“Nemesis” von Philip Roth

Einer der ganz großen amerikanischen Autoren hat etwas über eine Epidemie geschrieben. Nein, kein Grippe-Virus. Es geht um Kinderlähmung (Polio), die während des 2. Weltkrieges u.a. in den USA wütete. Damals gab es noch keinen Impfstoff.
Sind das nicht genug Gründe, sich diesem Werk mitten in der Corona-Krise zu widmen?! Und das Ganze für deutlich unter 10 € (als E-book)!

Es ist kein kompliziert gewebter Plot, der da ausgebreitet wird. Ein junger engagierter Lehrer betreut während der Sommerferien den Sportplatz einer Großstadt. Es ist unerbittlich heiß. Die Kinder mögen ihn und er mag die Kinder.
Aber die Idylle währt nicht lange: ein – oft auch tödlicher – Virus breitet sich aus und bringt die Kinderlähmung speziell in das betreffende Stadtviertel.
Beschrieben wird die unglaubliche Trauer, Wut und Verzweifelung, die das tragische Geschehen bei dem Protagonisten auslöst.
Der Lehrer hat auch ein Privatleben, ein hoffnungsvolles zudem. Und doch führt gerade diese – vermeintliche – Glücksperspektive letztlich zu schicksalhaften Verstrickungen, aus denen er sich nie wieder befreien kann…

Natürlich steht die konkrete Geschichte letztlich nur exemplarisch für einige (existentielle) Grundthemen, die nicht nur Roth umtreiben, sondern sehr viele Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Kontexten:
– Kann man jemanden (z.B. Gott) verantwortlich machen für das so offensichtlich sinnlose und ungerechte Leid?
– Wie weit geht die individuelle Verantwortung und moralische Pflicht zur Hilfeleistung (und wann darf man seinem persönliches Glück die Priorität einräumen)?
– Kann und darf man sich selbst verzeihen, wenn man Schuld auf sich geladen hat (oder das zumindest nahe liegt)?

Dem Schreibstil von Roth merkt man die Schwere dieser Themen kaum an.
Er schreibt geradeheraus, in einer einfachen Sprache. Er ist nahe an den Figuren, nahe am Alltag. Es liest sich irgendwie unspektakulär, wie das normale Leben.
Und trotzdem (oder gerade deswegen?) fesselt einen dieses Buch nach wenigen Seiten. Das Buch bleibt nicht lange liegen, man will es zu Ende lesen.

Für der Wirkung des Buches spielt es überhaupt keine Rolle, dass es in längst vergangenen Zeiten spielt. Alles ist nachvollziehbar, nachfühlbar.
Man spürt vielleicht, dass es mehr Förmlichkeit, mehr Prinzipien, mehr Disziplin gab.
Aber die menschlichen Grundfragen bleiben gleich.
Deshalb veraltet gute Literatur nicht; deshalb ist es letztlich egal, ob die Geschichten in historischen oder Zukunftsszenarien spielen.

Nein, Nemesis es ist kein Corona-Buch. Aber es gibt Bezüge. Auch wir haben in diesen Zeiten Anlass, uns Fragen zu stellen, die über unseren Alltags-Tellerrand hinausgehen.
Roth lädt uns dazu ein. Auf eine vielleicht etwas “altmodische” Weise. Aber er berührt uns.

Was will man mehr?!


31.03.2020

In eigener Sache

Meine neuer Blog ist (erstmal) fertig; endlich!
Das muss für heute reichen; mehr Bildschirm-Arbeit ist nicht sinnvoll.

Infos zu den Veränderungen gibt es hier. Neu ist nicht das Erscheinungsbild, wohl aber der Aufbau und die Nutzbarkeit. Schaut mal bei den Büchern oder bei der Politik.
Die meisten von euch haben dazu auch eine separate Nachricht bekommen

29.03.2020

Nie war es so einfach, ein Gespräch zu führen! Ob Smalltalk oder tiefschürfende Analyse: Corona passt immer!

Vergleichbare Situationen liegen Jahrzehnte zurück: Terror in New York, die Mondlandung, Attentat auf Kennedy.
In etwas schwächerer Ausprägung kennt man gemeinschafts-stiftende Themen nach WM-Endspielen mit deutscher Beteiligung oder – in den Anfängen des Fernsehens – nach Durbridge-Krimis (später gab es dann zuletzt noch “Wetten, dass” als “Straßenfeger”).

Es geht um Erfahrungen und emotionale Beteiligungen, die übliche Schranken überwinden: zwischen Generationen, zwischen Bildungsschichten, zwischen sozialen Milieus, zwischen Parteipräferenzen sogar zwischen den Geschlechtern.

Nie wäre es so einfach, ins Gespräch zu kommen, selbst mit Fremden.
Und ausgerechnet jetzt kann diese fantastische Möglichkeit nicht genutzt werden: Weil wir Abstand halten (müssen), erst recht vor Fremden.

Was tut man, wenn das Kommunikationsbedürfnis steigt und die Anlässe schwinden?
Man nutzt die verbliebenen Kanäle!
Deshalb wird so viel telefoniert, im Moment. Auch mit nicht alltäglichen Mitgliedern des sozialen Netzwerkes.
Lasst uns wenigstens diese Chance nutzen! Die meisten von uns haben das Bedürfnis, sich über diese Ausnahmesituation auszutauschen – gerne auch öfters.

“Ruf doch mal an!” – Es gibt bestimmt kein peinliches Schweigen…

28.03.2020

Zwei Tage Blog-Pause. Zwei Tage keine Corona-Betrachtungen.
Was hat sich verändert?

Ich glaube, dass man in diesen Tagen eine neue Maßeinheit zur Beurteilung des Alltags-Lebens einführen könnte: Die “Persönliche Corona-Nähe” (PCN).

Was ich damit meine? Die aktuell wichtigste Unterscheidung zwischen dem Lebensgefühl der Menschen ist wohl, in welchem Ausmaß sie direkt von der Corona-Krise betroffen sind. Das reicht von extremer Betroffenheit (weil z.B. man infiziert ist, sich um einen Angehörigen sorgt oder im Gesundheitsbereich arbeitet) bis zur weitgehenden Nicht-Betroffenheit (weil man z.B. sowieso ein Leben lebt, dass den Corona-Regeln weitgehend entspricht).
Je nachdem, wo man sich selbst auf dieser Dimension einordnet, wird man schwächer oder stärker eine Ausnahmesituation spüren, ganz konkret.

Dazu kommt aber eine weitere Ebene, ein wenig abstrakter. Da hängt das Ausmaß der eigenen Beteiligung davon ab, wie man mit den – geradezu unbegrenzten – Nachrichten und Informationen in den diversen Medien umgeht.
Das hat zunächst eine quantitative Seite: Wie viele Stunden meines Tages widme ich diesem Thema? Reichen mit Schlagzeilen, begnüge ich mich mit den Nachrichten-Sendungen oder lasse ich mir keine Sondersendung bzw. Talkshow entgehen?
Aber letztlich entscheidend für die PCN (Persönliche Corona-Nähe) ist qualitativ: Gehe ich davon aus, dass sich gerade ein tiefer und letztlich globaler Einschnitt vollzieht – mit dramatischen Auswirkungen noch auf viele Jahre? Oder gehe ich von einer eher punktuellen Krise aus, die spätestens im nächsten Jahr weitgehend gemeistert sein wird.
Doch das ist nicht alles: Noch drängender und entscheidender ist die Frage, in welchem Umfang ich mich persönlich gesundheitlich bedroht fühle (bis hin zu Fantasien eines plötzlich in die Nahperspektive rückendes vorzeitiges Lebensende).

Meine These ist: Nichts bestimmt unser Leben im Moment stärker als diese PCN.
Wenn das stimmen sollte, hat sich sozusagen – innerhalb kürzester Zeit – ein Filter oder eine Schablone über unsere Wahrnehmung und Bewertungen geschoben, die noch vor wenigen Wochen noch gar nicht existierte.
Damit wohnen wir gerade einer extremen Veränderungen unseres subjektiven Erlebens bei, sozusagen einem riesigen psychologischen Experiment. Das besondere an diesem Experiment ist die Versuchsgruppe: Sie besteht nämlich aus uns allen, aus der gesamten Menschheit.
Ziemlich irre!

Wo stehe ich? Wie ist mein PCN-Wert?
Mein Alltag ist nur in geringem Umfang betroffen (vielleicht 2 von 10 Punkten).
Ich verwende viel Zeit auf Information (ca. 7 von 10).
Ich halte den Einschnitt für groß, aber nicht für historisch (6 von 10).
Meine Befürchtungen für mich selbst sind gemäßigt (4-5 von 10).
Insgesamt liege ich also im Moment im Mittelfeld.
Ob sich das verändern wird?

“Mehr Zeitwohlstand!” von Jürgen P. RINDERSPACHER

Also ein Buch über das Thema “Zeitmanagement”?
Nein, das ist es zum Glück nicht. Es geht nicht um Effektivität oder Effizienz.
Der Autor schlägt den Bogen weiter, viel weiter…

Es wäre wohl kaum übertrieben festzustellen, dass hier – in diesem unauffälligen Taschenbuch – eine Betrachtung über das gesamte moderne Leben angeboten wird.
Das ist möglich, weil “Zeit” ein so grundsätzliches Phänomen ist, dass es schlichtweg alle Bereiche und Aspekte unseres Alltagslebens irgendwie berührt.
Probiere es mal aus: Denke an ein beliebiges Thema und dann frage dich, welchen Bezug es zum Gegenstand “Zeit” hat.
Man findet immer was!
Genauso ging es offenbar Rinderspacher (der als “Zeitforscher” vorgestellt wird.
Und er nutzt diesen Umstand hemmungslos aus.

Letztlich sind es 35 Stichworte (= Kapitelüberschriften) geworden (von A wie Arbeitszeit bis Z wie Zweierbeziehung). Es hätten auch 21 oder 76 Stichworte sein können, weil …. (ja, alles hängt irgendwie auch mit der Zeit zusammen).

Der Autor ist ein sympathischer Zeitgenosse (Wortspiel!). Ein bisschen wirkt seine Welterklärung wie die Ausführungen eines netten Onkels, der einfach viel weiß und gerne davon erzählt. Dabei erklärt er – so ganz nebenbei – auch viele andere nützliche Dinge. Über die Entwicklung unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten, über Wirtschaft, Erziehung, Familienleben, Mobilität, Stress, und …
Vermutlich wäre es leichter, aufzuzählen, was der Autor auslässt (mir ist auf Anheib nichts eingefallen).

Vielleicht ist es schon deutlich geworden: Es handelt sich nicht um ein Fachbuch, es ist im lehrreichen Plauderton geschrieben. Und – um es nicht zu vergessen – es geht an keiner Stelle um das physikalische Phänomen Zeit, dessen Verständnis oder Messung.

Der Autor hat aber durchaus ein Anliegen, eine Message; auch die ist sympathisch.
Er möchte uns, den Lesern, den Menschen, einen bewussteren und einen wohltuenderen Umgang mit der Zeit ans Herz legen. Das macht er eher leise und indirekt; ein freundlicher Onkel ist ja kein Demagoge.

Das Buch eignet sich als Nachttisch-Lektüre; man kann es prima häppchenweise lesen. Für Menschen, die schon viel über alles mögliche wissen, ist es vielleicht ein wenig seicht, ein bisschen redundant.
Geradezu genervt haben mich die unendlich vielen Querverweise im Text, mit deren Hilfe der Autor wohl unter Beweis stellen wollte, das in seinem Buch irgendwie alles mit allem zusammenhängt. Hätte ich auch so gemerkt!

Bilanz: ein schönes Geschenk für Menschen, die interessiert an der Welt sind, sich gerne über die Zeit Gedanken machen und nicht sowieso schon alles wissen.
Anregend, ohne aufregend zu sein.

Du bist richtig gelandet!

Mein Blog hat einen neuen Platz im Netz.
Es wird nach und nach ein paar Veränderungen geben.

Im Prinzip sind alle bisherigen Inhalte verfügbar.
Allerdings müssen die Links (Verweise) auf andere Seiten innerhalb des Blogs noch angepasst werden. Das wird noch ein wenig dauern.

24.03.2020

Vier Welten

Ich komme mir in diesen Tagen so vor, als lebte ich in vier verschiedenen Welten, die oft nur ein durch einen kleinen Spalt getrennt sind.

Da ist erstmal die alte, die Vor-Corona-Welt. Sie scheint manchmal noch zum Greifen nah – war sie doch noch vor ganz wenigen Wochen die eigentliche, selbstverständliche, normale Welt. Man könnte sich fast in ihr verlieren – für ein paar verträumte Minuten.

Dann gibt es die “private” Corona-Konstellation. Sozusagen die persönliche Manifestation des Ganzen. Was betrifft mich wirklich im Hier und Jetzt? Was hat sich schon verändert? Wovor fürchte ich mich ganz konkret? Wie habe ich mich eingerichtet? Was gehen mich all die Nachrichten wirklich an? Wie isoliert und einsam bin und fühle ich mich? Wieviel Normalität kann ich leben?

Fast übermächtig erscheint die Medien- und Nachrichtenwelt. Hat man zwischendurch in der Privatwelt etwas Luft geschöpft, bekommt man hier die volle Dröhnung: Es kann richtig schlimm werden! Wer will oder sich ausgeliefert fühlt, kann 24 Stunden pro Tag Zahlen, Analysen, Erklärungen, Prognosen und Ratschläge bekommen – im Minutentakt. Mit ein bisschen Übung und den passenden Endgeräten lassen sich zwei Sendungen parallel schauen – und die Hände bleiben frei für einen kurzen Scroll der Online-Meldungen…

Ach ja – dann gibt es natürlich schon die vorgezogenen Nachbetrachtungen. Wie wird die Welt nach Corona aussehen? Werden wir mit traurigen Augen an die vergangenen, geradezu paradiesischen Zeiten zurückdenken? Oder werden wir gereift und geläutert neue Priorität für ein solidarisches und nachhaltiges Leben entwickeln?

Manche Menschen müssen in bzw. neben diesen gefühlten Corona-Welten noch ein richtiges Leben führen… Respekt!

23.03.2020

Corona und die Politik

Was waren das noch Zeiten, als der Wettbewerb um die Führung der (früheren?) Volksparteien die Republik – oder zumindest die Talkshows – wochenlang in Aufregung versetzt haben.
Heute findet man z.B. kaum einen Hinweis in den Medien, wie es dem großen Zampano Friedrich Merz eigentlich gesundheitlich geht. Vor einigen Wochen hätte es vermutlich tägliche Schaltungen zu seinem Hausarzt gegeben…

Vermisst eigentlich jemand die Talkshows, in denen viel Monate lang von allen Parteivertretern gefordert wurde, die Politik bzw. Parteien müssten sich um die Probleme der Menschen kümmern, statt sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Seit ca. zwei bis drei Wochen geht es nur noch um ein reales Problem. Und siehe da: es funktioniert!
Man hört den zuständigen Politikern und den relevanten Experten geduldig zu und fühlt sich gut regiert. Un auf einmal ist es auch ziemlich egal, was die AfD-Vertreter dazu denken und sagen; auch das vermisst wohl kaum jemand.

Es ist die Zeit der Entscheidungen; es ist die Zeit der Macher. Machen kann nun mal nur, wer regiert.
Wenn nächsten Monat gewählt würde (was natürlich wegen Corona nicht ginge), würden die Regierungsparteien wohl wieder eine Mehrheit haben.
Glaubt noch jemand, dass die CDU demnächst nicht von Laschet und Spahn geführt wird? Ich halte jede Wette!

Wenn die Bedrohung nicht so unmittelbar und riesig wäre – wie groß wäre dann wohl das Aufbegehren angesichts der unglaublichen finanziellen Mittel, die urplötzlich zur Verfügung stehen?!
Und danach? Wie lange wird man sich darauf zurückziehen (müssen), dass die Reserven jetzt für lange Zeit aufgebraucht sind?

Hoffnungsvoll bin ich bzgl. der Beurteilung der so oft pauschal abgewerteten staatlichen Institutionen und Dienste, die ja – vermeintlich – so ineffizient im Vergleich zum “freien Markt” wären. Ein großer Teil der Welt beneidet uns im Moment um die Kombination von freiheitlicher Gesellschaftsordnung und einer starken, funktionierenden öffentlichen Verwaltung.
Es wäre toll, wenn – im Falle einer geglückten Bewährung – dieses Modell wieder an Attraktivität und Ausstrahlungskraft gewinnen würde.

Eine Weile wird wohl auch das Politiker-Bashing vorbei sein. Endlich.
Politiker bedanken sich im Moment jeden Tag in den Medien für den Einsatz von Krankenschwestern, ArztInnen und VerkäuferInnen (usw.).
Ich denke, es wäre mal Zeit, sich auch bei den Politikern und ihren Stäben zu bedanken – und zwar auf allen Ebenen (von den Kommunen bis zum Bund).
Wer möchte die Jobs im Moment wirklich gerne übernehmen??

22.03.2020

Corona und die Kernfamilie

Nein – ich rede die Bedrohung nicht klein. Ja – es geht jetzt nicht um irgendwelche egoistische Einzelinteressen.
Ich nehme mir nur trotzdem heraus, die Corona-Krise unter ganz verschiedenen Perspektiven zu betrachten, so auch heute. Ich glaube, das schadet niemandem.
Soweit die Vorrede.

Nach – gefühlten – 127 Sondersendungen und Talkshows (es gibt inzwischen auch Sonder-Talkshows) und unzähligen Artikeln auf großen Nachrichten-Plattformen frage ich mich zwischendurch an einem spezifischen Punkt, in welcher Gesellschaft ich denn eigentlich lebe.

In den letzten Jahren wurden so ziemlich alle Tabus gebrochen und jede von potentieller Diskriminierung bedrohte Gruppe beachtet und gestärkt.
Dann kommt der Corona-Virus – und auf einmal sind wir (an einem Punkt) wieder in der wohligen Welt der 50iger-Jahre des letzten Jahrhunderts gelandet.
Wie ich zu dieser gewagten These komme?

Nun, ich habe einfach zugehört. Habe mir alle Beispiele, alle Konstellationen und Lösungsvorschläge angehört. Insbesondere die Überlegungen zu Kontakt- und -Ausgangsbeschränkungen der letzten Woche.
Was auffällt: Es gibt genau eine Gruppe von Menschen, deren Situation und Bedürfnisse tatsächlich nie (soweit ich es beurteilen kann) zum Thema wurde. Ich meine die Personen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht mit ihrem liebsten Menschen (in der Regel einem Partner oder einer Partnerin) in einer Haushaltsgemeinschaft wohnen bzw. leben.
Es wird im öffentlichen Raum so getan, als ob es nur die Einheits-Kleinfamilien-Idylle gäbe. Als ob nur Partnerschaften einen Anspruch auf Schutz ihres existentiell bedeutsamen emotionalen Kontakt-Bereiches hätten, die einen gemeinsamen Wohnsitz vorweisen können.

Ein ganz aktuelles Beispiel aus der gerade parallel laufenden Anne-Will-Sendung: Es wurde heute zwischen NRW und Bayern kontrovers diskutiert, ob die zwei Menschen, die ab heute nur noch gemeinsam in der Öffentlichkeit sein dürfen, aus einem Haushalt stammen müssen. Hört sich theoretisch und haarspalterisch an.
Warum – frage ich mich – kommt kein Mensch auf die Idee, in diesem Kontext mal über Paare zu sprechen, für die eben dieser Unterschied entscheidend wäre?
Es ist aus meiner Sicht ziemlich anmaßend, alle Kontakte jenseits der Haushaltsgemeinschaft als “unnötig” zu definieren!
Wenn man Zeit hat, über Sonderregelungen für Tattoo-Studios und Frisöre zu diskutieren, dann finde ich die Erwartung, auch mal in diese Richtung zu schauen, keineswegs überzogen.

Nochmal zur Klarheit: Die getroffenen Regelungen sind auch für mich jetzt logisch und angemessen. Aber es war knapp. Und offenbar gibt es für die hier beschriebene Gruppe keinen Blick und keine Lobby.

(Ich will nicht unerwähnt lassen, dass heute ein erster Artikel auf ZEIT-oniine ein erster Artikel zu diesem Thema erschienen ist).

“Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins” von Milan KUNDERA

Wer bin ich – dass ich mich mal eben an meinen Laptop setze und eines der bekanntesten literarischen Werke der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts rezensieren will.
Darf ich das einfach so – als ob es eine beliebige Neuerscheinung wäre? Oder sollte ich mich vorher schlau machen, andere Rezensionen oder literaturwissenschaftliche Aufsätze (oder wenigstens Wikipedia) studieren?
Nein, ich bleibe standhaft! Ich mache es wie immer und schreibe einfach drauflos. Wer etwas anderes möchte, kann sich gleich an die anderen Quellen wenden…

Seit meinem ersten (und letzten) Lesen des bekanntesten Kundera-Buches sind deutlich mehr als 30 Jahre vergangen. Zu gerne wüsste ich, was ich damals beim Lesen empfunden und gedacht habe. Wie sehr gleichen sich Reaktionen auf Bücher nach einem Generations-Zeitraum?

Was mir heute als erstes auffällt: Wie deutlich es von der ersten Seite an wird, dass man „echte“ Literatur (als Kunstform) in den Händen hält. Kundera erzählt keine Geschichte (das tut er natürlich auch), der Autor spielt mit der Sprache: mit den Erzähl-Ebenen, mit Metaphern, mit Assoziationen, mit Selbstbetrachtungen, mit Bezügen auf andere Kunstwerke, mit philosophischen Aussagen über existentielle Fragen, usw.
Als verbindendes Motiv taucht – immer mal wieder – die Metapher von der „Leichtigkeit“ des Lebens aus dem Untergrund auf. Diese Leichtigkeit wird ersehnt, kann aber letztlich doch nicht dauerhaft gelebt („ertragen“) werden.

Auf der inhaltlichen Ebene geht es um zwei Themen: die Liebe und die Politik.

Erzählt wird die Geschichte einer eigentlich verzweifelten, unlebbaren, alles andere als „normalen“  Liebe zwischen einem notorischen Frauenhelden (Tomas) und seiner Frau Teresa, die sich unablässig und erfolglos bemüht, die amourösen Abenteuer ihres Mannes „leicht“ zu nehmen.
Mit etwas kritischem Abstand würde man diesen Tomas wohl heute „sexsüchtig“ nennen; er braucht nahezu täglich (mindestens) eine sexuelle Erfahrung (mit möglichst vielen verschiedenen Frauen). Dabei verzweifelt er daran, dass die von ihm erlebte Trennung zwischen Sex und Liebe anderen Menschen – insbesondere Teresa – nicht gelingt. Doch ist auch diese – durchaus echte – gegenseitige Liebe nicht ganz ohne Zauber und Perspektive…

Erzählt wird aber auch die Geschichte von der Niederschlagung der sogenannten „Prager Frühlings“ durch die sowjetischen Besatzer und die Auswirkung dieser Intervention auf die tschechischen Menschen (besser gesagt: auf die intellektuellen und politisch engagierten Kreise).
Der klare historische Bezug zu dieser Entlarvung des „realen“ Sozialismus russischer Prägung war sicher der bedeutsamste Grund, warum aus diesem Roman ein weltweit beachtetes literarisches Ereignis wurde.
Es geht um Standhaftigkeit und Opportunismus, um die zersetzende Wirkung von Einschränkungen und Bedrohungen, um Achtung und Selbstachtung.
Verraten sei an dieser Stelle, dass der Protagonist (Tomas) den Weg der Selbstachtung wählt – dabei aber nicht ohne Ambivalenzen bleibt.

Ansonsten steckt das Buch voller anregender, kluger, provozierender und manchmal auch skurriler Exkurse: Es geht um Zufall, um Kitsch, um Kunst, um die Liebe zum Tier und immer wieder um den menschlichen Körper (oft, aber nicht nur als Objekt der Begierde).

Die Bilanz:
Kundera kann man nicht so im Vorbeigehen lesen. Er schreibt durchaus auch sperrig bzw. assoziativ.
Und natürlich merkt man dem Buch an, dass es aus einer anderen Zeit stammt. Wenn man zu dem zeitgeschichtlichen Hintergrund gar keinen Bezug hat, fällt es vielleicht schwer, diesen Teil der Botschaft in ihrer Tragweite nachzuvollziehen.

Für mich hat es sich gelohnt. Am liebsten würde ich alle für mich irgendwann bedeutsamen Bücher noch einmal lesen – aber was wird dann mit den Neuen?!

(Hinweis: Der Roman wurde auch verfilmt, durchaus erfolgreich).