei insbesondere auf brandaktuelle Themen fokussiert wird.

Das größte Problem an diesem Buch ist der Titel. Er gibt nur einen minimalen  Hinweis auf die tatsächlich behandelten Themen. Er täuscht den potentiellen Käufer/Leser – allerdings nicht, weil er zu viel, sondern weil er zu wenig verspricht.
Mein Vorschlag würde z.B. lauten: “Wie Moralpsychologie und
-philosophie politische und gesellschaftliche Trends erklären können”.
(Dann erübrigt sich natürlich der Untertitel).

Genau darum geht es nämlich. Der Autor entwickelt – auf der Basis der “Moralwissenschaften” ein Schema bzw. eine Schablone, die sich ziemlich gut dazu eignet, – auf den ersten Blick – ganz unterschiedliche Phänomene zu verstehen.

Bzgl. der Grundfrage, ob Moral (und die daraus abgeleiteten politischen Überzeugungen) ihre Basis eher in den Emotionen oder in vernunftbasierten Abwägungen haben, schlägt sich HÜBL zunächst ganz klar auf die Seite der gefühlsmäßigen Reaktionen bzw. Bewertungen.
Er identifiziert insgesamt sechs relevante emotional verankerte Grundtendenzen. Drei davon (Fürsorge, Fairness und Freiheit) ordnet eher einem “progressiven” Weltbild, die drei anderen (Autorität, Loyalität und Reinheit) sind für ihn Ausdruck einer konservativen Grundeinstellung.
Das hört sich vielleicht (zu)  einfach an, entwickelt sich aber  im Laufe des Buches zu einem extrem hilfreichen, facettenreichen  und plausiblen Ordnungsprinzip.

Der Autor schaffte es tatsächlich, mit diesen Grundfarben einen erstaunlich großen Ausschnitt der  – so komplexen und unübersichtlichen – Welt so zu kolorieren, dass sich neue und gut strukturierte Bilder abzeichnen.  Immer wieder denkt man: “Ja, das ist stimmig; genau so könnte man das sehen!”

Ich muss mich bremsen! Am liebsten würde ich hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Argumentationsstränge darbieten. Aber das wäre schade!
Ich will zum Lesen dieses Buches motivieren und keineswegs den Eindruck erwecken, dies hätte sich durch eine ausführlichen Rezension erübrigt.
Vielleicht beispielhaft nur eine Facette: Spannend sind die – für mich überraschenden – Zusammenhänge zwischen dem Gefühl “Ekel” und bestimmten moralischen Regeln und Haltungen (diskutiert unter der Überschrift “Reinheit”).

Das Selber-Lesen lohnt sich auf deshalb unbedingt, weil der Autor auch ein guter Didaktiker ist. Er schreibt wie ein erfahrener Wissenschafts-Journalist, strukturiert, stellt Zusammenhänge her, fasst zusammen.
Einfach toll!

Ja, ein persönliches Anliegen treibt den Autor auch um. Besser gesagt, zwei.

Einmal holt HÜBL die zu Beginn etwas in den Hintergrund gedrängte Vernunft und die darauf basierenden “autonomen” Entscheidungsmöglichkeiten des Menschen am Ende in sein Gesamtbild hinein. Das stimmt ihn letztlich hoffnungsvoll, weil es Weiterentwicklung ermöglicht – individuell und gesellschaftlich.

Etwas konkreter – und aus meiner Sicht geradezu in perfekter Weise – macht der Autor im Schlussteil deutlich, dass er die verschiedenen moralischen Grundreaktionen keineswegs nur mit wissenschaftlicher Neutralität betrachtet. Seine Sympathie für eine offene, freiheitliche und von der Tendenz eher “weibliche” Zukunftsperspektive wird aber natürlich auch nachvollziehbar aus den Befunden abgeleitet.
Und es ist geradezu ein Genuss, die Zusammenhänge zwischen autoritären bzw. rechtslastigen Einstellungen und eines stark auf emotionale Reaktionen reduzierten moralischen Urteils so überzeugend dargeboten zu bekommen.
Hier wird das, was man schon immer dazu gefühlt und gedacht hat, wirklich toll zusammengefasst. Unideologisch und nachvollziehbar.
Wer etwas nachdenkt (nachdenken kann), landet nicht im rechts-autoritären Sumpf! (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Ach ja; ein guter Rezensent findet immer etwas Kritisches.
Nun: Wie jedes Ordnungsschema ist auch das von HÜBL nicht perfekt oder gar “wahr”. Manches wird vielleicht zu schnell “passend” gemacht. Geschenkt!
Ich würde sofort gerne ein besseres und überzeugendes Buch über diese Thematik lesen, wenn es das denn gäbe.
Ich bitte um Hinweise!

Übrigens: Den Zugang zu dem Buch hat mir der Auftritt des Autors im “Philosophischen Radio” bei WDR 5 geschaffen.

UDO LINDENBERG in Oberhausen (09.07.19)

Nach meiner positiven Sichtweise auf die neue LINDENBERG-Album (MTV 2) war der Schritt zu einem Konzert-Besuch nicht mehr weit. Glücklicherweise wurde mir die Karte (inkl. Begleitung) geschenkt, so dass wirklich nichts meinem – insgesamt sechsten – Live-Act von Udo entgegenstand. Übrigens verteilt auf 46 Jahre…

Ich will nicht lange darum herumreden: Es war perfekte Unterhaltung für Auge, Ohr und Herz!

Nachdem man im Vorjahr in der Presse bezogen auf die große Udo-Stadion-Tournee schon Zweifel angemeldet hatte, ob sich der gigantische Aufwand dieser Show überhaupt rechnen könne, war ich etwas besorgt: Sollte uns etwa in dieser – eher kleinen – Arena ein Spar-Konzert drohen? Alles irgendwie abgespeckt?
Die Zweifel wurden mit dem Auftakt-Feuerwerk optisch und akustisch weggeblasen! Was dann für über zweieinhalb Stunden passierte, kann man nur als einen Overkill an Reizen aller Art bezeichnen. Immer bot sich auf der Bühne und ihrer in den Innenraum verlängerte Rampe geradezu eine Orgie an Bewegung, Effekten, Farben und Kostümen. Gefühlt waren es mindestens 50 Darsteller aller Altersgruppen, die die Hauptmusiker und Sänger/innen optisch einrahmten und die jeweilige Thematik des Songs in opulente Bilder übersetzen. Für die Menschen, die – so wie ich – relativ nah am Bühnenaufbau standen, ergab sich sozusagen ein permanenter Wahrnehmungsstress:
Wohin sollte man schauen? Geradeaus auf die Rampe, auf der Udo und andere echte Menschen nur wenige Meter entfernt waren (und dabei – losgelöst von der Action der Hauptbühne – geradezu zerbrechlich wirkten)?  Oder auf die Bühne, auf der sich zeitweise eine bunte Wunderwelt entfaltete? Oder auf die
riesige Video-Leinwand, die nicht nur zusätzliche optische Effekte generierte, sondern auch die verschiedenen Ebenen zusammenführte? Puh…

Aber Udo wäre nicht Udo, wenn es nicht jede Menge “Message” geben würde.
Drei Themenbereiche zogen sich durch den Abend:
– Die Friedensthematik lässt Udo nicht los. Es ist sein politischer Lebens-Schwerpunkt – aber er reichert ihn mit einer Prise “Fridays for Future” an. Natürlich!
– Udo zelebriert auch immer ein Stück sich selbst, sein Leben(swerk). Längst hat er seinen Denkmal-Status offensiv zu nutzen gelernt und erzählt – in Worten und in Liedern – Teile seiner Biografie. Zeitgeschichte in Udo-Manie.
– Ja und dann gibt es die Panik-Familie. Dazu gehört nicht nur das gleichnamige Orchester, dessen Konstanz und Treue er nicht müde wird zu rühmen – sondern auch das gesamte Publikum. Udo unternimmt jede erdenkliche Anstrengung, ein Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen. Dabei bringt er alle persönlichen Bezüge zur Ruhrpott-Identität ins Spiel (irgendwann hatte der dann zu ziemlich alle Städte aufgezählt…).

Das alles ist  – aus meiner Sicht – sympathisch und nett.
Ja – es ist auch manchmal ein wenig dick aufgetragen und sicher findet man auch ein paar kitschige Elemente. So könnte man den gefühlvoll zelebrierten  Abschied aus dieser großen Oberhausen-Panik-Welt mit den zahlreichen Hinweisen, dass man sich bestimmt auch wiedersieht, sicherlich ein wenig straffen. Da geht es mit dem Udo wohl etwas durch – aber es sei dem 73-jährigen Pionier des deutschsprachigen Rocks verziehen.

Er will auch 2046 noch einmal wiederkommen!
Wenn er das schafft, versuche auch ich, dabei zu sein…

“1Q84” von Haruki MURAKAMI (1 – 3)

Bildergebnis für 1q84

Was bringt jemanden dazu, einen Roman mit der Gesamt-Hörzeit von 47 Stunden innerhalb von ca. 3 Jahren ein zweites Mal zu hören?
Entweder handelt es sich um eine Stück genialer Literatur oder man unterliegt irgendeiner speziellen Sucht.
Ein wenig süchtig bin ich wirklich nach “meinem” Japaner (dazu auch hier). Aber jetzt soll es um diesen besonderen Roman (von 2012) gehen.

Es ist nicht ganz einfach zu erklären, warum dieser dreiteilige Roman so lang ist. Die Handlung ließe sich sicherlich auf einen mittellangen Band komprimieren. Doch entspräche nicht dem Erzählstil von MURAKAMI.
Der Autor liebt die Redundanz. Er webt und lullt einen geradezu ein in diese sehr besondere Welt des Jahres 1984. Und diese Welt besteht – typisch MURAKAMI – aus zwei Ebenen: einer “realen” und eine irgendwie “mystischen”.

Der Autor liebt das Spiel mit diesen beiden Dimensionen. Er betreibt es auf eine ganz besondere Weise: Er hat einen sehr nüchternen und sachlichen Erzählstil, liebt die Schilderung von Details und schafft durch die fast gebetsmühlenhafte Wiederholung von bestimmten “Kernaussagen” einen vertrauten Rahmen, in dem die Geschichte und der Leser immer wieder ihren Halt finden. Ein bisschen so, wie das wiederholte Aufgreifen von Grundthemen in einem musikalischen Opus.
Das Raffinierte dabei ist, dass er auch die fantastischen, irrealen Aspekte seiner Geschichte so unaufgeregt und selbstverständlich erzählt wie normale Alltagsabläufe. So gewöhnt man sich als Leser auch an abstruse Gegebenheiten bzw. Abläufe und akzeptiert sie als irgendwie “echt”.
Das ist nicht zu vergleichen mit einem “Fantasy”-Stil. Es ist das geradezu lautlose Einschleichen der Irrealität in den ganz normalen Alltag – und der Autor schafft es, dass man jeden Widerstand dagegen unterlässt. Man gibt sich hin – auch weil man durch die Redundanz fast in eine Art meditative Trance verfällt.

Ach so. Worum geht es eigentlich?
Es gibt zwei Protagonisten, zwischen denen ein – fast unerträglich weiter – Spannungsbogen aufgespannt wird.
Der eine ist ein junger Schriftsteller (Autoren lieben es offenbar, über Autoren zu schreiben), der durch seine halb-legale Mitarbeit dazu beiträgt, dass der fantastische Roman eines jungen Mädchens zu einem Bestseller wird.
Die junge Frau ist eine Fitness-Trainerin, die als Nebenjob bestimmte krimineller Handlungen vollzieht – im Dienste einer guten Sache.
Die schon in der Kindheit vorhandene Verbindung zwischen den beiden wird in einem komplexen Plot miteinander verwoben. Und wie das Schicksal so spielt vollzieht sich das mithilfe der – ziemlich abgedrehten – Fantasy-Erzählung des jungen Mädchens, die in die echte Welt hineinsickert.
Man könnte auch sagen: Fiktion wird zur Realität, Realität zur Fiktion. Und dann noch mal kräftig durchschütteln!

Das Gemisch ist irgendwie einzigartig! Man liebt es oder man hasst es.

Wenn man dieses Buch gelesen und genossen hat, unterscheidet man sich von allen anderen  Menschen durch eine Besonderheit: Man weiß, was es bedeutet, einen zweiten Mond am Himmel zu sehen. Er ist das Symbol für die “zweite” Ebene.

1Q84 fordert Ausdauer und Geduld. Es schenkt ein Leseerlebnis der besonderen Art.
(Wenn es mir vergönnt sein sollte, werde ich es vielleicht in zehn Jahren nochmal genießen).