“Der erste letzte Tag” von Sebastian FITZEK

Bewertung: 2.5 von 5.

FITZEK traut sich was!?
Er hat sich als Autor von geschickt konstruierten Thrillern eine große und treue Fangemeinde erschrieben. Leider hat er ein offenbar nie endendes Vergnügen daran, seine Stories mit brutalen bzw. sadistischen Gewaltschilderungen anzureichern – für mich ein klares No-Go. Um so größer fiel mein Interesse an seinem neuen Buch aus, das den ungewöhnlichen Untertitel trägt: Kein Thriller.
(Natürlich hatte diese Entscheidung für ihn kein Risiko: Seine Fans werden ihm auch dieses Buch geradezu aus den Händen reißen).

Die Geschichte wird aus der Perspektive eines werdenden Vaters erzählt, der auf dem Weg zu der Versöhnung mit seiner Partnerin einen Tag lang in ein Strudel von absurden Situationen gerät. Verantwortlich dafür ist eine Zufallsbekanntschaft, aus der sich wegen widriger Umstände eine Fahr- und damit Schicksalsgemeinschaft ergibt.

Das Buch beseht zu ca. 92% aus Darstellung der Situationskomik, die sich mehr oder weniger zwangsläufig aus den völlig abgedrehten Entscheidungen der jungen Frau ergeben, Der Rest kann als gut gemeinte Lebensweisheit abgebucht werden (“was im Leben wirklich wichtig ist…”).

Als Leser drängt sich mir der Eindruck auf, dass FITZEK das Prinzip der Situationskomik grundsätzlich missverstanden hat: Statt “normalen” Alltagssituationen eine Komik abzugewinnen, konstruiert der Autor am laufenden Band Absurditäten, die dann eine sehr “gewollte” Komik schon fest eingebaut haben. Das wirkt ziemlich banal und platt.
Noch nervender wird diese Strategie durch die angestrengt witzige Sprache, die in jeder Formulierung nach schenkelklopfenden Applaus schmachtet. Als ob mehr immer besser wäre.

Natürlich gibt es auch in diesem “Nicht-Thriller” am Ende überraschende Wendungen. FITZEK ist schließlich FITZEK und muss einen Ruf verteidigen. Ohne diesen Schluss wäre wohl diese Story auch allzu peinlich gewesen; da hätte wohl irgendjemand auch einen Bestseller-Autor mal gestoppt.

Trotzdem ist es nur ein sehr begrenztes Lesevergnügen geworden.
Es macht eben einen Unterschied, ob der Stephen KING, der Meister des Horrors, das Genre wechselt – und immer noch ein genialer Erzähler bleibt, oder ob ein FITZEK etwas Ähnliches versucht – und grandios scheitert.

“Die 100 besten Eco Hacks” von Katarina SCHICKLING

Bewertung: 4.5 von 5.

Hier ist drin, was drauf ist!
Das handliche (und preiswerte) Taschenbuch verspricht alltagsbezogene Tipps für eine nachhaltige Lebensweise. Und die erhält man auch; nicht mehr, aber auch nicht weniger.

SCHICKLING legt einen praktischen Ratgeber vor, der wie ein Nachschlagewerk funktioniert. Hier wird kein Basiswissen über Klimawandel, Ressourcenverschwendung oder Artensterben vermittelt. Es geht klar und komprimiert zur Sache: Welche Alternativen haben welche Vor- und Nachteile?
Strukturiert wird in 100 Kurzkapitel, die den Themenbereichen Ernährung, Verpackung, Mobilität, Energie und Konsumgüter (Hygiene, Putzen, Recycling…) zugeordnet werden. Alles wird auf ein bis zwei Seiten so aufbereitet, dass eine Entscheidung möglich ist. Erreicht wird das durch einen thesenartigen Aufbau des Textes: die Aufzählungen ersparen Füll- und Zwischentexte. Hier sollen schließlich keine Geschichten erzählt werden.

Natürlich muss bei einer solchen Herangehensweise Komplexität reduziert werden. Aber genau darum geht es in diesem Buch. Nach einem kurzen Überblick kann man entscheiden, welche Variante für einen selbst in Frage kommt. Kein Mensch wird 100 Ökofragen ohne Kompromisse beantworten. Da schimpft dann übrigens auch niemand! SCHICKLING verzichtet in ihrem Ratgeber vollständig auf den moralischen Zeigefinger.
Die Grundmotivation in Richtung Nachhaltigkeit kann problemlos vorausgesetzt werden.

Zwar werden unter jedem Stichwort Antworten gegeben; es wird jedoch nicht der Eindruck erweckt, alle Detailinformationen liefern zu können. Stattdessen wird auf ein große Anzahl weiterführende Links verwiesen. Auch hier liefert die Autorin eine grobe Einordnung, so dass die weitere Recherche schon recht zielgerichtet vonstatten gehen kann.

Nur an wenigen Punkten hätte ich mir vielleicht noch klarere Empfehlungen gewünscht: So werden z.B. verschiedene Milch-Alternativen diskutiert – ohne die klar formulierte Aussage, dass Hafergetränke wohl deutlich gegenüber Soja- und Mandelerzeugnissen zu bevorzugen wären. Aber das sind kleine Nuancen, die den guten Eindruck nicht schmälern.

Dieses kleine Kompendium ist für jeden Haushalt zu empfehlen, in dem sich entsprechende Ratgeber noch nicht stapeln.
Es gibt nur eine Einschränkung: Das Lesen solcher Bücher macht unsere Welt und unser Handeln noch nicht nachhaltiger. Es geht also letztlich um die Umsetzung.
Auch da kann das handliche Format und der schnelle Themenzugriff sicher helfen: “Was wollte ich mir nochmal hinsichtlich des Stromverbrauchs vornehmen….?”

Diversität

Heute ist der offizielle Tag der Diversität. Damit wird auch ein Herzstück GRÜNER Politik thematisiert, denn keine andere relevante Partei verbindet wohl ihre eigene Identität in einem solchen Ausmaß an die positive Haltung zu Vielfalt und Buntheit in unserer Gesellschaft.
In den klassischen GRÜNEN Milieus stellt dieses Thema einen Selbstläufer dar. Der Kampf gegen Diskriminierungen wegen Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Gesundheitsstatus, Alter oder sexueller Orientierung verbindet Alt- und Neu-GRÜNE, Realos und Fundies.

Mit der aktuellen Öffnung zur bürgerlichen Mitte kommt allerdings an einigen Punkten etwas Sand ins Getriebe: Nicht jede/r klimaengagierte potentielle Wähler/in ist so eindeutig mit allen Facetten der Gendersprache verschwestert, der ein oder die andere findet die Differenzierung in mehr als vier oder fünf sexuell-identitäre Subgruppen ein wenig mühsam.

Ein echtes Problem lässt sich auch orten: Die GRÜNEN befürworten einen Gesetzentwurf, in dem für (auch für) Jugendliche die Schwelle zu einer Geschlechtsanpassung massiv gesenkt werden soll. Frei nach dem Motto: “Jeder soll die Geschlechtsidentität frei wählen, verändern und leben dürfen, die dem eigenen Wunsch und Empfinden entspricht.

Das ist sicher erstmal gut gemeint und würde für eine kleine Gruppe von hochbelasteten jungen Menschen eine Entlastung bringen. Und natürlich entspricht es dem modernen Zeitgeist, sich von möglichst vielen Einschränkungen zu befreien, die einer freien Entfaltung der Individualität im Wege stehen.
Also weg mit bürokratischen Hemmnissen, her mit der Selbstbestimmung!?

Man darf da anderer Meinung sein! Denn es geht nicht nur um die (nachvollziehbare) Empathie mit der Leidensgeschichte von jungen Menschen, die sich schon sehr früh und sehr eindeutig “falsch” in ihrem Körper gefühlt haben. Es geht auch um einen Trend, um eine Mode, um einen Hype – rund um das Spiel mit sexueller Identität: da genügt ein Blick ins Internet. Und es geht auch um Menschen, die aus ganz anderen Gründen emotional beeinträchtigt sind und die in dem Transgender-Thema eine Art Anker zu finden meinen (man spreche mal mit – männlichen oder weiblichen – Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten).
Und ein bisschen geht es vielleicht auch um eine Machbarkeits-Ideologie, die in anderen Bereichen durchaus schon kritisch reflektiert wird.

Da sowohl hormonelle, als auch erst recht operative Eingriffe in die biologischen Grundlagen der Geschlechtlichkeit ganz bestimmt nicht mit Piercing, Tattoos oder Schönheitsoperationen zu vergleichen sind, verlangt dieses Thema Vorsicht, fachliches Abwägen und Differenziertheit. Hier kann und darf es nicht darum gehen, die Schwellen für entsprechende Behandlungen so niedrig wie möglich zu machen – selbst wenn das in der lauten bunt-diversen Szene noch so gut ankommen sollte.

Ich erwarte von “meiner” GRÜNEN Partei verantwortungsvolle Entscheidungen auch bei solchen Themen, die so eindeutig positiv besetzt sind wie die Diversität.
Sicher nicht nur aus wahltaktischen, sondern aus inhaltlichen Gründen.


Fairerweise ist anzumerken, dass es in dem aktuellen Gesetzentwurf vorrangig um die rechtlichen Aspekte der Bestimmung des eigenen Geschlechts (inkl. des Vornames) geht.
Trotzdem heißt es dort auch:
Das Recht auf freie Entwicklung der Persönlichkeit entsprechend der Geschlechtsidentität umfasst das Recht, über die Durchführung medizinischer Maßnahmen zur Modifizierung des eigenen Körpers im Hinblick auf Erscheinung und körperliche Funktionen bei vollumfassender vorheriger medizinischer Aufklärung und Einwilligungsfähigkeit selbstbestimmt zu entscheiden.


“Stay Away From Gretchen – Eine unmögliche Liebe” von Susanne ABEL

Bewertung: 4 von 5.

Die Autorin legt einen zeitgeschichtlichen Roman vor, der – wie viele andere solcher Geschichten – auf zwei Zeitebenen spielt. Das hat eine Reihe von Vorteilen: Als Bewohner der Gegenwartsebene fühlt man sich unmittelbar angesprochen, selbst wenn die Haupthandlung vor dem eigenen Erfahrungshorizont stattfand. Noch wichtiger für den Plot ist natürlich, dass durch den Zeitsprung die Auswirkungen früherer Geschehnisse einbezogen werden können. Der entscheidende Zugewinn liegt aber sicher darin, dass die Gegenwartsperspektive infolge der eingebauten Distanz ganz andere Einordnungen der historischen Ereignisse ermöglicht.
Der Roman über Gretchen macht sich alle diese Vorteile zu nutze. Während es zunächst einen wiederholten Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit gibt, werden – auch das ein beliebter erzählerischer Kniff – am Ende die Ebenen die Ebenen zusammengeführt.

Der smarte Chef-Nachrichtenmann eines großen Senders lebt ein hektisches, aber halbwegs zufriedenes Wohlstands-Single-Leben. Wenn da nur nicht die eigene Mutter (Gretchen) von der Alzheimer-Plage befallen wäre. Ausgerechnet in der Phase ihrer nachlassenden Gedächtnis- und Geisteskräfte stößt der Sohn auf das bisher geheime Vorleben seiner Mutter. Plötzlich bekommen bedrückende Kindheits-Erinnerungen an ihre depressive Grundstimmung eine völlig neue Erklärung.
Die Auflösung liegt in Heidelberg. Dort hat sich Gretchen unmittelbar nach dem Krieg in einen farbigen Besatzungs-Soldaten verliebt – so sehr verliebt, dass es nicht nur emotionale, sondern auch biologische Folgen hatte.
Es ist letztlich das Schicksal dieses Kindes (Marie), an dem das Kernthema dieses Romans exemplarisch aufgefächert wird. Als Leser erhalten wir einen tiefen Einblick in einen Aspekt deutsch-amerikanischer Nachkriegsgeschichte, der sonst nicht gerade im Brennpunkt des Interesses liegt. Es geht um Diskriminierung und Rassismus auf beiden Seiten des Atlantiks – vermittelt durch die (alles andere als rosarote) Brille einer betroffenen jungen Familie.

Der besondere Verdienst dieses gut recherchierten Romans liegt darin, die zum Himmel schreiende Widersprüchlichkeit auf beiden Seiten herauszuarbeiten: Die Amis retten Europa vom Rassenwahn der Nazis und stecken gleichzeitig selbst mittendrin in ihrem eigenen Rassismus. Die Deutschen hatten gerade erfahren, wohin die Herrenmenschen-Ideologie führt – und diskriminieren munter weiter die während der Besatzung gezeugten “Mischlings-Kinder”.

Damit keine falscher Eindruck entsteht: Dieser Roman macht nicht Politik oder Ideologie zum Thema, sondern erzählt sehr persönliche Schicksale. Eine Bewertung findet aus der Gegenwartsebene statt (s.o.).
Susanne ABEL geht den Weg der emotionalen Ansprache, der Identifikation, des Mitfühlens, der Empörung. Dabei zieht sie durchaus alle Register, die eine Geschichte üblicherweise anregend, anrührend und spannend machen. Es wird geliebt, es wird unterdrückt, es werden unmenschliche Entscheidungen gefällt, es wird gelitten.
Das Entscheidende ist dabei: Liebe und Glück werden verhindert, werden vorenthalten – durch Bedingungen und Entscheidungen, die auch ganz anders hätten sein können.

Auch in der Gegenwart spielen sich emotionale Dramen ab, allerdings eingebettet in eine System von Versorgung und Sicherheit. Hier ist dann Platz für das ein oder andere komische Element, das ein bisschen Erholung von der Anspannung schafft.

Wenn man will, findet man sicher auch in diesem Roman klischeehafte Erzählmuster. Wenn man als Autorin heftige Emotionen wecken möchte, passieren auch manchmal Dinge oder werden Dialoge geführt, die man bei nüchterner Betrachtung auch “kitschig” finden kann. Ja, es wird auch dick aufgetragen, in dieser Erzählung. Es gibt eine Meng Stoff für das “Herz”. Wem das zu “platt” ist, der/die ist hier verkehrt. Diesen Roman sollte niemand lesen, der/die sich nicht anrühren lassen möchte.

ABEL hat einen intelligenten und aufklärerischen Roman geschrieben, den man auf verschiedenen Leseebenen genießen kann. Es gibt keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Wissenserwerb und feuchten Augen.

“Skin In The Game – Das Risiko und sein Preis” von Nassim Nicholas TALEB

Bewertung: 1.5 von 5.

Dieses Buch ist eine Zumutung. Es pauschaliert, provoziert und polarisiert über alle gewohnten Grenzen hinweg. Der einzige Grund dafür, ihm trotzdem überhaupt Bewertungs-Sterne zu geben, ist die Tatsache, das da auch einen Menge kluger Dinge drin stehen.

Was bringt einen Menschen, einen Autor, dazu, so ein Buch zu schreiben? Ohne Zweifel ist TALEB (ein Finanzmathematiker und Börsenstatistiker), ein hochintelligenter (vermutlich auch hochbegabter) Mensch. Er hat Erfolge als Trader, als Wissenschaftler und als Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher vorzuweisen; ihm ist inzwischen offenbar in seiner Scene eine große Fangemeinde zugetan.
Vor allem aber hat TALEB eine geradezu unbegrenzte Gewissheit, dass seine Erfahrungen und Erkenntnisse über jeden Zweifel erhaben sind. Und er wird von der Mission getrieben, die Welt an seiner Weisheit teilhaben zu lassen.

Worum geht es eigentlich:
TALEB wertet in diesem Buch seine jahrzehntelangen Erfahrungen in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft und der Wissenschaft aus und fasst sie unter einem Motto zusammen: “skin in the game”. Er ist überzeugt davon, dass man nur Menschen ernst nehmen sollte, nur Akteuren trauen sollte, nur auf Systeme setzen sollte, bei denen es einen klaren Zusammenhang zwischen Entscheidungen bzw. Handlungen und dem Eingehen eines eigenen Risikos gibt. Nur das Eingehen eines tatsächlichen (in der Regel finanziellen) Risikos stellt seiner Meinung nach sicher, dass jemand mit vollem Einsatz, voller Überzeugung und mit Verantwortungsbewusstsein tätig ist.
TALEB ist also auf der Seite der Macher, der Entscheider, der Unternehmer, die einen eigenen Einsatz machen, die zu scheitern bereit sind. Solche Leute – so TALEB – bringen die Welt, die Wirtschaft und das eigene Vermögen nach vorne.
Natürlich ist TALEB einer von diesen Helden!

Wenn TALEB etwas mag und richtig findet, dann gibt es auch gegenüber ein klares Feindbild. Und Feinde sammelt der Autor so leidenschaftliche wie altgediente Generäle ihre Orden.
Es bereitet TALEB ein offenbar nie endendes Vergnügen, alle “irrelevanten” Berufsgruppen bzw. alle Anhänger von abweichenden Theorien bzw. Überzeugungen pauschal abzuwerten. Egal ob es “schwafelnde” Sozialwissenschaftler oder Psychologen, “überflüssige” Hirnforscher, “Bullshit produzierende” Journalisten oder Rezensenten, von seiner Lehre unbeleckten Statistiker oder einfach nur “ahnungslose und überflüssige” Angestellte in Verwaltung oder Firmen sind: Im Zweifelsfalle sind es es alle Idioten!

Dieser Kampf gegen die verhasste Welt der Mitläufer ohne unternehmerische Verantwortung geht so weit, dass es dem geneigten Leser immer mal wieder schwer fällt, vor lauter Geschützdonner und Pulverdampf noch der inhaltlichen Argumentation zu folgen.
Taleb deckt ohne Zweifel interessante Zusammenhänge und Widersprüche auf; manche davon sind vielleicht auch zu komplex für ein einmaliges lesen (oder hören). Letztlich bliebt aber den Eindruck, dass der Stil die Inhalte dominiert, geradezu erdrückt.
Die grenzenlose Selbstgewissheit des Autors als “ironischen-lockeren Schreibstil” zu bewerten (wie einige professionelle Kritiker das tun), ist schon ein echtes Kunststück.

Wenn der Autor seine Scharz/Weiß-Schablone (oder auch “gut/böse”) auf Bereiche anwendet, in denen man als Leser selbst eine gewisse Expertise hat, dann erscheint das vermeintliche Genie auf einmal ziemlich nackt: So macht sich TALEB z.B. über die Zunft der Hirnforscher deshalb lustig, weil sie – angeblich – nur die Funktionsweise einzelner Nervenzellen immer genauer erforschen wollten. Da traut man seinen Augen (Ohren) kaum!

Ich kann dieses Buch wirklich nur denjenigen empfehlen, die schon wissen, auf wen sie sich da einlassen. Vermutlich gibt es die passende Zielgruppe, der dieser selbstverliebte Tausendsassa aus der Seele spricht, wo man sich angesichts der rausgehauenen Beleidigungen vor Lachen auf die Schenkel klopft.
Ich fühle mich auf der “anderen” Seite wohler, in der Welt der Zwischentöne und des Abwägens.

Die Hörbuch-Bearbeitung des Sachbuchs ist außerordentlich gut gelungen. Der Vorleser (Steffen Groth) trifft den provokanten und selbstgefälligen Tenor des Buches so gut, dass man sich unschwer vorstellen könnte, den Autor selber zu hören. Respekt!

“Unzertrennlich” von Irvin D. YALOM und Marilyn YALOM

Bewertung: 3.5 von 5.

Das Liebes- und Ehepaar YALOM verabschiedet sich. Von einander, von einem großen Freundes- und Bekanntenkreis, von der internationalen Fachwelt, von Millionen treuer Leser und Anhänger. Anlass für diesen Abschied ist eine tödliche Krankheit von Marilyn, deren Verlauf und Folgen zunächst von beiden, nach dem Tod dann von Irving alleine beschrieben und reflektiert werden.
(Ich benutze im Text die Vornamen, weil es zu der extrem persönlichen Grundfärbung des Buches passt).

Der Name Irvin YALOM ist nicht nur in psychotherapeutischen Fachkreisen international bekannt; er hat eine Reihe von Romanen geschrieben, in denen er einem breiten Publikum grundsätzliche Erkenntnisse und Anregungen zu einem erfüllten Leben vermittelt hat.
Marilyn hat als feministisch-orientierte Literaturwissenschaftlerin ebenfalls seit Jahrzehnten eine öffentliche Präsenz.

Das Paar setzt mit diesem Buch in erster Linie der Beziehung selbst ein Denkmal. Hier haben sich zwei kreative und intellektuelle Persönlichkeiten schon im Jugendalter kennen- und lieben gelernt und es geschafft, sich bis ins hohe Alter auf eine Art zu begleiten, zu fördern, zu inspirieren, die für viele Menschen – sowohl im Umfeld als auch in weiten fachlichen und literarischen Kreisen – zu einem Modell einer Idealbeziehung geworden ist.

Das Buch setzt sich aus zahlreichen Facetten zusammen. Es beinhaltet:
– eine Art medizinisches Tagebuch über den Verlauf der Erkrankung, die Wirkung und Folgen der Behandlungsmaßnahmen,
– einen Einblick in die Gestaltung des Zusammenlebens in den letzten gemeinsamen Monaten,
– die Schilderung der Begleitung und Anteilnahme durch die Angehörigen und ein geradezu riesiges soziales Netzwerk,
– Rückblicke auf die Beziehungsgeschichte und Stationen eines extrem erfüllten gemeinsamen Lebens,
– die Darstellung der inneren Ambivalenz Marilyns zwischen dem Kampf um das Weiterleben (zuletzt mehr für Irving als für sich selbst) und ihrer wachsenden Bereitschaft, dem leidvollen und aussichtslosen Krankheitsprozess ein selbstbestimmtes Ende zu setzen,
– eher allgemeine Reflexionen (schwerpunktmäßig von Irvin) über das Alter, die Angst vor dem Tod, die Furcht vor der Einsamkeit des Zurückbleibenden) wobei der Autor zunehmend auch auf eigene frühere Werke zurückgreift),
– den schrittweisen Abschied von Irvin von seiner Berufung als Psychotherapeut (als Teil eines deutlich spürbaren Altersabbaus),
– die Beschreibung (und Reflexion) des Alltagslebens von Iriving in den ersten Monaten als Witwer).
Alle diese Themen sind durchzogen von immer wieder neuen Bekundungen des gegenseitigen Respekts, der gegenseitigen Bewunderung und der geradezu unendlichen gegenseitigen Liebe.

Was ließe sich Kritisches sagen zu einem Buch mit solch berührenden, existenziell-bedeutsamen Inhalten? Müsste man nicht einfach nur ergriffen und begeistert sein, weil man an den (Selbst-)Erkenntnissen von solch besonderen Menschen teilhaben darf?
Nun, außerhalb des echten Fan-Kreises (der sich ja stärker um Irvin gebildet hat) könnte man schon zu dem Eindruck kommen, dass es vielleicht doch von allem etwas zu viel ist. Einfach eine Schicht zu dick aufgetragen. So wird aus gelungener Liebe ein einzigartiges Monument, aus einer klugen, fürsorglichen und inspirierenden Frau fast eine Heilige, aus guten Sozialbeziehungen geradezu ein Meer von innigen Freundschaften.
Es gibt Stellen in diesem Buch, die so persönlich und detailliert sind (Medikamente, einzelne Freundschaftsbeziehungen), dass sie doch eher für ein persönliches Umfeld als für die breite Öffentlichkeit eignen.
Die Passagen, in denen Irvin beschreibt, wie hilfreich für ihn das Lesen seiner eigenen literarischen Werke ist, wirkt auch ein wenig selbstverliebt (“wie klug ich doch schon früher war”).

Zusammengefasst: Wer YALOM schon lange für sich als Quelle von tiefen Erkenntnissen oder fachlichen Anregungen entdeckt hat oder Interesse an dieser so fruchtbaren Ausnahmebeziehung hat, wird dieses Buch mit großem Genuss und tief bewegt lesen.
Auch für diejenigen, die sich mit der partnerschaftlichen Gestaltung des Lebensendes auseinandersetzen, bietet das Buch bedeutsame Anregungen (wenn man sich nicht dadurch irritieren lässt, dass alle Rahmenbedingungen bei den YALOMs so unfassbar optimal sind).
Für weniger “betroffene” Leser/innen könnte sicher auch der Eindruck entstehen, dass hier etwas eigentlich sehr Privates sehr öffentlich zelebriert wird.
Über das Ende ein (weitgehend) gemeinsames Buch zu schreiben, passt auf diese Personen und diese Beziehung sicher perfekt. Diese Möglichkeit, eigene Ängste und die eigene Verzweiflung in einer solchen Form – geradezu als Selbsttherapie – zu verarbeiten, steht sicherlich nur wenigen Menschen offen.

Es ist gerade so viel GRÜN hier…

Es knubbelt sich ein wenig, Es herrscht Aufregung. Die Themen überschlagen sich.
Eins sollte aber klar sein: Das alles ist nur ein Vorgeschmack!

Schon Anfang der Woche gab es einen Schocker: Die CDU hat das Wahlprogramm der GRÜNEN als heimtückischen Fliegenpilz entlarvt!
Da hat man doch – keiner konnte es ahnen – tatsächlich bei genauerem Studium herausgefunden, dass ein GRÜNES Programm auch GRÜNE Inhalte und Forderungen beinhaltet. Ein echter Skandal!
Da stehen tatsächlich Dinge drin, die nicht alle in der CDU/CSU toll finden!
Gut, dass sie jetzt die Bevölkerung warnen. Die hätte sonst vielleicht geglaubt, es handele sich um das als vermisst gemeldete Programm der Union…
Gemein ist außerdem: Die GRÜNEN bringen es offenbar fertig, völlig beliebig und unkonkret zu sein – und gleichzeitig Dinge zu fordern, die den Untergang des Abendlandes einläuten könnten. Das scheint ein verhexter Fliegenpilz zu sein! (Kein Wunder, bei dem Frauenanteil….).

Fertig mit Satire.
Habeck hat sich getraut, die Thema GRÜN/ROT/ROT anzusprechen. Der Knackpunkt ist natürlich die Regierungsfähigkeit der LINKEN, die sich insbesondere im Bereich der Außenpolitik entscheidet. An diesem Punkt geht es ums Eingemachte, weil die Strategie aller anderen Parteien sich darauf konzentrieren wird, die tiefe Abneigung des bürgerlichen Lagers gegenüber den LINKEN zu nutzen.
Das Ziel ist klar: Man will die Optionen der GRÜNEN so weit einschränken, dass die Leute aus Sorge vor einem Chaos bei der Regierungsbildung gleich etwas anderes wählen.
Fallen die LINKEN aus, bliebe (außer dem unsicheren Jamaika) nur GRÜN/Schwarz (oder Schwarz/GRÜN). Hier hat die CSU sinniger Weise heute die Zange von der anderen Seite angesetzt: Wenn die CSU sich nämlich weigert, in eine GRÜN geführte Koalition einzutreten, hoffen sie darauf, dass dann die Wähler lieber die CDU/CSU stark machen (was dann ja Schwarz/GRÜN ermöglichen würde). Das ist übrigens ziemlich ungeheuerlich: Eine Koalition davon abhängig zu machen, dass man der stärkere Partner wird. So macht man ein Land tatsächlich unregierbar!
Zurück zum Anfang: Die GRÜNEN können gar nichts anderes tun, als den LINKEN klare Bedingungen zu stellen (vielleicht sogar mit der klammheimlichen Hoffnung, dass diese nicht erfüllt werden…).

Bleibt Boris Palmer.
Ich will jetzt nicht darüber schreiben, wann Rassismus anfängt. Da bin ich vermutlich vom GRÜNEN Mainstream ein bisschen entfernt. Mir geht es eher um (Selbst-)Disziplin.
Kann man/frau nicht in einer solch politisch so bedeutsamen Situation erwarten, dass beteiligte Menschen sich auch dann zurücknehmen, wenn sie sich uneingeschränkt im Recht fühlen (und es vielleicht sogar in Teilaspekten auch sind)?
Geht es vielleicht gerade um größere Fragen!? Um die Chance, die deutsche Politik stärker zu prägen, als dies für viele bisher vorstellbar war!?
Man wird nicht jeden Widerspruch lösen können, man muss auch mal Ungereimtheiten ertragen, man muss auch mal was runterschlucken – zumindest öffentlich.
Palmer hat seiner eigenen Sache keinen Dienst erwiesen; er hat (durch geplante Provokation oder große Unbedarftheit) dafür gesorgt, dass die Fronten sich verhärten und sich auch die Leute mit der Parteiführung solidarisieren, die eigentlich eine differenzierte Meinung haben.
Schade, so geht eine mögliche Diskussionsebene leider verloren.

Unruhige Zeiten stehen bevor.

Die GRÜNEN und Deutschland

Es ist wohl die nackte Panik, die andere Parteien dazu treibt, sich schon im Vorfeld mit parteiinternen Änderungsanträgen zum Wahlprogramm zu befassen.

So gibt es jetzt tatsächlich eine ganze Reihe von Anträgen, den Begriff “Deutschland” aus dem Titel des Programms (“Deutschland – Alles drin”) zu streichen. Diese Tatsache wird jetzt als Beleg angeführt, dass es den GRÜNEN an einem klaren und positiven Bekenntnis zu ihrer Nation mangele.
Es wird dabei so getan, als sei jede Partei dazu verpflichtet, den Begriff “Deutschland” in der Überschrift zu nennen – und ein Abweichen von dieser “Norm” wäre eine grobe Verfehlung.
Für mich erstmal eine abstruse Haltung.

Nun kann man natürlich argumentieren, dass es schon eine Aussage machen würde, wenn man den einmal vorhandenen Begriff in Frage stellt bzw. streichen möchte.
Das stimmt natürlich: Es überrascht tatsächlich nicht, dass es in einer Partei, deren DNA für Internationalismus und gegen Deutschtümelei programmiert ist, kritische Stimmen gegen eine so plakative Hervorhebung der Nation laut werden.
Darüber kann und darf man streiten.

Taktisch klug ist dieser Konflikt sicher nicht. Aber in dieser Zeit, in der jeder Mucks in der Partei von den Rivalen darauf überprüft wird, ob er Wahlkampfmunition bietet, würde die alleinige Ausrichtung auf die Außenwirkung jede Diskussion verunmöglichen.

Persönlich halte ich das Wahl-Motto eher für klug und passend.
Es macht deutlich, dass die GRÜNEN den Begriff “Deutschland” nicht den anderen überlassen. Es macht tatsächlich auch inhaltlich Sinn, dem Motto der AfD (“Deutschland. Aber normal.”) das “Deutschland. Alles drin.” entgegenzusetzen. Es betont Vielfältigkeit, Integration, Zukunftsoffenheit, Chancen, Zuversicht.

Ich vermute, der Wahlparteitag wird sich für die Beibehaltung des Slogans entscheiden.
Dass darüber diskutiert und abgestimmt wird, ist kein Problem.
Ich vermute mal, dass in den Änderungsanträgen bei den Parteitagen der Mitbewerber spektakulärere und bedrohlichere Inhalte zu finden wären…

“Über Menschen” von Juli ZEH

Bewertung: 3 von 5.

Ein neuer Roman von ZEH ist sowieso schon ein literarisches Ereignis (auf jeden Fall hinsichtlich der erwartbaren Verkaufszahlen). Hangelt sich ein solches Werk hautnah am Puls der Zeit entlang, bekommt es den Charakter eines politischen Statements. Das ist um so unvermeidbarer, als sich die Autorin auch auf anderen Kanälen in den gesellschaftlichen Diskurs offensiv einbringt.
Es geht daher im Folgenden um ein Buch und um die darin lancierten Botschaften.

ZEH beschreibt die Erlebnisse einer jungen – und bis dahin erfolgreichen – Werbetexterin, die sich im Rahmen einer Beziehungskrise aus dem quirligen und überdrehten Berlin in das ländliche brandenburgische Umfeld zurückzieht.
Sie trifft dort (erwartungsgemäß) auf extrem ungewohnte und irritierende Strukturen, nicht nur räumliche, sondern vor allem soziale bzw. menschliche (daher auch der Titel, der natürlich auch noch ein Wortspiel enthält).

Was dann erzählt wird, kann am ehesten als eine Art modernes Märchen beschrieben werden: Trotz ungünstigster Ausgangsbedingungen entwickeln sich Bezüge und Beziehungen, weil sich – wer hätte das gedacht – hinter den Zuschreibungen, Selbstinszenierungen und Klischees echte Menschen verbergen.
Damit diese Grundbotschaft auf jeden Fall verstanden wird, trägt die Autorin ziemlich dick auf: Statt Risse in den Selbst- und Fremdbildern zu beleuchten, wird gleich eine wundersame Gegenrealität aufgespannt.
Konkret heißt das: Der wahre Kern des vermeintlich Bösen und Abstoßenden ist nicht nur freundlich und hilfsbereit, sondern auch verletzlich und sensibel. Damit das auch ausreichend emotional aufgeladen wird, geht es auch um ein zugleich vernachlässigtes und geliebtes Kind, um unheilbare Krankheiten, einen Über-Vater und eine süße Hündin mit einem Männernamen.
Alles ein bisschen dolle…

Während ZEH also die mitgebrachten Vorurteile der Protagonistin Schritt für Schritt zerlegt und damit eine Lanze für die missverstandenen und abgewerteten Provinzler bricht, rechnet sie auf der anderen (urbanen) Seite geradezu unbarmherzig mit der maßlos überdrehten Klima- und Coronawelt ab.
Hier lugen die persönlichen Einstellungen der Autorin wohl am deutlichsten hervor: Greta Thunberg hat aus dem Partner der geflüchteten Kreativen endgültig einen zwanghaften Klima-Irren gemacht; die Corona-Einschränkungen gilt es in erster Linie als bürokratischen Schwachsinn zu belächeln. Holzhammer, ich hör dich sausen…

Auch die Figur der Protagonistin machte mich als Leser ratlos. Sie wirkt – angesichts ihrer beruflichen Karriere – oft irritierend naiv. Gut, solche inneren Widersprüche können ja eine Romanfigur durchaus interessant machen.
Als absolut überfordernd habe ich aber wahrgenommen, dass die aus grün-links-liberalen Milieu stammende Medienfrau ihre Verbrüderung mit der archaischen Landbevölkerung vorrangig durch gemeinsames Rauchen (gemeint sind wirklich normale Zigaretten), Biertrinken, Herumfahren in Diesel-Pickups und Grillen ganzer Fleischberge zelebriert.
Juli ZEH badet ganz offensichtlich in ihrem Anti-Mainstream-Bedürfnis. Man könnte auch sagen: Ihr – lobenswertes – Verständnis für den bodenständigen Teil unserer Gesellschaft entwickelt sich mehr und mehr zu einer unkritischen Anbiederung.

Zum Schluss ein Wort zur Sprache. Auch in diesem Roman schafft ZEH wunderschöne Sprachbilder. Das kann sie. Hier stellt sich spontan Lesevergnügen ein.
Ein paar Zeilen weiter ist man nicht mehr ganz sicher, ob nicht einige Warnschilder übersehen wurden, auf denen stand “Vorsicht Kitsch”.

ZEH legt einen Roman vor, mit dem sie auf der einen Seite Türen öffnet (und damit aufklärerisch und verbindend wirkt); auf der anderen Seite rechnet sie ab – und kappt dadurch die Fäden, die ja eigentlich die Gesellschaft zusammenhalten sollten.
Warum tut sie das?

Die Hörbuchfassung des Romans ist gut gelungen und empfehlenswert. Die Stimme von Anna Schudt passt sehr gut zu dem inneren Bild, das man sich von der Erzählerin macht.


“Ideen um das Ende der Welt zu vertagen” von Ailton KRENAK

Bewertung: 4 von 5.

Alles an diesem Buch ist ungewöhnlich: der Titel, der Autor, der Inhalt.
Die Verbindung zu den aktuellen Mainstream-Publikationen besteht darin, dass es in dieser Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen im weiteren Sinne auch um Nachhaltigkeit und Klimawandel geht.
Die Perspektive könnte aber unterschiedlicher kaum sein.

Möglich wird dieses Buch dadurch, dass hier eine Person (der Autor) sich in zwei parallelen Welten bewegt und auskennt, zwischen denen es in der Regel kaum einen Austausch gibt.
KRENAK ist Teil einer indigenen Völkergemeinschaft, die in abgelegenen Ecken Brasiliens eine weitgehend ursprüngliche Lebensweise pflegt. Er kennt das Selbst- und Welterleben solcher “Naturvölker” aus unmittelbarer Anschauung und fühlt sich ihr bis heute verbunden und zugehörig.
Gleichzeitig kennt der Autor das, was wir “Zivilisation” nennen. Er kennt die Themen, die Ideologien, die Wirtschaftsweise, die Medien. Man bekommt sehr schnell das sichere Gefühl, dass KRENAK jederzeit wechseln könnte – z.B. in das stylisches Büro eines alternativen Verlagshauses oder in das Management einer Non-Profit-Organisation. Er kennt die Spielregeln, er könnte jederzeit mitspielen.

Der Autor will aber nicht mitspielen. Denn er ist sicher, dass WIR das falsche Leben führen.
Er will uns zwar aufklären, aber nicht missionieren. Sein Ziel (bzw. sein Anspruch) ist es nicht, die Welt zugunsten seiner Überzeugungen zu verändern.
KRENAK ist bescheiden: Es würde ihm reichen, wenn man die paar übriggebliebenen Restbestände einer naturnahen Lebensweise schlicht und einfach in Ruhe lassen würde.
Das wären wir – seiner Überzeugung nach – nicht nur den betroffenen Menschen schuldig, sondern es wäre auch ein Geschenk an die gesamte Menschheit. So wie es dumm und leichtsinnig ist, dem großen Artensterben bei Pflanzen und Tieren tatenlos zuzuschauen, so würde mit dem endgültigen Untergang einer alternativen Lebensweise ein großer Schatz an Erfahrungen und Erkenntnissen für immer verloren gehen.

Was ist das für ein Schatz, dessen Erhaltung der Autor sein Leben gewidmet hat?
Beschrieben wird er als eine Form des Eingebundenseins in die Natur, die in fundamentalem Gegensatz zur all dem steht, was wir als wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt bezeichnen.
Konkret bedeutet das z.B., dass nicht nur Mitgeschöpfe, sondern die gesamte Natur (auch Berge, Flüsse, die Erde insgesamt) als lebendige und beseelte Einheiten gesehen und erlebt werden. Der Gegensatz “hier der Mensch, dort die Natur” ist nicht nur gedanklich, sondern auch im emotionalen Empfinden vollständig aufgelöst.
Ziele wie Naturbeherrschung, Eigentum oder Reichtum werden nicht etwa abgelehnt – sie sind einfach völlig unbekannt. Es geht nicht um Entwicklung irgendwo hin, sondern um schlichtes, ursprüngliches Sein. Tanzen statt Konsum.

Natürlich müssen wohl letztlich alle Versuche scheitern, diese Weltsicht in unsere Sprache zu übersetzen. Aber dieses Buch stellt einen ernsthaften Versuch dar, genau dies zu tun.
Das ist informativ und anregend. Es ist auch dann ein Geschenk an uns “Westler”, wenn schnell klar wird, dass hier kein Modell für die anstehende Transformation zur Nachhaltigkeit ausgebreitet wird. Zu diesem Naturerleben, zu dieser archaischen Lebensweise können wir nicht mehr zurück. Wollen wir auch nicht. Müssen wir auch nicht.
Aber dieser Blick auf ein ganz anderes Menschsein könnte dabei helfen, bestimmte Blockaden zu überwinden, vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen.
Angesichts dieses hier gezeigten Gegenpols erscheinen die Auseinandersetzung darüber, ob zur Schonung unserer Umwelt tatsächlich Fleisch, Autofahren und Flugreisen teuer werden dürfen als hirnlose Banalitäten.

Ein Denkanstoß aus einer unbekannten Welt.