“Herr aller Dinge” von Andreas ESCHBACH

Bewertung: 5 von 5.

ESCHBACH gehört zu den erfolgreichen Vielschreibern dieses Landes. Seine Romane loten gerne Grenzen aus: geschichtliche, technische, logische und menschliche. Fast alle seine Geschichten überschreiten die normale Alltagsrealität und bieten so eine besondere Form der gehobenen Unterhaltung.
Dieser Roman stammt aus dem Jahr 2011 und ist unbestreitbar eines seiner Meisterwerke.

Wir begleiten das erst in Japan, später in den USA beheimatete Genie Hiroshi von seiner Kindheit bis ins reife Erwachsenenalter. Dabei lassen ihn zwei schicksalhafte Besonderheiten nicht los: Sein Traum, durch die Entwicklung einer neuen Roboter-Technologie die Welt (zum Besseren) zu verändern, und die wechselvolle und dramatische Beziehung zu seiner Kindheits-Freundin Charlotte, die auf eine sehr spezielle Art auch die Frau seines Lebens wird.

ESCHBACHs Erzähl-Energie scheint in diesem Roman geradezu unerschöpflich zu sein. Schon die empathisch geschilderte Kinderfreundschaft, die Standesunterschiede kreativ überwindet, lässt einem Hiroshi und Charlotte ans Herz wachsen. Spätestens nach der Studienzeit ist man als Leser/in dem weiteren Geschehen völlig ausgeliefert: Man will, dass der Computer-Freak mit seinen Nano-Robotern den großen Durchbruch schafft
Die vier Lebensabschnitte der beiden Protagonisten, die genauer betrachtet werden, haben fast schon den Charakter von eigenständigen Erzählungen.

Der Bogen von realer Wissenschaft (Paläontologie, Astrologie, Nano- und Computertechnologie) bis zu den hier ausgebreiteten Zukunftsfantasien wird von ESCHBACH weit gespannt. Und doch hat man das Gefühl, das die reichlich gebotene Science-Fiction hier nicht als Selbstzweck zum Einsatz kommt. Alles ist in einen “Roten Faden” eingewebt, der sich im Lebensthema des Protagonisten manifestiert.
ESCHBACH scheut sich dabei nicht, seinen Figuren partiell auch übermenschliche Fähigkeiten zuzuschreiben oder sich in sehr weitgehende kosmische Spekulationen vorzuwagen. Gleichzeitig schafft er es, der Erzählung immer wieder eine Bodenhaftung zu verleihen, sie auf die menschliche Erfahrungs-und Gefühlswelt zu beziehen.

Der Roman spielt konsequent mit dem Thema Weltverbesserung durch wissenschaftlich-technologischen Fortschritt. In seiner omnipotenten Vision ist Hiroshi davon überzeugt, dass die unbegrenzte Verfügungsmöglichkeit über alle Güter die Lösung aller Menschheitsprobleme darstellen würde – also will er Maschinen bauen, die buchstäblich ALLES herstellen können.
Die Frage, ob sein erstrebtes Geschenk an die Menschheit diese positive Utopie tatsächlich erfüllen könnte, wird in dem Roman leider nur gestreift. Man würde ESCHBACH gerne fragen, ob er – nach 10 Jahren Nachhaltigkeits-Diskussion – noch genauso eindeutig darauf setzen würde, dass “jeder alles” haben sollte.
Dass eine so unfassbar mächtige Technologie durch reale Menschen kaum beherrschbar sein würde – das wird mehr als deutlich.

Natürlich: Wir sprechen hier nicht über einen literarisches Kunstwerk im Sinne der “Hochkultur”. ESCHBACH schreibt anregende Unterhaltungsliteratur, bei der es manchmal auch das ein oder andere überflüssige Klischee und die üblichen Überzeichnungen auf der Gut/Böse-Dimension gibt. So ist z.B. der schon zu Uni-Zeiten eingeführte Gegenspieler ein solcher Unsympath, dass man wirklich nicht nachvollziehen kann, warum er Charlotte für sich gewinnen konnte. Auch muss man eine Weile mit den doch sehr pubertären Welten des amerikanischen Studentenlebens zurechtkommen.

Doch solche kleinen Dämpfer können den Gesamteindruck nicht stören:
Selten sind Spannung, Emotionalität und technische Zukunftsvisionen so anregend, fantasievoll und facettenreich zu einem unterhaltsamen Gesamtkunstwerk vermengt worden. Den am Ende drohenden Ausschluss aus der Welt von Hiroshi und Charlotte erlebt man fast als einen aggressiven Akt bzw. als einen echten Verlust, der ein wenig “Trauerarbeit” erfordert.

“Die Unteilbarkeit der Liebe” von Jenny Fields

Bewertung: 4 von 5.

Eine Frau zwischen zwei Männern – das könnte eine allzu vertraute und damit auch eine etwas verbrauchte Konstellation sein. Mit den Rahmenbedingungen, in denen FIELDS diese Grundthematik steckt, ist dieses Risiko allerdings sehr wirkungsvoll gebannt.

Eine junge, ehrgeizige Wissenschaftlerin (Rosalind) schafft es während des 2. Weltkrieges, in die Männer-Domäne der Atom-Physik vorzudringen und wirkt schließlich am Bau der Atombombe mit. Der tatsächliche Einsatz der Bombe in Japan schockt sie zutiefst. Noch härter trifft sie allerdings die Beteiligung ihres geliebten Kollegen (mit dem sie eine Beziehung hat) an ihrer Entlassung aus dem Wissenschafts-Betrieb. Seitdem führt sie ein zurückgezogenes Leben als Schmuckverkäuferin in Chicago.
Die beschauliche Gleichförmigkeit dieses Schmalspur-Lebens findet viele Jahre später ein jähes Ende: Gleichzeitig mit dem früheren Geliebten taucht ein FBI-Ermittler auf, der nicht nur selbst eine tragische Biografie auf dem Buckel hat, sondern ebenfalls eine emotionale Bedeutung für Rosalind gewinnt.
Der Roman schildert die Konflikte und Ambivalenzen der Protagonistin in dem Spannungsfeld zwischen den beiden Männern, die ihrerseits auf eine besondere Art miteinander verbunden sind.
Einige andere Figuren, die ebenfalls sorgfältig psychologisch gezeichnet werden, definieren das familiäre und soziale Umfeld von Rosalind.

Auch wenn der Plot Anleihen von Krimi und Spionage-Thriller hat, so geht es doch schwerpunktmäßig um die emotionalen Achterbahnfahrten von Rosalind. Die entscheidende Frage ist daher: Schafft es die Autorin, die Gleichzeitigkeit von zwei (leidenschaftlichen) Lieben glaubhaft nachvollziehbar zu machen?
Tatsächlich gelingt es ihr, dass man ihr (und ihrer Hauptfigur) auf diesen kurvenreichen Wegen folgen will. Sie gibt soviel Einblick in die innerpsychischen Prozesse, findet eine so ausdrucksvolle Sprache, dass die Verbindung zu den jeweils folgenden Entscheidungen nie ganz abreißt – wenn auch der Faden manchmal extrem unter Spannung steht.
Ob man sich selbst als Leser/in allerdings in die beschriebene Extrem-Ambivalenz wirklich hineinfühlen kann, muss wohl offenbleiben.

Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass es in diesem Roman nicht nur um die Liebe geht – auch wenn dieses Thema weite Teile der Handlung bestimmt. Ein besonderes Buch wird dieser Roman auch dadurch, dass diese Frauenfigur sich eben nicht auf die Entscheidung für den “richtigen” Mann reduzieren lässt. Die innere Berufung als Wissenschaftlerin ist für Rosalinde kein Nebenthema, sondern ein Kernbereich ihrer Identität.

Wir haben es also mit einem Roman zu tun, der – sowohl in der Rahmenhandlung, als auch emotional – eine intensive Dynamik entwickelt. Die zeitgeschichtliche Einbettung ist gelungen und trägt zum Gewinn bei, den man aus dem Lesen dieses Buches ziehen kann.
Dass man vielleicht nicht jede Wendung zu 100% nachfühlen kann, stellt kein nennenswertes Problem dar.
Allerdings sollte man sich darüber klar sein, dass man hier nicht einen klassischen Krimi oder Thriller angeboten bekommt, sondern einen speziellen Einblick in die potentiellen (Un-)Tiefen der Liebe.

“Erfülltes Leben” von Friedemann SCHULZ von THUN

Bewertung: 4 von 5.

Wenn man als Studierender das Kommunikationsmodell des Autors sozusagen als Muttermilch aufgesogen und in späteren Jahrzehnten unzählige Male angewandt hat, begegnet man seinem Alterswerk “Erfülltes Leben” mit großer Neugier und einigem Respekt.
Dass diese Publikation beides verdient hat, steht nach dem Lesen außer Zweifel.

SCHULZ von THUN steht auf dem Boden der Humanistischen Psychologie und hat die deutsche Kommunikationspsychologie insbesondere dadurch geprägt, dass er eingängige Modelle und Bilder (mit)geschaffen hat, die sich sowohl in der Ausbildung und Lehre, als auch in der praktischen Arbeit (in Coaching, Beratung und Therapie) inzwischen millionenfach bewährt haben. Er ist weit eher ein begnadeter Lehrer bzw. Didaktiker als ein Forscher, der seine Theorien durch ausgefeilte Versuchsanordnungen zu verfeinern sucht.
Dass er sicherlich auch ein Talent zur erfolgreichen Selbstvermarktung einiger (weniger) Grundkonzepte hat, steht der Würdigung seines Einflusses nicht entgegen.

Am (vorläufigen?) Ende seines Schaffens (er veröffentlichte sein Buch mit 77 Jahren) stellt sich die im Buchtitel aufgeworfene Frage sicher nicht zufällig: Wann sonst wäre die Zeit, bilanzierend auf das eigene Leben zurückzuschauen?
Doch natürlich: Der Autor ist nicht irgendein beliebiger Privatmensch! Was läge also näher, sich der Frage der “Lebenserfüllung” systematisch zu nähern? Wen würde es wundern, wenn auch bei dieser Analyse ein prägnantes Modell geboren würde? Wäre jemand überrascht, wenn es dem Autor gelänge, die wichtigsten Grundkonzepte seiner bisherigen Veröffentlichungen auch in diesem Buch unterzubringen?
Nun – genau so hat er es gemacht!

Der Autor stellt ein Fünf-Felder-Schema vor, in dem er verschiedene Facetten von Erfüllung gliedert und dann ausführlich darstellt. Es geht um die persönlichen Lebenswünsche, um einen (das eigene Selbst) überschreitenden Sinn, um die biografische Stimmigkeit, um den Bezug zu allgemeinen Daseins-Themen und einer Selbsterfüllung im Sinne eine “Auslebens” der angelegten Potentiale.
Innerhalb der Ausführungen kommen immer wieder die Konzepte des “Wertequadrats” und des “Innere Teams” ins Spiel, die beide darauf hinweisen, dass extreme und einseitige Ausprägungen bestimmter Neigungen, Ziele oder Verhaltensmuster einem erfüllten Leben eher im Wege stehen. Es ist also die Suche nach dem Abwägen, dem Integrieren, der Vielstimmigkeit, zu der uns SCHULZ von THUN motivieren möchte. Man könnte auch sagen: “Haltet euch von den Extrempolen fern!”

In dem Text lauern durchaus einige spannende (psychologisch-philosophische) Grundsatzfragen. So hinterfragt der Autor selbst das Konzept eines “inneren Wesenskerns”, das von humanistisch orientierten Coaches so gerne als Maßstab ins Feld geführt wird. Er löst auch dieses Spannungsfeld (zwischen dem angelegten “Kern” und den äußeren Einflüssen) auf seine Art: Natürlich ist beides richtig!
So räumt er ein, dass die oft behauptete “Selbstverfügbarkeit” aller Optionen (“jede/r kann alles schaffen”) eine haltlose These ist, bleibt aber natürlich dem Modell treu, dass ja nach und nach die “eigenen” Selbstentfaltungskräfte an Einfluss gewinnen (ohne zu fragen, wieviel Verfügungsgewalt man denn auf diese wachsenden Kompetenzen wirklich hatte).

Dass der Autor auch mit seiner persönlichen Lebensbilanz beschäftigt ist, wird nicht nur in der Einleitung deutlich. Er benutzt ganz offensiv biografische Erinnerungen zur Erläuterung bestimmter Thesen und schlägt seiner Leserschaft vor, sich in ähnlicher Weise mit der eigenen Lebensgeschichte zu befassen.
Ganz nebenbei zeigt sich der Autor natürlich so auch als Modell für Authentizität.

Mein erster Eindruck war: “Das ist ein seichtes Buch – hoffentlich wird es nicht allzu sentimental und selbstbeweihräuchernd!”
Am Ende komme ich zu einem anderen Urteil: Tatsächlich handelt es sich nicht um ein Sachbuch (im engeren Sinne) – auch wenn in systematischer Form Inhalte vermittelt und Literatur zitiert wird; dafür ist es zu persönlich und biografisch.
Aber das Buch bietet deutlich mehr als eine selbstverliebte Lebensbilanz: Es ist eine weitere Bestätigung dafür, dass SCHULZ von THUN ein Händchen dafür hat, komplexe Zusammenhänge klug und nachvollziehbar zu strukturieren und in eingängiger Form zu veranschaulichen.
In seiner Mischung zwischen lebenserfahrener Altersweisheit, psychologischer Expertise und philosophisch-existenziellen Betrachtungen hat der Autor auch so etwas wie eine gut lesbare “Lebensschule” geschrieben. Ein kluges Buch, das nicht nur praktisch tätigen Fachleuten, sondern auch interessierten Laien Anregungen zur Selbstreflexion und vielleicht sogar Anstoß für Veränderungen geben könnte.

Dass wohl nicht jede Aussage einer empirischen Bestätigung standhalten würde, dass die humanistische Grundhaltung sich in dem ein oder anderen Punkt in einer zu optimistischen Bewertung niederschlägt, kann in diesem Kontext mal übersehen werden.

“Morgenstern” von Karl Ove KNAUSGÅRD

Bewertung: 3 von 5.

Wenn man es mal ganz unverblümt benennen wollte: In gewisser Weise ist dieser Roman eine groß angelegte Täuschung!
In der ersten Hälfte suggeriert der Autor der potenziellen Leserschaft, dass es um eine psychologisch tiefgründige Analyse einiger Protagonisten geht, die in ihren Lebenskonstellationen (als Journalisten, Krankenschwester oder Pfarrerin) mit verschiedenen existentiellen Herausforderungen beschäftigt sind und dabei in mehr oder weniger große Widersprüche geraten. Dabei geht es sowohl um innere psychische, als auch um beziehungsbezogene Spannungen und Konflikte.
Im weiteren Verlauf verlässt der Autor – sozusagen schleichend – die Ebene von Handlungen und Erzählsträngen und wendet sich immer stärker der mikroskopischen Feinanalyse einzelner Situationen, den innerpsychischen Prozessen (einschließlich längerer abstrakter, u.a. religiöser Reflexionen) und schließlich auch (in sich abgeschlossenen) Traumepisoden zu. Zuletzt löst sich die Romanstruktur fast vollständig auf und führt zu einem längeren Traktat über die Beschaffenheit des Todes (wobei der Zusammenhang mit der “Handlung” völlig aufgegeben wird).
Natürlich sucht man als Leser/in nach einer Verbindung zwischen dem allen. Man findet sie in dem Thema “Tod”.

Der Autor ist ein tiefgründiger Mensch, der auf der einen Seite ganz tief im christlichen Glauben verankert ist; gleichzeitig erlebt er sich als einen aufgeklärten, wissenschaftsaffinen und genussorientierten Menschen, dem rationales Denken und Argumentieren keineswegs fremd ist. Dieses Spannungsfeld stellt letztlich den Hintergrund für dieses insgesamt recht sperrige und inhomogene Buch dar.

Während der Autor einerseits durch sein durchaus differenziert und brüchig gezeichneten Figuren deutlich macht, dass er (so springt es einen zumindest an) ein passionierter Raucher, dem Alkohol zugetan und an Sex auch nicht gerade desinteressiert ist – zeigt er auf der anderen Seite sein tiefes Bedürfnis, das Mysterium des Todes so lange zu ergründen, bis da doch ein Licht am Horizont zu leuchten scheint. Es rührt einen geradezu an, mit welcher intellektuellen Energie und Akribie KNAUSGÅRD philosophische, religiöse und historische Quellen und Orte ausleuchtet – immer auf der Such nach der kleinen Lücke, die ihm die Chance gibt, sich dem rational erkannten biologischen Gegebenheiten doch noch irgendwie zu entwinden.
Man könnte also sagen: Der Tod ist das Lebensthema des Autors und seine emotionale Weigerung, die eigene (irgendwie ja auch als zwangsläufig erkannte) Endlichkeit wirklich zu akzeptieren, ist offenbar die zentrale Triebfeder seines Schaffens.

Noch ein Wort zum Titel des Buches: Der Morgenstern, der sich als unerklärbares astronomisches Phänomen in Alltagsleben der Protagonisten schiebt, ist für den Autor insgesamt ein religiöses Symbol für einen Neubeginn oder Übergang in ein anderes Zeitalter. Auch ein paar andere ungewöhnliche Phänomene sind Zeichen dafür, dass sich Gewissheiten und Naturgesetzlichkeiten auflösen. Da passt es doch auch irgendwie, dass sich auch dieser Roman und seine Handlungen immer weiter zerbröseln…
Man kann das Ganze natürlich als eine raffiniert angelegtes literarisches Kunstgebilde ansehen, mit der der Autor kreativ und mutig die üblichen Grenzen einer Romanerzählung sprengt. Man kann allerdings auch mit einigem Recht irritiert sein, wie hier eine Erzählung sehr lebendig und lebensnah startet und in sehr subjektiven philosophischen und religiösen Betrachtungen endet.

Zu empfehlen ist es das Buch wohl nur Menschen, die eine Offenheit gegenüber tiefgründigen anthropologischen und religiösen Betrachtung haben und vielleicht auch selbst von dem Bedürfnis getrieben werden, dem rational-naturalistischen Weltbild etwas entgegenzusetzen, was den eigenen, allzu menschlichen, emotionalen Bedürfnissen mehr schmeichelt.
Der Versuch, sozusagen mit den Mitteln von Wissen, Logik und Vernunft die Vorstellung vom “ewigen Weiterleben” doch noch hoffähig zu machen, kann auch in diesem Buch nicht überzeugen.

“Was Männer kosten” von Boris von HEESEN

Bewertung: 3 von 5.

Die Zutaten: Ein spannendes, gesellschaftlich relevantes Thema, ein peppiger Zugang, ein extrem engagierter Autor, eine bewundernswerte Gründlichkeit im Ausloten des Themas und in der zugehörigen Recherche. Was will man (Mann) mehr?

Es war eine einzigartige Leseerfahrung, die letztlich auch meine Gesamthaltung zu diesem Buch geprägt hat: Während ich all die unglaublich vielen Fakten und Daten zur Kenntnis nahm, mir das aus jedem Abschnitt heraustönende persönliche Lebensthema des Autors bewusst wurde – wartete ich doch die ganze Zeit auf die eine entscheidende Stelle.
Doch genau die fehlte!

Von HEESEN ist – ich darf das mal so salopp sagen – eine Mischung zwischen “Hardcore-Feminist” und “Männerbefreiungs-Aktivist”.
Wie das zusammenpasst? Ganz einfach: Der Autor ist (felsenfest) davon überzeugt, dass es ein gemeinsamer Feind ist, der das Leben, die Selbstentfaltung und das Glück beider Geschlechter massiv einschränkt. Es ist das Patriachat!
Dieser Begriff wird in diesem Buch (gefühlt) beinahe genauso häufig benutzt wie das Wort “und”. Hinter diesem Begriff stehen all die (historisch gewachsenen) Machtstrukturen, all die gesellschaftlichen Zwänge, die verhindern, dass Menschen ihre Persönlichkeit und Potentiale unabhängig von ihrem Geschlecht entfalten können. Sie erreichen das durch ein ganzes Arsenal von Privilegien, Normen, Rollenstereotypien, Zuschreibungen, Erwartungen, Beschränkungen usw.

Holen wir kurz Luft und kommen mal zum Titel des Buches.
Der kreative Clou des Buches ist eindeutig die Sache mit dem Geld. In einer geradezu zwanghaft anmutenden Gründlichkeit spürt der Autor den Mehrkosten nach, die wir alle tragen müssen, weil es Männer gibt.
Halt! Das stimmt natürlich nicht. Diese Kosten (irgendwas über 60 Milliarden pro Jahr) entstehen, weil wir (noch) diese Männer habe: Männer, die ihre vom Patriachat geprägte (überwiegend “toxische”) Männlichkeit darin ausleben, dass sie mehr Gewalt ausüben, häufiger kriminell werden, häufiger Unfälle verursachen, sich häufiger suizidieren, weniger auf ihr Gesundheit achten, mehr Alkohol trinken usw.
Sie richten damit nicht nur direkt messbaren (volkswirtschaftlichen) Schaden an, sondern auch jede Menge Belastung und Leid bei Mitmenschen und in der Gesellschaft allgemein.
Der Autor legt aus den verschiedenen Bereichen zahlreiche Statistiken vor, aus denen er die Diskrepanz zwischen männlichen und weiblichen Kosten ermittelt (z.B. für Gefängnisaufenthalte).

Zwar ist von HEESEN von Herzen Feminist und sieht in den (typsich?) weiblichen Anteilen eher eine lebenswerte Zukunft; er setzt sich aber mit ähnlicher Vehemenz auch für die Interessen seiner Geschlechtsgenossen ein – egal ob sie unter Berufsstress leiden, keine erfüllenden Beziehungen zu ihren Kindern haben oder selbst das Opfer von Beziehungsgewalt werden.
Das wird insbesondere im zweiten Teil des Buches deutlich, in dem es nicht mehr um Statistiken geht, sondern um die gesellschaftlichen Stellschrauben, die bisher das ganze System am Laufen halten – und die somit dem Patriachat potentiell die Luft abdrehen könnten: Erziehung, Arbeitswelt, Medien, Kultur usw. Der Autor macht sehr konkrete Vorschläge, welche Strukturen und Institutionen notwendig wären, den notwendigen Umschwung einzuleiten (z.B. durch verschiedenste Beratungsangebote).
Ganz sicher ist der Autor übrigens, dass die Männerwelt relativ rasch erkennen würde, dass ihr Privilegienverlust mehr als ausgeglichen würde durch die Befreiung aus dem Druck der männlichen Rollenerwartungen und den dazugewonnenen Verhaltensoptionen.

Und? Haben Sie etwas vermisst?
Ich auch!
Für mich war es beim besten Willen nicht vorstellbar, dass so ein Buch geschrieben werden könnte, ohne dass die Frage der biologischen (Mit-)Prägung von Männlichkeit überhaupt gestellt würde!
Nicht überrascht hätte mich ein Kapitel, in dem “biologistische” Erklärungsansätze zurückgewiesen oder relativiert worden wären. Man hätte z.B. Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen dem Testosteron-Spiegel und der Risikobereitschaft junger Männer ja z.B. methodisch hinterfragen können. Man hätte überhaupt alle Experimente, die nach biologischen Einflussfaktoren suchen, als ideologiegesteuerte Rückzugsgefechte des Patriachats geißeln können.
Aber wie bitte kommt man auf die Idee, bei einem Buch über die “Kosten der Männlichkeit” die biologische Variable schlicht zu ignorieren – sie also noch nicht mal zurückzuweisen!? Wie total muss man in der Blase der monokausalen Weltsicht (in der Geschlecht ausschließlich etwas Zugeschriebenes ist) gefangen sein, um das hinzukriegen?

Noch einmal: Von HEESEN hat ein echt anregendes, extrem faktenreiches und über weite Teile zukunftsweisendes Buch geschrieben. Die meisten seiner Visionen und Vorschläge in Richtung Geschlechtergerechtigkeit sind für fortschrittlich geprägte Menschen sicher unterstützenswert (einige vielleicht eher utopisch).
Um so ein umfangreiches Projekt zu schultern, braucht es eine Riesenportion Energie und Durchhaltevermögen. Man spürt diesem Text an, dass hier jemand all seine Überzeugungen und Werte für sein Lebensthema mobilisiert hat – mit eindeutigem Ziel und einem klar definierten Gegner.
Etwas weniger Überengagement und Kampfesgeist hätte dem Buch wohl gutgetan. Es wäre weniger redundant und ein bisschen differenzierter geworden. Vielleicht hätte es damit noch ein paar mehr Menschen erreicht.

“Der fröhliche Nihilist” von Wendy SYFRET

Bewertung: 3.5 von 5.

Ein ungewöhnliches Buch, das durch seine Heterogenität überrascht!
Es ist eine philosophische Betrachtung, enthält sehr subjektive Lebensweisheiten bzw. Erfahrungen und spiegelt das Lebensgefühl einer bestimmter (progressiven) kulturellen Szene.
Diese Mischung macht dieses Buch faszinierend und manchmal auch etwas anstrengend, weil die Blickwinkel oft sehr plötzlich und radikal gewechselt werden. Aber langweilig ist es ganz sicher nicht.

Die australische Autorin geht von der zentralen These aus, dass es zwei Sorten von Nihilismus gibt. Und ein bisschen ist sie wohl auch der Meinung, dass dies ihre ganz eigene Erkenntnis ist, die sie zur Grundlage dieses Buches gemacht hat.

Der Nihilismus selbst wird zunächst einmal als Lebenseinstellung definiert, in der kein Platz für vorgegebene, objektive, höhere, allgemeingültige Sinngebungen ist. Es werden also alle Systeme, Theorien oder Offenbarungen in Frage gestellt, die dem menschlichen Leben eine übergeordnete Bedeutung, ein Ziel oder eine Bestimmung zusprechen.
Anders ausgedrückt: Ein Nihilist akzeptiert die vermeintlich erschütternde Tatsache, das sowohl das Leben allgemein als auch das jeweils individuelle Sein letztlich ein kosmisches Zufallsprodukt darstellen. Aus dieser Perspektive ist letztlich alles menschliche Streben nach Reichtum, Ruhm, Ehre, Moral usw. sinn- und bedeutungslos und wird wird sowieso nach spätestens zwei bis drei Generationen im ewigen Vergessen aufgehen.

Diese nihilistische Weltsicht führt – so SYFRET – normalerweise zu einem zynischen, egoistischen und menschenfeindlichen Verhalten: “Wenn schon mein eigenes Leben keine weitergehende Bedeutung hat, warum dann nicht alles ohne Rücksicht auf andere mitnehmen was möglich ist?” Diese finstere Form des Nihilismus wird von der Autorin abgelehnt und sie führt Beispiele an, wohin diese Haltung in totalitären Systemen und einem ungesteuerten Turbo-Kapitalismus geführt haben.

An diese Stelle setzt die Autorin einen menschenfreundlichen (“fröhlichen”) Nihilismus, der die Abwesenheit von übergeordneten Sinngebungen (ebenfalls) als persönliche Freiheit versteht – allerdings als eine Freiheit, die nicht zur rücksichtslosen Ausbeutung von Natur und anderen Menschen führt, sondern den Druck nimmt, bestimmten vorgefertigten Sinnzielen nachzujagen. Wenn Reichtum, Karriere, religiöse Pflichterfüllung und ähnliche Ziele relativiert werden, kann ich mein Leben auf die kleinen alltäglichen Freuden und Erfahrungen richten, die auf solche großen Bedeutungszuschreibungen gar nicht angewiesen sind.
Am Bei spiel des “Romantischen Liebesideals” hieße das, sich von den (totalitären) Normen und (unrealistischen) Erwartungen zu befreien und stattdessen die kleinen Genüsse von Nähe und Begegnung einfach stressfrei zu genießen und dann auch nicht am Boden zerstört zu sein, wenn die gute Zeit zu Ende ist.

Gerichtet ist das Buch eindeutig an ein jüngeres Publikum, das die Autorin auch sonst als Bloggerin und Medienschaffende anspricht. Sie scheut sich nicht, auch zuspitzend und provokativ zu formulieren. Hier wird kein ausgewogenes Sachbuch präsentiert, sondern ein bewusst persönlich gehaltenes Statement.

Letztlich ist es wohl Ansichtssache (man könnte über Definitionen streiten), ob man in der Lebenseinstellung der Autorin nicht auch eine Sinngebung findet – nur eben eine persönliche Variante außerhalb der großen allgemeingültigen Vorgaben. Sympathisch und anregend wirkt das Plädoyer auf jeden Fall – eben auch die die sehr individuelle und kreative Verbindung ganz unterschiedlicher Quellen und Gedanken. Die meisten Leser/innen müssten wohl zugestehen, dass sie diese Querverbindungen nicht ohne Weiteres selbst entdeckt hätten.

“Influencer” – von Ole NYMOEN und Wolfgang M. SCHMITT

Bewertung: 4 von 5.

Der Charakter dieses Buch ist zeigt sich spätestens beim Untertitel. Wer über das populäre Phänomen der Influencer unter der Perspektive “Die Ideologie der Werbekörper” schreibt, hat offenbar anderes im Sinn, als eine locker leicht geschriebene journalistische Betrachtung.

Der vorliegende Text unterscheidet sich also diametral von der Sorte populärwissenschaftlicher, mainstream-affiner Aufklärung, wie sie in den letzten Jahren zum Sachbuch-Standard geworden ist. Stattdessen fühlt man sich ein wenig zurückversetzt in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in denen es normal war, gesellschaftliche Phänomene aus einer kapitalismus- bzw. systemkritischen Perspektive zu betrachten und sich dabei vor einer Nähe zu marxistischem Vokabular nicht zu scheuen.
Wer sich also vor einem typisch linksorientierten Soziologensprech geradezu ekelt, sollte dieses Buch erst gar nicht in die Hand nehmen.

Für alle, die sich trotzdem diesem Buch widmen, wird eine Menge geboten. Die Autoren betrachten das Phänomen Influencer und das gesellschaftliche Umfeld, in denen sie sich bewegen, mit analytischer Sorgfalt. Dabei setzen sie keineswegs voraus, dass man sich als Leser oder Leserin in dieser Verzweigung des Internets schon auskennt. Im Gegenteil: Sie sparen nicht an Beispielen für typische Themen, Genres und Inszenierungsformen. 
Informativ wäre daher dieses Buch selbst für Interessenten, die weniger an der kritischen Einordnung, sondern einfach nur an der Vielfalt der Erscheinungsformen interessiert sind. 

In insgesamt zehn Kapiteln stellen die Autoren verschiedene Aspekte bzw. Themenbereiche dar, die zusammen ein konsistentes Bild der schönen neuen Influencer-Werbe-Welt zeichnen. Dabei spielen natürlich der Körper-Kult (Schönheit und Fitness) oder die geradezu fanatische Konsumorientierung der Web-Stars eine Rolle. Angeschaut werden aber auch die Verfestigung traditioneller Geschlechterrollen und die Tendenz, auch vermeintlich relevante Themen (Nachhaltigkeit) konsequent zu kommerzialisieren, also für die eigene Popularitätssteigerung zu nutzen.

Ein besonderes Augenmerk erhält auch die Faszination, die die oft extrem steilen Karrieren der Influencer (muss man das eigentlich gendern?) auf junge Menschen ausüben: In einer Zeit, in der ein finanzieller Aufstieg durch “normale” Arbeit immer unrealistischer erscheint, bietet die Selbstvermarktung im Netz einen (letzten?) Ausweg: Mit dem richtigen Trend zum richtigen Moment kann man es (ohne Plackerei oder Startkapital) von ganz unten nach ganz oben schaffen.
Aber auch hier tragen die Autoren zu einer Desillusionierung bei: Die besten Plätze sind inzwischen von einer Art Influencer-Elite besetzt, die ihr Terrain wirkungsvoll verteidigt.

Um es nochmal zu sagen: An keiner Stelle unterscheiden die Autoren zwischen einer sachorientierten, neutralen Darstellung all dieser Phänomene und einer ideologiekritischen Einordnung. Die Bedeutung der herausgearbeiteten Fakten und Zusammenhänge für die kapitalistische Wirtschaftsdynamik ist integraler Bestandteil der Darlegung.
Wen das stört, ist hier verkehrt. Wer so etwas sucht, liegt hier goldrichtig. Für die Menschen dazwischen könnte es sich sehr lohnen, sich einmal auf diese Perspektive und damit auf ein äußerst informatives und aufklärendes Buch einzulassen.
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man beim Begriff “kapitalistisch” nicht gleich einen Schluckauf bekommt.

“Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein” von Armin FALK

Bewertung: 4 von 5.

Über das moralische Verhalten von Menschen wird in verschiedenen Disziplinen nachgedacht bzw. geforscht. Das Nachdenken hat sich vor allem die Philosophie auf die Fahnen geschrieben, die experimentellen Forschungen wurden traditionell vor allem in der Sozialpsychologie betrieben. Die eher aus den letzten Jahrzehnten stammenden Beiträge der Verhaltensökonomen (oder Wirtschaftswissenschaftler) erweiterten die Perspektiven und Fragestellungen noch einmal deutlich.

Das vorliegende Buch des Ökonomen FALK kann als eine gut lesbare Einführung in den Themenbereich und eine fundierte Übersicht über den empirischen Erkenntnisstand betrachtet werden. Ihm ist es gelungen, einen weiten und anregenden Bogen zu spannen zwischen manchmal etwas drögen Versuchsanordnungen und der gesellschaftsrelevanten Frage, wie wir alle es schaffen könnten, unser Handeln weniger egoistisch und stärker an den Interessen der Mitmenschen und des Gemeinwohls auszurichten.

Woran man sich als erstes gewöhnen muss: Die Zunft der Wirtschaftswissenschaftler neigt extrem stark dazu, moralische (altruistische, empathische) Einstellungen und Entscheidungen in Euro zu messen. Das klingt vielleicht im ersten Moment etwas abstrus, ist aber durchaus ernst gemeint: Finanzielle Erwägungen bilden ein für alle (Versuchspersonen, Forscher, Öffentlichkeit) nachvollziehbares und extrem gut handhabbares Kriterium dafür, wie selbstbezogen bzw. sozial Menschen unter bestimmten kontrollierten (also experimentellen) Bedingungen entscheiden. Wie teilen sie einen geschenkten Geldbetrag auf? Wieviel Euro ist ihnen das Leben eines Versuchstieres wert? Wie beeinflussen Vorinformationen die Spendenbereitschaft für Notleidende? Wie (finanziell) fair handle ich unter der Bedingung, dass ich selbst nicht auf die Fairness meines Gegenübers angewiesen bin?

Die Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen steht im Mittelpunkt dieses flüssig geschriebenen pupulärwissenschaftlichen Buches. Das wird manche enttäuschen, die sich unter dem Begriff “guter Mensch” eher sehr prinzipielle und abstrakt-philosophische Grundsätze vorstellen. Doch die Verhaltensökonomie mag das Pragmatische und nähert sich so eher den Fragen der Alltagsmoral.
Mit seinen gesellschaftlichen Bezügen zu den großen Herausforderungen der Gegenwart (z.B. des Klimawandels) sorgt FALK dafür, dass es an Relevanz seiner Betrachtungen nicht mangelt. Wenn er z.B. herausarbeitet, dass moralisches Handeln wahrscheinlicher wird, wenn es unter der Bedingung der Gegenseitigkeit (Reziprozität) stattfindet, das eigene Tun von anderen beobachtet wird und als Ausdruck einer gemeinsam getragenen Gruppennorm erlebt wird, dann – so fordert es der Autor auch eindeutig – sollte die Gesellschaft eben dafür sorgen, dass diese Bedingungen auch geschaffen werden.

Mit diesem Plädoyer für ein gesellschaftliches Regelwerk, das eben nicht das egoistische, sondern das gemeinwohlorientierte Tun attraktiv macht, verlässt FALK endgültig den wissenschaftlichen Elfenbeinturm und mischt sich politisch ein. In diesem Sinne stellt die Verhaltensökonomie den Werkzeugkoffer bereit, in dem sich Politiker im Interesse aller bedienen könnten (wenn sie nicht vor den vermeintlichen “Freiheitskämpfern” zurückschrecken würden, die in jeder gesellschaftlichen Lenkung eine fiese ideologische Manipulation wittern – um dann diese Manipulation ohne Zögern dem “freien Markt” zu überlassen).

Insgesamt handelt es sich um ein anregendes Buch zu einem hochaktuellen Thema. Denn ohne den Abbau des kurzsichtigen Egoismus werden die Menschheitsprobleme ganz sicher ungelöst bleiben.
Am Ende des Buches hat man dann auch weitgehend vergessen, dass man anfangs doch die ein oder andere Versuchsanordnung als ein wenig zu banal empfunden hat. Vielleicht sollten die Sozialpsychologien den Wirtschaftswissenschaftlern das Erforschen der Moral doch nicht ganz überlassen…