“Herzfaden” von Thomas HETTCHE

Wie kommt man auf so ein Buch? Nun, es steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2020 und wurde als vielversprechend beschrieben. Und wer hätte (in meiner Generation) keine irgendwie positive Beziehung zur Augsburger Puppenkiste?!

Das Buch enthält eine komplex verstrickte Erzählung mit mehreren Zeit- und Realitätsebenen. Es gibt eine Rahmenhandlung, die in der Gegenwart spielt und einen magischen Blick in die Geschichte der Puppenkiste und ihrer Gründer-Familie freilegt. Im Gegensatz zu “üblichen” Rahmenhandlungen bilden die Abenteuer des kleinen Mädchens, das auf einem Dachboden weit in das letzte Jahrhundert zurückblickt, nicht nur den Anfangs- und Endpunkt des zeitgeschichtlichen Flashbacks, sondern es findet immer wieder ein Wechsel der Handlungsebenen statt.
Als verbindenden Elemente dienen nicht nur die bekannten Marionetten-Figuren (die natürlich auf dem Dachboden zum Leben erwachen), sondern auch die Tochter (Hatü) des Gründervaters der Puppenkiste schafft einen personifizierten roten Faden. Sie tritt dem Mädchen auf dem verzauberten Dachboden als erwachsene Frau gegenüber, die als Zeitzeugin aus ihrer eigenen Kindheit berichtet.

Doch es sind nicht nur die unterschiedlichen Zeitebenen, die das Buch komplex und etwas widersprüchlich erscheinen lassen: Es verbergen sich in der Romanhandlung auch verschiedene Erzähl-Genres, die den Leser fordern, ihn manchmal aber auch etwas ratlos machen.
Es gibt eine sehr persönliche Familiengeschichte rund um Hatü (und ihre engsten Freunde und ersten Lieben), die politischen und kriegerischen Geschehnisse im 2. Weltkrieg werden recht eindringlich und ungeschönt beschrieben, die stufenweise Entwicklung des Theaters von der ersten Wohnzimmeraufführung bis zur professionellen TV-Aufzeichnung wird geradezu dokumentarisch nachgehalten. Und zwischendurch passieren mit den lebendig gewordenen Marionetten auf dem Dachboden seltsame Dinge, die sich um den Kasper drehen – der wiederum auch auf der anderen Ebene eine besondere Rolle spielt.

Was deutlich wird: Man kann diesem Buch sicher nicht vorwerfen, dass es irgendwie eindimensional wäre. Eher im Gegenteil: Manchmal weiß man nicht so genau, woran man eigentlich ist und ob man das wirklich so komplex konstruiert braucht.
Die Spannbreite zwischen kitschnaher Rührseligkeit und historischer Härte ist schon recht ambitioniert.

Manchmal hat der Schreibstil des Autors etwas Selbstverliebtes. Er hat zwei Lieblingsbegriffe geschaffen, von denen er nicht so recht lassen kann – so begeistert ist er scheinbar von sich selbst. Während sich das beim “Herzfaden” quantitativ noch in Grenzen hält (es ist ja schließlich auch der Buchtitel), benutzt HETTCHE (gefühlt) mindestens 30 mal das schöne Bild des “Mondlichtteppichs”, der sich auf dem Dachboden ausbreitet.
Ich weiß nicht, wie ein Lektor bzw. eine Lektorin das durchgehen lassen kann.

Letztlich ist es Geschmackssache, ob man den Facetten- und Stilreichtum des Buches als Gewinn oder eher als verstörende Zumutung erlebt.
Mir haben einige etwas sehr gewollt anrührenden Stellen der Erzählung den Lese- bzw. Hörgenuss geschmälert. Es wird schon sehr deutlich, wie der Autor die biografische Vertrautheit seiner Leser mit den Augsburger Marionetten benutzt, um seinem Buch eine emotionale Dichte zu geben.
Vielleicht war es mir von allem ein bisschen zu viel – auch wenn das ganze Projekt sicher literarisch anspruchsvoll daherkommt.

Wer die Puppenkiste seiner Kindheit noch einmal auf eine ganz andere Art zum Leben erwecken will und dabei eine detailreiche zeitgeschichtliche Einbettung genießen möchte, der sollte zu diesem Buch greifen. Genauer und liebevoller wird man diese Zeitreise sicher nicht mehr bekommen.

“Die Jungbrunnen-Formel” von Sven VOELPEL

Ein brandneues Buch (Okt 2020) zu einem alten Thema.
Ist es deshalb überflüssig?
Diese Rezension soll dabei helfen, diese Frage zu beantworten.

Der Jungbrunnen ist eine sehr alte und etablierte Metapher für das Besiegen der Altersbeschwerden; in der Verbindung mit dem Begriff “Formel” soll wohl daraus etwas Modernes, Berechenbares und Planbares werden. Es geht also um Machbarkeit und nicht um Zauberkraft.

VOELPEL, Professor für Betriebswirtschaft, beschäftigt sich schon längere Zeit mit dem Thema Alter und hat sich dabei inzwischen weit über den Bereich der Wirtschaft hinaus einen Namen gemacht. In Talkshows unterhält und verblüfft der – geradezu provozierend jung wirkende – VOELPEL mit seinen z.T. skurrilen privaten Anti-Aging-Routinen.

Wenn man dieses Buch aufschlägt (bzw. auf sein Display lädt), erwartet einen zunächst mal eine Enttäuschung. Die ungekündigte Formel ist alles andere als eine Geheimformel; sie bündelt nicht mehr und nicht weniger als das Allgemeinwissen über gesundes Leben: Innere Einstellung + Ernährung + Bewegung + Schlaf + Atmung + Entspannung + soziale Kontakte = Wohlbefinden bis ins hohe Alter.
Die einzige Überraschung liegt vielleicht in dem Faktor “Atmung”; auf die anderen sechs Punkte wäre man vermutlich selbst gekommen.
Die Leistung des Autors besteht also nicht darin, bisher unbekannte Geheimnisse zu enthüllen. Was er zu bieten hat, ist die Aufbereitung und die Darstellung der Zusammenhänge.

VOELPEL sind mit diesem Buch zwei Dinge gelungen: Er vermittelt (insbesondere) neuere wissenschaftliche Befunde sehr verständlich und er schafft eine Art Motivationsschub in Richtung Umsetzung: Man kann sich dem Impuls kaum erwehren, zumindest einige Empfehlungen noch am gleichen Tag in sein Leben zu integrieren.

Wenn der Autor in seinen öffentlichen Auftritten auch recht radikal wirkt – in diesem Buch nimmt VOELKEL Kurs auf den Mainstream. Bis auf einige Vorschläge im Bewegungsbereich (z.B. Rückwärtsgehen auch in der Öffentlichkeit) vermeidet er Anregungen, die einem als Normalo nicht zugänglich wären. Auch in seinen Ernährungstipps spielen z.B. exotische Superfoods keine Rolle mehr (das war früher anders).
Das Ganze hat fast eine gewisse Heimtücke: Fast all das, was sich als nützlich für ein langes und gesundes Leben erwiesen hat, lässt sich mit durchaus vertretbarem Aufwand in einen ganz normalen Alltag integrieren: “Ach du Schrecken – das könnte ich ja wirklich tun!”

Es handelt sich bei der Jungbrunnen-Formel um ein Einsteiger-Buch. Niemand, der schon achtsam, körperlich aktiv, ernährungsbewusst und sozial eingebunden lebt, braucht wirklich diesen Überblick.
Wer an der Schwelle steht, noch Bestätigung oder Ermutigung braucht, andere motivieren oder einfach auf aktuellem Niveau mitreden möchte – der ist mit diesem angenehm und flüssig lesbaren Buch gut bedient.

Vielleicht hätte VOELPEL auf die ein oder andere Binsenweisheit verzichten können; manche Kapitel-Einleitungen sind schon sehr “basic” und lassen eine gewisse Ungeduld aufkommen (die natürlich nicht gesundheitsförderlich ist).
(Übrigens: Die Cover-Gestaltung spricht mich überhaupt nicht an).

Auch wenn der Titel des Buches ein wenig marktschreierisch wirkt: Man bekommt seriöse Kost geboten und von einem technokratischen Machbarkeitswahn ist kaum etwas zu spüren.
Dass wir unsere Gesundheit und unsere Lebenserwartung zu einem gewissen Anteil selbst beeinflussen können – an dieser Erkenntnis kommt wohl niemand vorbei. Wer das bisher nicht wusste, weiß es nach dem Lesen dieses Buches.

“Wer früher plant, ist nicht gleich tot” von Janine BERG-PEER

Das Buch hat eine eindeutige Zielgruppe: Es richtet sich an den Teil der Generation 65+, der offen dafür ist, statt nur über die vielfältigen Optionen des “modernen Alterns” auch über die schwierigen Vorbereitungen und Entscheidungen hinsichtlich eines näher rückenden Lebensendes nachzudenken. Dabei geht es nicht nur um die allerletzten Fragen, sondern auch um die Gestaltung der gesamten Lebensphase, die durch deutlich nachlassende Kräfte und Möglichkeiten gekennzeichnet ist.
Die Kernüberzeugung der Autorin: “Man sollte auf alles vorbereitet sein!”

Nach einigen grundsätzlichen Betrachtungen zum Älterwerden im Allgemeinen folgen Ausführungen und Anregungen zum Umgang mit Krankenkassen (bei Bedarf an Hilfsmitteln), zur Klärung der langfristigen Möglichkeiten familiärer Pflegeleistungen, zu alternativen Wohnkonzepten, zur Auswahl von Alters-, Pflege- und Demenzheimen, zum frühzeitigen Minimalisieren des Hausrates und letztlich zu den notwendigen Verfügungen im Krankheits- und Todesfall.

Das Buch ermutigt zum Nachdenken, zum Recherchieren, zum Nach- und Hinterfragen und zu offenen Gesprächen mit den Menschen, die als Angehörige oder sonstige Bezugspersonen an den anstehenden Prozessen beteiligt sein werden.
Im Zweifelsfall – davon ist BERG-PEER überzeugt – kommt man mit einer direkten Ansprache von Wünschen und Bedürfnissen, also mit Klartext, weiter als mit Tabuisieren und Herumlavieren.
Der Autorin macht vor allem auf überzeugende Art plausibel, wie sinnvoll es ist, alle wesentlichen Dinge zu einem Zeitpunkt zu ordnen und zu regeln, an dem man die Dinge noch selbst in der Hand hat. Das schließt keineswegs aus, sich bei diesen Schritten auch praktische Hilfe zu holen.

Die Autorin legt kein nüchternes Sachbuch vor. Sie zeigt sich – mit einiger Selbstverliebtheit – als eine durchaus sperrige Persönlichkeit mit sehr individuellen Vorlieben und Maßstäben. Damit ist eine Sache schonmal geklärt: Alt sein bedeutet nicht, seine Identität zu verlieren und Teil einer amorphen grauhaarigen Menschenmasse zu werden!
Der Schreibstil ist locker-flockig, persönliche Erlebnisse, Betrachtungen und Meinungen spielen eine große Rolle und bilden die eigentliche Substanz des Buches. Man erfährt mindestens ebenso viel über die Autorin (ihre Katzen, ihre Kinder, ihre Biografie und vor allem über ihre kulinarischen Vorlieben) wie über die behandelten Themen.

Zurecht macht die Autorin anfangs kritisch deutlich, dass es heute fast zur Gewohnheit geworden ist, sich von den anderen (also den normalen) Alten irgendwie abzuheben, weil man ja fitter, flexibler, aktiver oder moderner wäre. Sie erkennt darin eine Art versteckte Altersdiskriminierung – als ob das normale Altsein doch irgendwie einen Makel hätte.
Ein bisschen schmunzeln muss man dann darüber, dass BERG-PEER selbst keine Anstrengung scheut, ihr Besonders-Sein an jeder Ecke zu demonstrieren.

Die Bewertung des Buches und damit der Lesegenuss wird stark davon abhängen, welchen Weg der Informationsvermittlung man als Leser/in bevorzugt. Sucht man strukturierte und nüchterne Sachinformation, die schnell auf den Punkt kommt und sofort praktisch verwertbar ist, dann wird BERG-PEERs extrem subjektiver Stil wenig Begeisterung auslösen können.
Andere werden es sehr genießen, gerade an die sensiblen Themen rund um Alter, Krankheit und Tod auf eine humorvolle und eigensinnige Weise herangeführt zu werden. Nach dem Motto: “Wenn schon das Thema schwer ist, dann soll es doch wenigstens die Art der Darbietung ein wenig Leichtigkeit verbreiten.”

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich auf manche Anekdote und eine große Portion Selbstdarstellung gerne verzichtet. Ich bin aber sicher, dass dieses Buch viele zufriedene Leser finden wird.

“Der nasse Fisch” von Volker Kutscher

Ich habe mir dieses Buch von David Nathan (einem tollen Hörbuch-Sprecher) vorlesen lassen. Die TV-Serie “Babylon Berlin” habe ich nicht gesehen; das Buch hat mich aber dann doch interessiert.

Nasse Fische sind ungelöste Mordfälle.
Wir begleiten einen jungen Kriminalkommissar, der nach einem etwas problematischen Einsatz in seiner Heimat Köln nach Berlin in die Abteilung “Sitte” gerät. Dieses Berlin der späten 20-ziger Jahre brodelt – gesellschaftlich, kulturell und politisch.
Das Buch beginnt extrem brutal – konzentriert sich dann aber auf die Darstellung von Beziehungsgeflechten: im Polizeihauptquartier, im privaten Umfeld, in den kriminellen Strukturen und im kulturellen bzw. politischen Milieu.

Dieser zeitgeschichtlich eingebettete Krimi unterhält auf einem angenehmen Niveau. Die Identifikation mit dem Protagonisten gelingt problemlos; man nimmt recht gelassen hin, dass er nicht immer den geraden Weg geht. Die Handlung bietet Verwicklungen und Überraschungen .
Natürlich gibt es auch eine Love-Story mit einemausreichend komplizierten Verlauf.

Die eigentliche Leistung des Romans liegt in der Vermittlung eines historischen Einblicks in die spannende Zeit zwischen Kaiserzeit und Nazi-Machtergreifung. Man spürt auf der einen Seite die Vorzeichen einer hedonistischen Moderne, gleichzeitig türmen sich die dunklen Wolken des Machtkampfes zwischen den politischen Extremen am Horizont auf.

Insgesamt eine lohnende Lektüre für Menschen, die sich über das hinaus anregen lassen wollen, was eine gut konstruierte Geschichte leisten kann.

Viellicht schau ich doch nochmal in die TV-Serien rein…

“Youth To Power – Eine Anleitung zum Handeln” von Jamie MARGOLIN

Die inzwischen weltweit bekannte junge Aktivistin (Mitbegründerin der Klimabewegung “Zero Hour”) hat ein Buch für diejenigen jungen Leute geschrieben, die sich ebenfalls aufmachen wollen, um die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen zu verändern.
Es ist eine Art Handbuch geworden, in dem sie ihre – inzwischen breitgefächerten – Erfahrungen in strukturierter Form darstellt und so konkrete Tipps und Handlungsanleitungen verfügbar macht.

JAMIE (der Vorname passt besser zum Stil des Buches) spricht ihre Zielgruppe direkt an, sie betrachtet sich dabei als gleichgesinnte Freundin mit einem Erfahrungsvorsprung, keineswegs als ein leuchtendes Vorbild oder gar als Heldin.

Es geht ihr nicht darum, für eine bestimmte Sache zu werben – auch wenn die Richtung natürlich klar ist: Alle Beispiele drehen sich um Klima, Anti-Rassismus, Anti-Diskriminierung, Transgender, soziale Gerechtigkeit. Die Autorin behandelt in ihrem Aktivisten-Leitfaden aber nicht den Inhalt, sondern die Struktur des politischen Handelns. Es handelt sich daher NICHT um ein Klima-Buch oder um die Sensibilisierung für Alltags-Diskriminierung.
Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die eigene Erfahrung, die empfundene Ungerechtigkeit oder das persönliche Veränderungsziel. Die Frage nach dem persönlichen “Warum” (also nach dem Motiv für das Aktivwerden) steht daher am Anfang.

Dann geht es ans Eingemachte: JAMIE behandelt die Wege und Methoden der politischen Einflussnahme mit bewundernswerter Akribie und Systematik: Wie finde ich gleichgesinnte Jugendliche? Wie schreibe ich einen Leserbrief? Wie nehme ich Kontakt zu meinem Abgeordneten auf? Wie mobilisiere ich die Presse? Wo finde ich Bündnispartner und Mentoren in der Erwachsenenwelt? Wie organisiere ich ein Event? Was muss ich über juristische und finanzielle Aspekte eines Projektes oder einer Demo wissen? Wie nutze ich die sozialen Medien? Welche Stolpersteine lauern in der internen Gruppendynamik? Usw., usw…

So eindeutig sich die Autorin auch zu der Notwendigkeit bekennt, dass die junge Generation ihre Interessen mit voller Kraft selbst vertreten muss – so klar definiert sie auch die Risiken und Grenzen eines solchen Engagements.
Es gehört eindeutig zu den größten Stärken dieses Buches, dass JAMIE nicht nur auf die Gefahren einer Selbstüberforderung und auf die Notwendigkeit hinweist, sich “normale” Lebensbereiche zu erhalten; sie nimmt sogar eindeutig Stellung, wenn es um den Vorrang der eigenen Ausbildung und die Berücksichtigung familiärer Bezüge geht.
Hier stachelt an keiner Stelle eine radikale Aktivistin andere Jugendliche auf, sich ohne Rücksicht auf Verluste ganz einer Sache hinzugeben und diesem Ziel alles andere unterzuordnen. Hier hetzt auch niemand gegen die “böse Erwachsenenwelt”; im Gegenteil: Es wird immer wieder dazu ermutigt, sich dort Mitstreiter/innen zu suchen und auch die eigenen Eltern nicht außen vor zu lassen.

Die Autorin lebt in Amerika und das hat natürlich auch dieses Buch geprägt. So ist das Thema “People of Color” (und damit rassistische Diskriminierung) an jeder Ecke spürbar. Aber JAMIE ist international vernetzt und sie unterstreicht diese Globalität der Jugendbewegung, indem sie am Ende jedes Kapitels eine Aktivistin aus anderen Teilen der Welt zu Wort kommen lässt.
An Selbstbewusstsein fehlt es der Autorin und ihren Mitstreiterinnen dabei sicher nicht. Sie ist überzeugt davon, dass Jugendliche besonders geeignet sind, sich den drängenden Zukunftsfragen zuzuwenden, weil sie noch nicht durch wirtschaftliche Interessen oder Abhängigkeiten vereinnahmt sind.

Vor dem Kauf des Buches sollte man wissen, worauf man sich einlässt. Es geht hier nicht um ein gelegentliches Mitmarschieren bei “Fridays for Future”. Thema sind die konkreten, mühsamen und langfristig ausgerichteten kleinen Schritte der politischen Einflussnahme – aus der Perspektive von Jugendlichen, die selbst noch keine Wähler/innen sind, sich aber mutig und selbstbewusst einmischen wollen, um die Zukunft in ihrem Sinne zu gestalten.

Für diese Zielgruppe bietet dieses Buch geradezu eine Füllhorn an praktischen und alltagsnahen Anregungen. Man könnte ohne Übertreibung sagen: Dieses handliche und preiswerte Buch könnte ein unverzichtbares Standardwerk für die internationale Jugendbewegung werden.

“Bewusstsein – Bekenntnisse eines Hirnforschers” von Christof KOCH

KOCH ist ein international renommierter Wissenschaftler, der an den besten Forschungseinrichtungen der Welt mit den klügsten Experten gearbeitet hat. Das weiß er, und das zeigt er auch.
Überhaupt ist dieses Sachbuch, das sich an ein interessiertes und vorgebildetes Publikum wendet, zugleich ein sehr fachliches und sehr persönliches Buch. Dieser Mensch nimmt auch sich und seine Biografie wichtig – tut das aber nicht (nur) aus Eitelkeit, sondern schafft damit einen Bezugsrahmen für die Themen, die in bewegen und für die Auswirkungen seiner Erkenntnisse auf seine private Weltsicht.

Wie macht unser Gehirn das Bewusstsein? Lohnt es sich überhaupt, diesem Geheimnis auf die Spur kommen zu wollen? Wie weit führt die Entzauberung des Menschen, wenn ich selbst seine höchsten geistigen Leistungen, seine Entscheidungen und seinen Willen als Ergebnis von physiologischen (elektro-chemischen) Vorgängen betrachte? Haben vielleicht schon Tiere ein Bewusstsein – und was würde das bedeuten? Welchen Platz haben bei all dem noch traditionelle Menschenbilder oder gar der göttliche Einfluss?

KOCH ist dem inneren Antrieb gefolgt, den Fragen nach der Quelle für das Bewusstsein ohne Tabus nachzugehen. Er hat dabei viel gewonnen, aber auch etwas verloren, u.a. den Glauben an einen persönlichen Gott. Es wird deutlich, dass sein Leben dadurch nicht an Sinn, Erfüllung oder Tiefe verloren hat. KOCH sucht und findet auch intensive Erfahrungen außerhalb der Labore.
Doch in erster Linie sind es die gewonnenen Erkenntnisse über die unglaubliche Komplexität der neuronalen Funktionen und Netzwerke, die sein Leben bereichert haben. Und genau das versucht der Autor, uns in diesem Buch mitzuteilen, indem er uns auf eine Reise durch sein Leben mitnimmt.

Im Buch wechselt die Perspektive zwischen einer persönlichen, einer eher grundsätzlichen Betrachtungsebene und der akribischen Darstellung von Experimenten und Befunden. Dieser Perspektivwechsel macht es dem Leser leichter, sich auf die Zumutungen der wissenschaftlichen Details einzulassen. Nach und nach führt KOCH tiefer in das Innere des Gehirns und seiner Funktionen und vergrößert damit auch die Komplexität der angebotenen Information – bietet aber immer wieder erklärende und einordnende Begleitung an.
Man erfährt viel über die Aussagekraft von Träumen, Tierexperimenten und spezifischen Verletzungen und Erkrankungen des menschlichen Gehirns. Eindrucksvoll wird belegt, wie viel in unserem Nervensystem passiert, ohne dass wir uns dessen bewusst wären – zum Glück, denn ohne Filterung und Voranalyse wären wir hoffnungslos überfordert und völlig lebensunfähig.

Auch philosophisch höchst interessant sind KOCHs Betrachtungen zum Determinismus und zur Willensfreiheit. Natürlich findet auch KOCH, der bis in die Unschärfe der Quantenphysik eintaucht, nicht die Wahrheit zu diesen Menschheitsfragen; er schlägt aber pragmatische Lösungen bzw. Umgangsweisen vor, die sich von vielen anderen eher oberflächlichen Thesen angenehm unterscheiden. Er traut sich, bis an die Grenze des Denkbaren zu denken, und geht dann wieder einen halben Schritt zurück – damit es sozusagen lebbar bleibt. Respekt!

Gegen Ende stellt der Wissenschaftler eine schon fast metaphysische Sichtweise des Bewusstseins zur Diskussion, in Form eines in aller Materie bzw. im gesamten Kosmos angelegten Ur-Bewusstseins. Natürlich wird auch die Frage diskutiert, ob und ab welcher Komplexitätsstufe auch künstliche Systeme Bewusstsein entwickeln können oder unvermeidbar werden.
Das alles ist intellektuell anregend; man muss sich dabei nicht jeden Gedanken zu eigen machen.

Am ehesten findet sich die ultimativ-vorläufige Antwort auf die Frage nach dem Bewusstsein letztlich im Prinzip der integrierten Information. Er stellt ein (gedankliches und mathematischen) Modell vor, dass sogar schon eine konkrete Anwendungsmöglichkeit gefunden hat: So können unterschiedliche Bewusstseinszustände bei schwerkranken Patienten auf dieser Grundlage offenbar recht zuverlässig unterschieden werden.

Falls noch jemand zweifelt: Unser Bewusstsein verschwindet (spätestens) mit unserem Tod. Bis dahin können wir allerdings (u.a.) noch viel über uns und die Welt erfahren und lernen – z.B. aus solchen faszinierenden Büchern wie diesem.

“Der EGO-Tunnel” von Thomas METZINGER

Der etwas fetzige Titel könnte täuschen: Es geht hier nicht um einen Science-Fiktion-Thriller, sondern um ein inhaltsschweres Sachbuch. Der Untertitel klärt das dann aber auf.

Meine ungebremste Begeisterung für dieses Buch lässt sich – natürlicherweise – nicht von meiner Vorgeschichte und damit von meiner Motivation trennen. Die Frage, wie Gehirn und Bewusstsein zusammenhängen, beschäftigt mich seit Jahrzehnten – psychologisch, philosophisch und immer stärker auch neurowissenschaftlich.

Im Rahmen der Fortschritte der Hirnforschung (bildgebende Verfahren, Computersimulationen, usw.) hat die uralte philosophische Frage, wie der Geist (vor allem das Ich-Bewusstsein) in die physikalischen und biologische Welt kommt, einen ganz anderen Drive aufgenommen. Für immer mehr geistige und psychische Zustände konnten inzwischen physiologische Korrelate nachgewiesen werden – und doch wurde das Bewusstsein selbst von vielen als ein letztes Geheimnis betrachtet, dem man möglicherweise nie auf die Spur kommen könnte.

Zwar gab es schon eine Weile auf beiden Hauptseiten, der Neuro-Wissenschaft und der Bewusstseins-Philosophie, eine Tendenz zur Interdisziplinarität. Mir ist aber tatsächlich verborgen geblieben, dass der Philosoph METZINGER diese Zusammenschau der Perspektiven schon seit einigen Jahren in seiner Person vereinigt – und das auf allerhöchstem fachlichen Niveau.

Der EGO-Tunnel stammt ursprünglich aus dem Jahre 2009, wurde teilweise 2014 überarbeitet. Das erscheint in diesem turbulenten Forschungsbereich schon ein bedenklich langer Zeitraum zu sein. Aber: METZINGERs Buch kann ohne Einschränkungen auch im Jahre 2020 noch als Standardwerk betrachtet werden und reicht mit seinen sehr grundsätzlichen Fragestellungen und Perspektiven noch weit in die Zukunft.

Der Zugang Thema (Gehirn und Bewusstsein) unterscheidet sich auf eine sehr prinzipielle Art von allem, was ich bisher darüber gelesen habe. METZINGER verbleibt nicht bei vagen Andeutungen und Hinweisen auf noch notwendige Forschung. Der Autor bietet ein konsistentes Modell zur Beschreibung und Erklärung des extrem komplexen Zusammenspiels zwischen dem, was in unserem Gehirn abläuft und unserem subjektiven Erleben. Das Tunnel-Modell soll veranschaulichen, dass wir grundsätzlich keinen direkten Kontakt mit der (echten) Außenwelt haben, sondern unser Gehirn uns eine Repräsentation anbietet, die das Ergebnis extrem komplexer Berechnungen und Konstruktionen darstellt. An diesem Prozess arbeiten neuronale Netze mit Milliarden von Verschaltungen, die dann in einem bestimmten zeitlichen Muster miteinander interagieren.
Die Grundthese ist: Bewusstsein entsteht dann, wenn das Gehirn sich sozusagen mit der Repräsentation dieser Repräsentation befasst, was wiederum einen besondere Form der abgestimmten Oszillation der Netzwerke voraussetzt.

Das klingt in dieser Komprimierung nach hohlen Begriffsformeln, wird aber von METZINGER sehr faktenreich und anschaulich abgeleitet. Er führt dabei Beobachtungen und Erkenntnisse aus ganz verschiedenen Bereichen an, so dass der der Eindruck entsteht, dass sein Modell wirklich eine Integration vieler Sichtweisen und Befunde darstellt. Dabei ist durchaus überraschend, dass sich der Autor auch ausführlich mit (insbesondere luziden) Träumen, psychodelischen Drogen, außerkörperlichen Erfahrungen und psychiatrischen Erkrankungen befasst. Im Mittelpunkt stehen jedoch zielgerichtete Experimente an Tieren und Menschen, die u.a. deutlich machen, dass Bewusstsein durchaus etwas ist, was eine stufenweisen evolutionären Entwicklung durchlaufen ist. Geraden die verschiedenen (Vor-)Stufen des Ich-Bewusstseins schaffen ein Verständnis davon, wie eben doch alles logisch aufeinander aufbaut – ganz ohne einen “Göttlichen Funken”.

METZINGER ist kein Wissenschaftler im Elfenbeinturm; ganz im Gegenteil!
Im letzten Teil des Buches beschäftigt er sich mit den weitreichenden gesellschaftlichen Folgen der sich gerade vollziehenden Revolution der Bewusstseins-Wissenschaften. Dabei geht es nicht nur um die zu erwartenden Anwendungen und Risiken (Werbung, Medizin, Militär, Bildung, Selbstoptimierung, usw.), sondern auch sehr grundsätzlich um die Auswirkungen, die die “Entzauberung” des Bewusstseins für das Selbstbild des Menschen haben könnten. METZINGER hält es einerseits zwar für unvermeidbar und auch wünschenswert, dass sich eine rationale, naturalistische Sichtweise des Mensch-Seins entfaltet, sieht es aber auch als notwendig an, die “überholten” Konzepte (Gott, Seele, Leben nach dem Tod) durch etwas anderes zu ersetzen. Sein Ziel ist nicht ein kruder sozialdarwinistischer Nihilismus, sondern eine Bewusstseinskultur, die größtmögliche Autonomie und Redlichkeit beinhaltet und den Zugang zu einer säkularen Spiritualität ermöglicht (z.B. durch Meditationsunterricht in den Schulen).

Ein grandioses Buch, von dem man lange zehren kann.
Inhaltlich, sprachlich und didaktisch ein Meisterwerk.

YouTube macht klug

Für viele Digital-Kritiker (insbesondere aus meiner Generation) ist diese Aussage eine mittlere Provokation. Haben diese aufgeklärten Menschen doch inzwischen mitbekommen, welch kruder Schwachsinn und welche brandgefährlichen Inhalte in diesem größten Videokanal der Welt dargeboten werden. Spätestens wenn man erfahren hat, dass manche grell-geschminkten Teenies (sog. “influencer”) Millionen damit verdienen, dass sie Pakete mit bestimmten Kosmetik-Artikeln oder Textilien vor der Kamera auspacken, sollte man ja mit diesem Medium fertig sein – so die Schlussfolgerung.

Perspektivwechsel.
Als technik- und medienaffiner Mensch habe ich inzwischen so etwas wie eine persönliche Geschichte mit der Plattform “YouTube”.

Angefangen hat es wohl im Musik-Bereich. Während ich noch darüber nachdachte, wann ich wohl meine auf VHS-Bändern gesammelten Aufzeichnungen von irgendwelchen Rock-Konzerten digital archivieren könnte (das “Wie” war mir natürlich längst bekannt), stieß ich bei YouTube auf ein fast grenzenloses Angebot aus allen Epochen der 50-jährigen Rockgeschichte. Wahnsinn!
Dazu kam, dass bestimmte Musikstücke, die ich auf kleinem anderen Medium mehr finden konnte, oft auf YouTube präsent waren – einfach hinterlegt zu irgendeinem Standbild (meist dem Plattencover).

Deutlich später nahm ich dann zur Kenntnis, dass YouTube eine nahezu unendliche Quelle für lebenspraktische Informationen ist. Ein Tipp kam von meinem Sohn, indem er mich darauf hinwies, dass man in seiner Welt das korrekte Knüpfen eines Krawatten-Knotens nicht mehr von seinem Vater sondern aus einem YouTube-Video lernen würde.
Seitdem habe ich mir immer mal wieder etwas demonstrieren lassen, was ich selbst nicht auf Anhieb verstanden bzw. hinbekommen habe (kleine Reparaturen, technische Funktionalitäten, usw.).

Natürlich wollte ich dieses Medium nicht nur passiv nutzen. Für jemanden, der seit Jahrzehnten private Videos (in gefühlt 12 verschiedenen Formaten) herstellte, lag es nahe, auch mal etwas Eigenes hochzuladen und dann als Teil des World Wide Web zu bestaunen. Das führte übrigens zu meiner ersten (und einzigen) Abmahnung, weil ich eine kurze Szene auf Langlauf-Skiern mit einem (recht unbekannten) Song unterlegt hatte.

YouTube bekam dann irgendwann auch die Funktion einer riesigen Mediathek, in der ich verpasste oder früheren TV-Inhalte wiederfand – bevor die offiziellen Mediatheken der Sendeanstalten zum selbstverständlichen Standard wurden.

Durch das Wiederaufleben meines Schlagzeug-Spielens (nach nur 40 Jahren Pause) wurde das mit der Musik und dem Erklären der Welt auf einmal sehr konkret: Ich konnte – total fasziniert – entdecken, dass für fast jeden halbwegs bekannten Songs Lehr-Videos zu finden waren, in denen Drummer ihr “Mitspielen” dokumentiert hatten (teilweise mit mehreren Kameras zum Nachvollziehen jeder Hand- und Fußbewegung). Irre!
Natürlich sind auch jede Menge didaktisch aufbereitete Unterrichtseinheiten zu finden.
(Wenn ich das mit 16 gehabt hätte, wäre vielleicht heute eine Sammlung von Goldenen Schallplatten an meiner Wand).

Jetzt komme ich zur Gegenwart und damit zum Thema:
Zwar wusste ich schon länger, dass sich Schüler/innen komplexe Unterrichtsinhalte (vorrangig Mathe) lieber von YouTubern als von ihren Eltern oder Geschwistern erklären lassen. Aber die ganz persönlichen Erfahrung der letzten Tage war doch sehr viel beeindruckender:
Ich habe mich (mal wieder) meinem Lieblings-Thema zugewandt: dem Zusammenhang zwischen Gehirnaktivitäten und Bewusstsein. Bei meinen Recherchen (z.B. auf Amazon – wo ich natürlich nur noch selten kaufe) stieß ich auf bestimmte Namen von Buchautoren. Auf Wikipedia fand ich dann Links zu Veröffentlichungen und zu Vorträgen, die – welche Überraschung – natürlich auf YouTube abgelegt sind.
Seitdem bewege ich mich in einer bisher verborgenen akademischen und wissenschaftlichen Welt und höre den besten Forschern und Hochschullehrern zu. Ich nehme Platz in Uni-Hörsälen und in Auditorien von wissenschaftlichen Kongressen. Und bei jedem Klick auf ein Video tauchen rechts Hinweise auf ähnlich interessante Beiträge auf.
Wo soll das enden?

Ja, ich weiß: YouTube ist auch voller Dummheit, billigem Kommerz und Hass.
Mich macht es aber gerade (ein wenig) schlauer.
Damit ich selbst Übersicht bewahren und für andere ein paar gezielte Anregungen geben kann, werde ich in nächster Zeit auf einer neuen Seite dieses Blogs eine kommentierte Übersicht meiner Lieblings-Videos posten und dann kontinuierlich pflegen.

Und was ist mit Corona?

Vor einigen Monaten war die Corona-Pandemie ein wesentlicher Grund dafür, dass es mir sinnvoll erschien, täglich einen Blogbeitrag zu posten: Wie sollte man sonst hinterherkommen, das alles erfassen und bewältigen?
Schon dieser kleine Rückblick macht deutlich, wie sehr sich die Situation und die Wahrnehmung derselben verändert hat.

Corona hat seinen unmittelbaren Schrecken verloren, es ist kalkulierbar geworden, man kennt die Parameter, mit deren Hilfe man es managen kann. Die Berichte und Kommentare beziehen sich kaum noch auf das Virus und seine Eigenschaften, sondern auf die unterschiedlichen Schutzmaßnahmen bzw. die damit verbundenen Konflikte und auf die wirtschaftlichen Folgen bzw. die Versuche deren Linderung.

Kann sich noch jemand an die Tage erinnern, in denen man durchaus ernsthaft darüber nachdenken konnte, wie weit wohl der Zusammenbruch von Versorgungssystemen gehen könnte? Für welchen älteren Menschen ist noch das unmittelbare Bedrohungsgefühl präsent, das von den ersten Schätzungen der Todesraten ausging?

Wir haben inzwischen eine Situation, in der wieder deutlich mehr Kontrollgefühl besteht. Viele Menschen verringern ihr Infektionsrisiko auf eine selbstverständliche und ganz leise Art: Sie meiden Menschenmengen und überhaupt Kontakt zu (fremden) Menschen in (engen) Räumen, tragen Masken und halten Abstand (ja, sie waschen auch noch die Hände; aber das ist vergleichsweise nebensächlich).
Im Gegensatz zu dem social distancing der ersten Wochen haben die meisten inzwischen erweiterte Bezugsgruppen gebildet, innerhalb derer sie sich wieder halbwegs normal bewegen – wenn auch vielleicht mit weniger direktem Körperkontakt. Das kann die erweiterte Familie sein, die engsten Freunde oder vertraute Arbeitskollegen. Dabei gilt oft eine unausgesprochene Hoffnung bzw. Erwartung: “Wir sind ja alle vorsichtig und verhalten uns auch in unseren anderen Bezügen verantwortlich.”

Für diese Gruppe von Mitbürgern ist Corona sicher auch lästig und manchmal auch eine Zumutung – aber eine zumutbare Zumutung: “Wenn das der Preis dafür sein sollte, dass wir die Intensivstationen und Friedhöfe weitgehend schonen können, dann haben wir doch letztlich Glück gehabt!”
Genau dieser Gruppe von (eher älteren) Menschen haben wir es alle zu verdanken, dass die Zahlen so sind, wie sie sind. Und dass einige andere sich den Luxus leisten können, etwas leichtsinniger zu sein.

Anfangs erschien es so, als ob der Virus die ältere Generation extrem benachteiligen würde, wegen des höheren Risikos schwerer Verläufe. Heute könnte man sagen: Es gibt so etwas wie einen Ausgleich. Von den (immer noch bestehenden) Einschränkungen sind nämlich junge Leute (im Durchschnitt) deutlich mehr betroffen: bei Veranstaltungen und Konzerten, beim Ausgehen, beim Daten, beim Reisen.
Man kann es wirklich nicht bestreiten: einem 60- oder 70-jährigen Menschen fällt in der Regel ein corona-konformes Alltagsleben deutlich leichter als einem 25-jährigen.

Was zu meiner persönlichen Bilanz am Ende dieses Corona-Sommers führt: Ich bin dankbar und recht zuversichtlich bzgl. der eigenen Situation.
Zu den politischen und gesellschaftlichen Tendenzen äußere ich mich demnächst.

“Die Pest” von Albert CAMUS

Eine schwierige Aufgabe! Ein Werk der Weltliteratur (1947), das durch die Corona-Pandemie eine enorm gesteigerte Aktualität und Beachtung erfahren hat. Es wäre inzwischen ein unmögliches Unterfangen, beim Lesen und bei der Würdigung dieses Textes keine Gegenwarts-Bezüge herzustellen.

Ich werde erst gar nicht versuchen, etwas zu der literarischen Bedeutung dieses berühmtesten CAMUS-Romans zu sagen. Das kann man sich an vielen anderen Stellen von sehr viel berufeneren Menschen holen.
Meine kleine Bewertung wird daher eine rein persönliche sein.

Der Ausbruch der Pest führt zu einer Art Belagerungszustand in einer Algerischen Hafenstadt, deren Verbindung zur Außenwelt ca. für ein Jahr gekappt wird. Der Roman beschreibt den Verlauf dieser todbringenden Seuche aus der Perspektive einiger Hauptfiguren, die in unterschiedlicher Form mit dem Versuch befasst sind, die Folgen dieser Heimsuchung für sich und andere zu bewältigen.

Der Text ist nahe an den beteiligten Person; am Ende gibt sich der im Mittelpunkt stehende Arzt als Verfasser dieser Chronik sozusagen offiziell zu erkennen. Es werden also subjektiv gespiegelte Ereignisse und Prozesse dargestellt. Dem anonymen Massensterben wird so das Schicksal und das Empfinden konkreter Personen gegenübergestellt, die ganz bewusst als Zeitzeugen auftreten. Inszeniert wird also eine persönliche Geschichtsschreibung.

Vieles an diesem Text erscheint aus heutiger Sicht altmodisch, z.B. die Förmlichkeit des Umgangs auch in sehr vertrauten Beziehungen und die – heute kaum noch vorstellbare – Einschränkung in der Kommunikation mit der Außenwelt. Natürlich merkt man auch der Sprache selbst an, dass sie aus der Mitte des letzten Jahrhunderts stammt.
Andere Aspekte sind zeitlos:
– die typische Abfolgen von emotionalen Reaktions- und Bewältigungsmustern hinsichtlich einer neuen Bedrohung,
– Beschwichtigung und Verantwortungsdiffusion bei Verwaltung, Experten und Politik,
– menschliche Größe in Form von Solidarität, Pflichtgefühl und grenzenlosem Engagement bis zur Selbstaufgabe,
– die Bedeutung von kleinen vertrauten Netzwerken, ohne die das Elend unerträglich wäre.

Letztlich sind die in diesem Buch literarisch kunstvoll dargestellten menschlichen Erfahrungen und Handlungsoptionen auf jede Form von extremer Bedrohung oder unkontrollierbarem Leid anwendbar. So wurde gelegentlich vermutet, dass CAMUS die Pest als Parabel für die Unmenschlichkeit des Krieges benutzt hat.

Man muss diesen Roman sicher nicht deshalb lesen, um die aktuelle Corona-Pandemie besser zu verstehen bzw. einzuordnen. Das wäre auch eine unzulässige Degradierung dieses hochgelobten Werkes.
Doch wenn man literarisch und philosophisch interessiert ist und sowieso eine Motivation verspürt, einige der ganz großen Werke endlich mal selbst zu lesen, dann ist genau jetzt sicher ein sehr geeigneter Zeitpunkt für CAMUS.