“Die Klimaschmutzlobby” von Susanne GÖTZE und Annika JOERES

Bewertung: 4.5 von 5.

Dieses Buch wirklich Seite für Seite, Satz für Satz zu lesen, setzt einige Selbstdisziplin voraus. Das beginnt schon bei der Entscheidung für das Thema insgesamt: Denken wir nicht schnell, dass wir im Prinzip schon alles wüssten – über die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik, über die Einflussversuche der der Klimawandel-Leugner, der rechten Populisten und der vielen finanzkräftigen Konzerne und ihrer pseudowissenschaftlichen Ableger.
Muss man das wirklich alles haarklein durchdringen, mit allen Verbindungen und Verästelungen?
Man muss nicht – man kann es aber, und zwar ziemlich perfekt mit diesem Buch.

Die beiden Autorinnen liefern eine Meisterleistung in journalistischer Recherche ab. Der Text beinhaltet eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Fakten, die (natürlich) alle mit Quellenangaben belegt sind (die kleingedruckten Anmerkungen umfassen mehr als 50 Seiten).
Um diese handfesten Informationen herum stiften GÖTZE und JOERES ordnende Struktur, stellen Verbindungen und Zusammenhänge dar, ziehen auch Schlussfolgerungen.

Zunächst unterscheiden die Autorinnen die wichtigsten Akteure: Klimawandel-Leugner, Rechtspopulisten und Bremser.
Natürlich gucken sie noch genauer hin: Da geht es um (mehr oder weniger) abstruse Alternativ-Wissenschaftler, die mit ihrer Minderheitsmeinung zum Grundrauschen der Desinformation beitragen. Eine große Rolle spielen die neoliberalen “Thinktanks”, die das Narrativ der “Freien Märkte” mit viel Geld und Power hochglanzverpackt verbreiten. Und natürlich erfährt man ganz viel über die unterschiedlichen Lobbygruppen (Landwirtschaft, Energie, Auto, Luftfahrt) und ihre Verflechtungen mit den Ministerien bzw. mit den wirtschaftsnahen Parteien. (Ich habe z.B. bisher nicht gewusst, welche unrühmliche Rolle Sigmar Gabriel als Umweltminister gespielt hat).
Das alles wird nicht nur in Deutschland betrachtet, sondern ebenso in Brüssel für die EU und nochmal spezifisch für Frankreich, England und Osteuropa.
Rechtspopulismus und eine damit verbundene Abwertung von wissenschaftlichen Erkenntnissen tragen zunehmend dazu bei, dass diese ganze Kampagne weiter in das gesellschaftliche Bewusstsein einsickert.

Das Ergebnis: Aus dem diffusen Gefühl (“da gibt es systematische Einflüsse gegen Maßnahmen zur Klimarettung”) entsteht ein differenziertes und detailliertes Hintergrundwissen. Zwar wird kein Mensch sich all die Zahlen und Namen merken können, aber mit jeder Seite steigt die Gewissheit, dass auf der “anderen” Seite mit unlauteren Methoden und mit gigantischen Geldmitteln gekämpft wird. Die Personen, die Institutionen und die Beeinflussungswege sind bekannt, werden benannt und damit fassbar.
Die Klimabewegung hat es eben nicht nur mit einer vielleicht etwas trägen und uninteressierten Öffentlichkeit zu tun: dahinter arbeitet ein effizientes System mit klaren (wirtschaftlichen und politischen) Interessen und Zielen.

Aus der aktuellen Sicht (von Herbst 2021) sieht vielleicht der ein oder andere Aspekt etwas hoffnungsvoller aus als beim Erscheinen des Buches im Frühsommer 2020. Trump ist Geschichte, Klimaschutz in Deutschland inzwischen zur unumstrittenen Staatsaufgabe geworden. Zumindest der Kampf um die öffentliche Meinung kann die Klimaschmutzlobby nicht mehr gewinnen.
Aber das setzt nicht die “Bremser” außer Kraft, die aus finanziellen Interessen oder politischen Opportunismus weiter konkrete Maßnahmen verzögern bzw. verhindern wollen.
Von daher ist es gut zu wissen, wo die Gegner sitzen und wie sie organisiert sind.

Wenn journalistische Sachbücher dezidierte Aufklärung leisten können – dann steht dieses Buch ganz oben auf der Liste!

Darf es auch für Baerbock Konsequenzen geben?

Im Netz tobt eine Debatte, ob man (Mann) so mit einer – doch ziemlich gescheiterten – Kandidatin umgehen darf.
Für mich stellt sich eher die Frage: Warum lässt Annalena ihren Robert so im Regen stehen?

Es gab offenbar eine Absprache zum Thema: “Wie geht es nach einem nur mäßigen Erfolg weiter?” Die Kandidatin hatte ihre Chance, konnte sich auf die weitgehende Loyalität ihres Co-Vorsitzenden verlassen. Er ging mit ihr durch dick und dünn.
Der Deal war scheinbar: “Wenn es nicht gut läuft, dann kommt der andere zum Zuge.” Also wird Vizekanzler.

Wenn das so stimmt: Warum steht dann heute nicht Baerbock vor den Kameras, entschuldigt sich für den ungünstigen Zeitpunkt dieser Diskussion und erklärt, dass diese Entscheidung auch von ihr getragen wird?
Stattdessen lässt sie offenbar zu, dass sich der alte Geschlechterkampf an diesem Punkt festbeißt und die – an sich logische Entscheidung – zu einem Ausdruck männlicher Dominanz umgedeutet wird.

Ich hoffe sehr, dass sie hier nicht noch einmal die “Frauenkarte” spielt und über feministischen Druck Habeck zum Rückzug zwingt. Das wäre echt schofel…

Rock vom Rollstuhl?

In der aktuellen GENESIS-Tour sitzt ein gebrechlich wirkender Phil Collins auf der Bühne und singt – mit deutlich geschwächter Stimme – die alten Hits.
Die Mitstreiter stehen, die Lightshow blinkt, die Technik funktioniert.

Was bleibt, ist ein schales Gefühl.
Muss der Rock-Circus wirklich so weit gehen?
Ist das eine Form von Inklusion, ein Kampf gegen Altersdiskriminierung?
Oder wird hier nicht eher ein tragisches Schauspiel geboten: Ein Business ohne natürliche Grenzen, ein Altern ohne Würde?

Von mir aus sollen Mick Jagger und Keith Richards, Pete Townshend und Roger Daltrey, Paul McCartney und Ringo Starr – und auch Udo Lindenberg gerne noch mit 80 auf der Bühne stehen.
Aber sie sollten noch stehen können – sonst wird es irgendwie peinlich und unwürdig.
Eine Legende wie Phil Collins solle so nicht enden müssen…

Straßenwahlkampf 2021: Impressionen eines “GREEN-Horns”

Warum entschließt sich ein Mensch im (vorgerückten) letzten Drittel seines Lebens, doch noch aktiv zu werden und einige Stunden Prospekte verteilend an Wahlkampfständen zu stehen? Jugendlicher Weltverbesserungsdrang kann es schon mal nicht sein.
Und was erlebt man da?

Für mich war die Zeit gekommen, meine politischen Vorstellungen und Wünsche noch eine kleine Stufe aktiver zu vertreten, als das in persönlichen Gesprächen oder innerhalb der begrenzten Reichweite meines Blogs bisher möglich war.
Das Angebot von Robert Habeck und Annalena Baerbock, die GRÜNEN zum Mittelpunkt eines breiten gesellschaftlichen Aufbruchs mit dem Schwerpunkt “Klimapolitik/Nachhaltigkeit” zu machen, hatte mich weitgehend überzeugt.
Wann – wenn nicht jetzt – dazu etwas beitragen?

Würde es möglich sein – so fragte ich mich – innerhalb weniger Monate vom unerfahrenen Neumitglied zum aktiven Wahlkämpfer zu mutieren?
Dass einer solchen “Karriere” keine Hindernisse im Weg stehen, das erwies sich schnell in der zuständigen Bezirksgruppe.

Und die Vorbereitung?
Natürlich studierte ich das Wahlprogramm. Die Berichterstattung in den Medien verfolge ich sowieso; es entging mir im Jahr 2021 wohl kaum eine Talkshow mit GRÜNEN-Beteiligung.
Ich nahm an einem Online-Seminar teil, an dem ich u.a. ermahnt wurde, mich nicht auf allzu lange Diskussionen mit den Bürgern einzulassen (“Schade”, dachte ich; ich wollte doch so gerne diskutieren und überzeugen…).
Ansonsten verließ ich mich auf mein solides politisches Grundwissen und auf eine beruflich und privat gereifte kommunikative Kompetenz.

Zuerst nahm ich eine Erleichterung wahr: Die meisten angesprochenen Menschen, reagieren auf das Angebot von Info-Material freundlich oder neutral. Die meisten Passanten bedanken sich – auch wenn sie nicht zugreifen. Aggressiv-ablehnende Reaktionen sind eine Seltenheit; pöbelnde oder bedrohende Reaktionen bleiben ganz aus.
Das ist doch schonmal toll!

Viele Menschen begründen kurz, warum sie das Material nicht nehmen wollen: Sie haben sich schon entschieden, haben schon gewählt oder stehen den GRÜNEN distanziert gegenüber.
Häufig ist die “Ablehnung” sogar mit einem Zuspruch verbunden: “Ich wähl euch sowieso”, “meine Stimme habt ihr schon”. Gelegentlich – und das ist wirklich eine schönes Gefühl – bedankt sich sogar jemand für den Einsatz als Wahlkämpfer.

Wann immer ich die Möglichkeit spürte, versuchte ich, ins Gespräch zu kommen: “Haben Sie vielleicht eine Frage zu unserem Programm?” “Gibt es noch Unsicherheit in Ihrer Entscheidung?”
Immer wieder gelingt das, und so entstehen kurze Gespräche, die Spaß machen und die sonst in meinem Alltag nicht stattfinden würden.
Das Beste dabei: Oft gelingt eine Kontaktaufnahme mit Personen, die in meinem privaten Vorhersage-Algorithmus eigentlich durchfallen würden (weil sie vielleicht besonders alt sind oder abweisend bzw. bedrückt aussehen). Da entstehen auf einmal überraschend intensive Gespräche mit Ü-70-Damen, die sogar zu dem Gefühl führen können, gerade eine echte “Stimme” gewonnen zu haben.

Ein Höhepunkt war das aktive Angesprochenwerden:
– “Erklären Sie mir doch mal, warum ich eher die GRÜNEN als die Linken wählen sollte.”
– “Müsste man nicht taktisch wählen, damit Scholz vor Laschet liegt?”
– “Warum habt ihr nur die falsche Kandidatin genommen?”
– “Macht das mit den Elektro-Autos wirklich Sinn?”
– “Mir hat die GRÜNE Bildungspolitik in NRW nicht gefallen – ist das jetzt besser geworden?”

Ja, es gab sie auch – die Besserwisser, die nur ihren Frust abladen wollten. Aber es waren wenige. Gelegentlich eine Impfgegnerin. Ab und zu ein dummer Spruch.
Alles nicht so schlimm…

Zwischen den verschiedenen Wahlkampf-Trupps der Parteien gab es durchaus freundliche Kontakte: so eine Art demokratische Grundsolidarität (mit gegenseitigem Fotoshooting).

Das Resümee:
Man kann ja doch diskutieren – wenigstens ein paar mal pro Einsatz.
Es macht Spaß, sich auf ganz unterschiedliche Leute und Themen flexibel einzulassen – vor allen Dingen, wenn man sonst eher in einer abgeschlossenen Blase lebt.
Und ein Eindruck überstrahlt alles andere: Die Menschen, die sich als Wähler und Unterstützer der GRÜNEN geoutet haben, waren ausschließlich sympathische Zeitgenossen (männlich/weiblich und überhaupt) mit einer positiven Ausstrahlung.
Ehrlich!



Düsseldorf zwei Tage vor der Wahl: Grün und Future

Die volle Dröhnung für die Freunde des gemäßigten Klimas: Die Abschluss-Kundgebung von Habeck und Baerbock geht praktisch übergangslos in die Demo zum internationalen Klima-Streik über.
Da lohnt sich die Anreise: Zwei Groß-Events auf einen Streich!
Der Platz war voll, der Demo-Zug unüberschaubar.

Es ist – wenig überraschend – überwiegend seine Standard-Rede, mit der Habeck das Finale eröffnet. Wie soll man sich und seine Botschaft auch nach zig Auftritten noch neu erfinden?
Das Publikum ist interessiert und wohlwollend. Die solidarische Stimmung wird nur durch eine kleine Gruppe von Störern angekratzt: Es sind wirklich seltsame Leute, die sich da mit Tröte und Trillerpfeifen bemerkbar machen.

Nach einem musikalischen Zwischenspiel erscheint Annalena Baerbock. Unabhängig von persönlichen Vorlieben ist sie heute unangefochten die Hauptperson. Der Auftritt gelingt! Annalena ist energiegeladen, kämpferisch und klar. Ihr Wahlkampf-Stil passt heute in diese Situation: Es geht um Mobilisierung! Schließlich wird die Kundgebung in die ganze Republik gestreamt…

Die Störer werden kurzfristig lauter. Sie haben inhaltlich nichts zu sagen; keine ihrer Parolen haben irgendeinen Bezug zum Gesagten. Die Polizei ist nah dran und verhindert, dass es zu irgendeinem Gerangel kommt.

Natürlich ist die nachfolgende Klima-Demo keine Veranstaltung der GRÜNEN.
Aber es wird schnell deutlich, dass die Schnittmengen zwischen dem Publikum von Habeck und Baerbock und den Teilnehmern des Demo-Zuges sehr groß ist.
Und trotzdem überwältigt der Eindruck, wie lang die Demo schon ist, bevor die sich die Gruppen mischen.
Der Klima-Streik in Düsseldorf ist ganz offensichtlich ein großer Erfolg.
(Ob die vielen im Stau stehenden Autofahrer/innen aus lauter Frust jetzt etwas Doofes wählen – darüber denkt man am besten nicht nach).

Der Kontrast zur anderen – der weitgehend klima-ignoranten Konsumwelt – ist natürlich auf der Düsseldorfer Kö unmittelbar spürbar. Lastenfahrräder und Protz-Karossen symbolisieren zwei Lebens- und Zukunftsentwürfe, die es in den nächsten Jahren irgendwie zusammenzuführen gilt.
Egal wie die Wahl ausgeht: Diese Aufgabe kommt auf jede Regierung zu.
Wer heute hier in Düsseldorf dabei war, wird sich nicht ernsthaft eine nächste Ministerriege ohne grüne Beteiligung vorstellen können.


“Gesundheit ist kein Zufall” von Peter SPORK

Bewertung: 4 von 5.

Der entscheidende Hinweis steckt im Untertitel: Da wird die biologische Welt auf den Kopf gestellt, weil angeblich nicht die Gene das Leben, sondern das Leben die Gene prägt.
Genau daran arbeitet sich SPORK (Biologe und Wissenschaftsjournalist) in diesem Buch ab: Welche neue Kraft wirkt da zwischen den Erbanlagen und den Umweltbedingungen und gibt es womöglich Beeinflussungen in beide Richtungen?

Der Wirkfaktor, um den es geht, ist die Epigenetik. Damit sind Strukturen und Prozesse gemeint, die entscheidend dafür verantwortlich sind, welche Gene zu welchem Zeitpunkt in welchem Ausmaß aktiv werden (können). Grob gesagt, bilden die in der DNA gespeicherte Erbinformationen (deren Entschlüsselung die Wissenschaft so lange entgegengefiebert hat) nur das Ausgangsmaterial für all das, was sich in unserem Körper biologisch tatsächlich abspielt. Um sie herum findet ein komplexes System von Steuerungs-, Hemmungs- und Übermittlungsprozessen ab, für die ein ganzes Arsenal von spezialisierten Proteinen zuständig sind.

Das zentrale Anliegen dieses Buches besteht darin, Zusammenhänge zwischen bestimmten Umgebungsbedingungen und Erfahrungen (insbesondere während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren) und den epigenetischen Mechanismen darzustellen. Bedeutsam ist das deshalb, weil die dort ausgelösten Veränderungen oft langfristig bzw. dauerhaft wirksam bleiben. Das epigenetische System speichert zusagen die Umwelteinwirkungen auf einer biologischen Ebene – ohne das die Gene selbst verändert werden.

Was sich erstmal so abstrakt anhört, hat eine große Auswirkung auf psychologische, pädagogische und gesellschaftliche Themen. Es geht um nicht weniger als den (biologisch-messbaren) Beweis, wie langfristig schädigend z.B. Stress in der Schwangerschaft, Fehlernährung, Drogenmissbrauch, Vernachlässigung oder Traumatisierung sein können.
Man könnte es auch so sagen: Vieles, was man als Entwicklungspsychologe oder Sozialisationsforscher schon längst weiß, bekommt jetzt eine (zusätzliche) wissenschaftliche Evidenz: Man kann es bis auf zellulärer Ebene messen und die Wirkmechanismen erklären.

Aber es geht nicht nur um so dramatische Ereignisse. Unsere gesamte Entwicklung, unsere Leistungsfähigkeit, unsere Gesundheit und unsere Lebenserwartung wird eben nicht durch die “statistische” Genausstattung definiert, sondern unterliegt einem sensiblen und anpassungsfähigen Aktivierungs-System. Das betrifft z.B. den Umgang mit Stress, die Neigung zu Übergewicht oder die anderen bekannten Risikofaktoren.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Wir sind unseren Genen weit weniger ausgeliefert als früher vermutet; statt dessen können wir durch gute Bedingungen für den Nachwuchs (in Schwangerschaft und Kindheit) und durch eigenes (gesundheitsbewusstes) Verhalten dauerhaft wirksame Weichenstellungen vornehmen.

SPORK stellt immer wieder die Frage, wie langfristig und stabil solche epigenetischen Strukturen sind. Hierzu wird auf einen ganzen Wust an Forschungsbefunden zurückgegriffen, wobei auch Tierversuche eine große Rolle spielen.
Es wird deutlich, dass der Autor zu den Wissenschaftlern gehört, die den Einfluss der Epigenetik über (zwei bis drei) Generationen hinweg (z.B. als Folge von Traumata) bereits für (weitgehend) gesichert hält. In den Schlusskapiteln des Buches wird die möglichen Mechanismen der “Vererbung” von epigenetischen Mustern sehr grundsätzlich und differenziert diskutiert. Dies angemessen darzustellen, übersteigt die Möglichkeiten einer Rezension.

Obwohl in diesem Fachgebiet vier Jahre (seit Erscheinen des Buches) eine lange Zeit zu sein scheinen, bietet das – auch für interessierte Laien – gut lesbare Sachbuch noch immer einen extrem informativen Einstieg in einen wichtigen Zweig der modernen Biologie.

Gut gelungen ist dem Autor zweifellos auch die Umsetzung seiner Mission: Ihm geht es um die Anwendung der Erkenntnisse für eine gesunde Lebensführung. Die Aufklärung und Unterstützung für werdende Eltern spielt dabei eine besondere Rolle. Für SPORK lässt sich aus den Befunden der Epigenetik eine unmittelbare gesellschaftliche Verantwortung ableiten.

Als Freund auch der Grundlagenforschung ist mir das alles ja durchaus sympathisch. Allerdings stellt sich schon die Frage, ob die Durchdringung komplexer zellulärer Protein-Systeme wirklich als zusätzliche Begründung für soziale und präventive Maßnahmen taugt (oder gar notwendig ist). Alle referierten Zusammenhänge zwischen bestimmten Lebensbedingungen bzw. Verhaltensmustern und deren Auswirkungen auf die soziale, emotionale und körperliche Entwicklung von uns Menschen sind lange bekannt. Psychologen, Pädagogen, Kinderärzte und Sozialwissenschaftler kämpfen seit Jahrzehnten dafür, mehr in die präventive Unterstützung von jungen Familien und die pädagogische Infrastruktur zu investieren.
Ob da wirklich die epigenetische Perspektive den Durchbruch bringt…?

Robert Habeck in Essen

Fünf Tage vor der Wahl, Kennedy-Platz in Essen-Mitte.
Keine Riesen-Menschenmenge, aber eine würdige Kulisse für die Abschluss-Veranstaltung der GRÜNEN in Essen.

Robert kommt – ganz anders als vor einigen Wochen Annalena in Bochum – auf leisen Sohlen.

Keine sichtbare Security, kein Begleit-Tross. Habeck mischt sich wie ein ganz normaler Besucher unter das wartende Publikum. Er ist ansprechbar, sucht aber nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine ganze Weile steht er alleine und hört brav der Vorstellung und den Reden der drei örtlichen Kandidaten zu.
Die Botschaft (ob gewollt oder ungewollt): Ich bin einer von euch, ganz normal…

Der Status-Unterschied zu einer offiziellen Kanzler-Kandidatin ist nicht zu übersehen: Er steht nicht so stark als Person im Rampenlicht; er steht nicht in Konkurrenz zu Laschet und Scholz; er hat sicher nicht die höchste BKA-Sicherungsstufe.

Seine Rede unterscheidet sich deutlich von dem Auftritt Baerbocks (vor einigen Wochen):
Er spricht mehr aus dem Moment heraus, entwickelt längere und komplexere Argumentations-Bögen, entwickelt die Gedanken wohl jedesmal ein wenig anders und neu.
Während Baerbock sich eher Punkt für Punkt durch ihr Programm gearbeitet hat und ihre Thesen sehr komprimiert und formelhaft präsentierte, sieht man Habeck eher beim Spinnen der Gedankenfäden zu. Seine Sätze sind komplexer und länger; die Stelle, an der man Klatschen kann, ist nicht so eindeutig vorgegeben wie bei den etwas schablonenhaften Standard-Statements von Annalena.
Habeck ist der Typ für die etwas längere Aufmerksamkeitsspanne. Aus der Rede von Habeck lassen sich deutlich schwerer die berühmten 15-Sekunden-Sprüche für die Tagesschau herausschneiden.

Es ist wohl schwierig, diesen Menschen nicht irgendwie sympathisch zu finden. Das ist kein aufgeblasener Politikertyp alter Schule; gleichzeitig hat er nichts modern-aufgestyltes wie ein Lindner. Man kann sich gut vorstellen, wie er als Minister zwischen sehr verschiedenen Milieus vermitteln konnte.
Tatsächlich freue ich mich darauf, ihn bald in einem neuen Kabinett zu haben. Diesem Persönlichkeits- und Politikertyp vertraue ich gerne meine Stimme und mein Mandat an.
Sollte es dazu nicht kommen, wäre meine Enttäuschung groß…

“Später” von Stephen KING

Bewertung: 2.5 von 5.

Ach ja, lieber KING, du kannst so toll schreiben – und enttäuschst trotzdem hin und wieder mal heftig. Mit diesem (relativ kurzen) Roman ist dir das voll gelungen!

Dass man sich auf eine mystische Welt jenseits der Naturgesetze einlassen muss, wenn man diese Geschichte liest, ist nicht das Problem. Soll der Junge (der Protagonist) doch ruhig tote Menschen kurz nach ihrem Hinscheiden sehen – und gerne auch mit ihnen kommunizieren. Daraus kann man doch was machen…

Das tut KING in dem ersten Viertel des Buchers auch, und es macht Spaß, das zu lesen (oder zu hören). Jamie ist ein netter Bursche und hat eine sympathische Mutter. Beide leben unter nicht ganz einfachen materiellen Umständen.
Da trifft es sich gut, dass Jamie seine besondere Gabe dazu nutzen kann, einem plötzlich verstorbenen Schriftsteller den Plot seines mit Spannung erwarteten Abschlussband eines Fortsetzungs-Romans zu entlocken. Daraus konnte dann die Mutter etwas machen…

Hätte KING es bei solchen Episoden – auch ein Verbrechen konnte verhindert werden – belassen, wäre sicher ein unterhaltsames Buch entstanden.
Aber es musste dann noch der große Knaller kommen: In einem der Toten hat sich unglücklicher Weise das Böse schlechthin (oder auch der Teufel) eingenistet. Die Beziehung zwischen Jamie und diesem Monster wächst sich zu einem größeren Problem aus – ohne martialisch-blutigen Showdown geht da natürlich nichts!
So senkt man das Niveau eines Buches gleich um mehrere Stufen…

Der Autor entwirft auch in diesem Roman einige Figuren, die einem ans Herz wachsen. Es gibt liebevolle Beziehungen und gescheiterte Partnerschaften. Man steigt gerne ein in diese Welt und diese Story und wäre gerne noch eine Weil dabei geblieben.
Warum – so frage ich mich – musste daraus so eine letztlich belanglose und austauschbare Horror-Story werden. Daraus hätte man doch wohl mehr machen können…

“Die Vermessung des Lebens” von Peter SPORK

Bewertung: 4 von 5.

Das Thema “Systembiologie” scheint nicht auf Anhieb massentauglich zu sein. Anders als die Titel zu “Corona” und “Klimawandel” wird sich dieses Sachbuch nicht auf den Sondertischen der Buchhandlungen stapeln.
Aber es ist ohne Zweifel ein Zukunftsthema, das unmittelbar mit einigen großen Trends der nächsten Jahrzehnte zusammenhängt – mit Digitalisierung, Big Data, Bio-Technologie, Selbstoptimierung, Lebensverlängerung und Künstlicher Intelligenz (KI).

Der Neurobiologe und Biokybernetiker SPORK, als Wissenschaftsautor schon eine ganze Weile im Geschäft, legt mit diesem populärwissenschaftlichen Sachbuch (es ist schon fast ein Fachbuch) nicht nur eine umfassende Gesamtkonzeption der bisher eher verborgen wirkenden Disziplin “Systembiologie” vor. Er hat – über die Information hinaus – ganz offensichtlich auch die sehr persönliche Mission, für diesen wissenschaftlichen Ansatz zu werben.
Wir haben es also nicht mit der neutralen-distanzierten Darstellung eines Wissenschafts-Journalisten zu tun, sondern mit der Überzeugung und Begeisterung eines unmittelbar Beteiligten.

Worum geht es nun eigentlich?
Der Anspruch der Systembiologie (so wie sie STORK versteht) ist geradezu atemberaubend: Leben allgemein und Gesundheit speziell sollen in einer bisher nicht bekannten Intensität erforscht, verstanden und optimiert werden. Die Grundlage dafür wird (zunächst) in der umfassenden Durchdringung aller biologischen Bestandteile, Systeme und Prozesse gesehen, die für das menschliche Leben bedeutsam sind. Dabei geht es – an einem Ende – tatsächlich um die elementarsten Bausteine, die DNA unserer Gene, die epigenetischen Mechanismen, die Gesamterfassung aller Proteine – bis hin zu den Mikroorganismen in unserem Darm. Funktionsweise und Interaktion all dieser biologischen Basisfaktoren sollen möglichst in mathematische Algorithmen übersetzt werden, damit sie sozusagen digital “nachgebaut” werden können und so noch intensiver erforscht und mit anderen Variablen vernetzt werden können.
Am anderen Ende der Betrachtung stehen dann körperliche bzw. medizinische Befunde, angefangen von Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit, über Krankheiten und Einschränkungen bis zum Altern und Sterben.
Grundprinzip der Systembiologie ist es nun, auf allen Ebenen möglichst viele Daten zu sammeln und miteinander in Bezug zu setzen. Die Werkzeuge dafür sind – Überraschung! – die modernsten Super-Computer und die Mustererkennungs-Macht der KI.
Nochmal ganz kurz: Aus einem riesigen (biologischen) Datenpool sollen auf digitalen Wegen ein neues Verständnis für (bisher unerkannte) Mechanismen und Zusammenhänge entstehen, auf deren Grundlage wir unsere Gesundheit und Lebensqualität optimieren können.
Aber das Ziel ist noch weiter gesteckt: Dem Systembiologen reichen keineswegs die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten; er möchte die ganze Sache individualisieren. Er hätte am liebsten für alle Menschen den kompletten Datensatz (natürlich nicht einmalig, sondern fortlaufend), um ganz persönliche Vorhersagen, Warnungen und Vorsorgetipps generieren zu können.
Er scheut sich nicht, von einem “digitalen Zwilling” zu schreiben, in dem sich die eigenen Datensätze zu einem mathematischen Gesamtmodell zusammenfinden könnten. Natürlich gehört dann auch die passgenaue Auswahl und Dosierung von Medikamenten dazu (Präzisionsmedizin).

Nur kurz erwähnt sei, dass der ganzheitliche Anspruch der Systembiologie noch weit über den körperlichen Bereich hinaus reicht: auch psychologische und soziale Variablen sollten in das Gesamtverständnis des (gelingenden) Lebens einbezogen werden.

Da muss man zwischendurch tatsächlich mal durchatmen – sonst könnte leichter Schwindel entstehen.
Der Autor wechselt immer mal wieder zwischen der Schilderung aktueller Forschungsvorhaben und eher als Science-Fiktion anmutende langfristige Perspektiven.
Er verspricht im Ergebnis nicht weniger als eine völlige Neuausrichtung unseres Gesundheitssystems: Die meisten Krankheiten würden nämlich erst gar nicht mehr entstehen, weil feinste Vorzeichen von drohenden Fehlfunktionen – gemessen mit allerhand Sensoren – mit Korrekturen beantwortet werden können. Der Weg zur Vorsorgemedizin ist gebahnt; der Gesundheits-Coach ersetzt den Arzt, der Krankheiten bekämpft.

Nur eine – vielleicht ein wenig despektierliche – inhaltliche Anmerkung sei erlaubt: Ein wenig entlarvend wirkt es, wenn SPORK die schöne neue Welt des datenbasierten individuellen Gesundheitsfürsorge an Beispielen konkretisiert. So wird dann dem totalüberwachten modernen Menschen tatsächlich geraten, er solle doch ein wenig bewusster essen, sich mehr bewegen, regelmäßiger schlafen und auf das psychische Gleichgewicht achten.
Da käme man natürlich ohne Systembiologie nicht drauf…

Dieses Buch ist ohne Zweifel eine gut lesbare, anregende und informative Einführung in dieses Fachgebiet. Das Lesen lohnt sich auch dann, wenn man dem ganzen Ansatz (oder einzelnen Aspekten) skeptisch oder kritisch gegenübersteht.
Man muss ganz sicher nicht die (fast) grenzenlose Begeisterung des Autors für Big Data, Super-Rechner und schlaue Algorithmen teilen, um von diesem Einblick zu profitieren. (Auf die ein oder andere Redundanz in der Darstellung könnte man auf jeden Fall verzichten).
Nicht ganz überzeugend ist die ökonomische Bilanz des Autors: Zwar argumentiert er mit der langfristigen Vermeidung von teuren medizinischen Maßnahmen; allerdings fehlt eine Kalkulation dazu, was man alles mit den ungeheuren Forschungskosten erreichen könnte, wenn man sie in Aufklärungs- und Präventionsprogramme oder in medizinische Grundversorgung in anderen Teilen der Welt investieren würde.

Was kann man noch tun?

Im Moment geht in der veröffentlichten Meinung noch kaum jemand von einer Kanzlermehrheit für Annalena Baerbock aus. Scholz liegt knapp vorne; es mehren sich die Hinweise, dass Laschet aufholen könnte.
Die Gründe dafür:
– Die Leute sehen bei den vermehrten öffentlichen Auftritten, dass Laschet nicht so “unmöglich” ist, wie es zwischenzeitlich erschien.
– Die Union spielt das Angst-Thema “Linksruck” ungebremst aus; benutzt dabei ungehemmt polemische Zuspitzungen, die mit der Realität kaum etwas zu tun haben.
– Union und FDP wiederholen gebetsmühlenartig die (eindeutig falschen) Vorwürfe an die GRÜNEN, diese wünschten sich eine Gesellschaft voller Verbote und Einschränkungen und sähen nicht die Chancen innovativer Technologien.
– Die Union kündigt wohlklingende Maßnahmen an, die den Eindruck erwecken sollen, dass eine (von Steuern und Vorschriften) “entfesselte” Wirtschaft einen solchen Wachstumsschub erzeuge, dass sich alle gesellschaftlichen Aufgaben ohne Umsteuerung finanzieren ließen.

Dem allen etwas entgegenzusetzen, erfordert eine differenzierte Argumentation. Es ist naturgemäß einfacher, pauschale Vorwürfe zu verbreiten (“wirtschaftsfeindliche Verbotspolitik”; “Bevormundung der Bürger”; “leistungsfeindliche Umverteilung”), als diese auf Basis des konkreten Programms zu entkräften.
Tatsächlich bleibt den Menschen, die unentschlossene Wähler noch erreichen wollen, kaum etwas anderes übrig, als inhaltlich einzusteigen.

Es gibt dafür gute Quellen:
– Einen guten Zugang bietet die Themenseite “A – Z” an: Hier bekommt man zu 45 Stichpunkten eine schnelle Orientierung zu GRÜNEN Positionen und Forderungen.
– Etwas komprimierter geht es auf der Einstiegsseite zum Programm zu.
– Natürlich kann man sich das Wahlprogramm auch in voller Länge (Achtung: sehr ausführlich) oder in Kurzform herunterladen.

Wozu die Anstrengung, wenn es doch (vermutlich) keine GRÜNE Kanzlerschaft geben wird? Nun, es kommt für die Koalitionsverhandlungen ganz entscheidend auf die relative Stärke der Parteien an. Vielleicht kann man gerade jetzt (wo eine Kanzlerschaft von Bearbock nicht mehr “droht”), Bekannte oder Verwandte davon überzeugen, dass sie mit ihrer Stimme etwas für die Gewichtung GRÜNER Positionen tun.
Eine aktive Gestaltungskraft ist nur zu erwarten, wenn die GRÜNEN mit ihrem Ergebnis wirklich in Augenhöhe mit den anderen beiden abschneiden.

Also: Führt einfach noch das ein oder andere Gespräch mit Menschen, die man für die GRÜNE Sache gewinnen könnte.

(Natürlich kann ich gut verstehen, wenn überzeugte Sozialdemokraten sich am Erfolg von Scholz erfreuen).