“Was ich nie gesagt habe” von Susanne ABEL

Bewertung: 4 von 5.

Das erste Gretchen-Buch war ohne Zweifel ein Überraschungs-Erfolg. So etwas regt zur Fortsetzung an – die Autorin und sicher auch den Verlag. Natürlich taucht daher der Name “Gretchen” auch unübersehbar auf dem Cover dieses Buches auf.
Man könnte nun befürchten, dass da schnell etwas zusammengeschustert wurde, um den positiven Move noch zu nutzen. Diese Bewertung wäre aber völlig fehl am Platz.

Man hat es wieder mit einem Buch zu tun, das in einer eher konservativen und unaufgeregten Erzählweise eine Familiengeschichte mit bestimmten inhaltlichen und zeitgeschichtlichen Themen bzw. Ereignissen verbindet. Diesmal geht es um die Reproduktionsmedizin (und deren psychische Folgen) im Schatten der medizinischen Verbrechen der Nazi-Zeit.
ABEL verknüpft diese beiden Themen erneut mit Hilfe der Familiengeschichte des bekannten Journalisten Tom und seiner (inzwischen) dementen Mutter Gretchen. Sie wendet sich diesmal der väterlichen Seite zu, also der Perspektive des (in der aktuellen Zeitebene bereits verstorbenen) Ehemannes und seiner persönlichen und beruflichen Biografie (als Gynäkologe).

In dezenten, gut nachvollziehbaren Zeitsprüngen rollt ABEL die Zusammenhänge nach und nach auf, nicht ohne dabei auch immer wieder Spannungsbogen zu schaffen. Der Ablauf des Plots erscheint gut gelungen; man hat nicht den Eindruck einer übertrieben künstlichen Konstruktion.
Überhaupt kann man sich dem Erzählfluss problemlos überlassen und fühlt sich durch die Kombination von Einzelschicksalen und Sachinhalten gut und intelligent unterhalten.
Voraussetzung für dieses positive Leseerlebnis ist allerdings die Bereitschaft, sich auch emotional anrühren zu lassen: ABEL scheut sich nicht, mit starken Worten auch starke Gefühle anzusprechen – wer in solchen Momenten gleich eine interne “Kitsch-Warnung” spürt, ist sicherlich mit diesem Roman-Genre nicht gut bedient.

Nicht unterschätzt werden sollte die Gründlichkeit und der Tiefgang, mit dem die Autorin sich der Thematik der Menschen zuwendet, die erst später in ihrem Leben damit konfrontiert werden, dass sie mithilfe einer (mehr oder weniger anonymen) Samenspende erzeugt wurden. Ebenso wie beim ersten Gretchen-Band (bei dem es um die im oder kurz nach dem Krieg gezeugten Kinder schwarzer GIs ging), hat man bei auch diesmal nicht den Eindruck, dass die Thematik nur als kleine Anreicherung einer Familien-Saga gedient hat.

Gretchen-II ist also ein durchaus niveauvoller Roman, der moderne Fragen mit historischen Aspekten verbindet und dabei den “Herz/Schmerz”-Bereich nicht ausspart.
Der Anspruch einer literarischen Bedeutung wird ganz sicher nicht erhoben.
Bleibt die Frage, ob man mit diesem Buch in die Gretchen-Welt einsteigen sollte. Es ist sicher nicht unmöglich, das aktuelle Buch als eigenständige Einheit zu betrachten und zu nutzen. Trotzdem wäre es irgendwie schade, sich den Kontext des Vorläufer-Werkes nicht zu gönnen. Die beiden Gretchen passen einfach so gut zusammen – ohne dass es zu nervigen Wiederholungen kommt.
Ob da noch ein dritter Band lauert…?

“Eine Geschichte der Welt in 100 Mikroorganismen” von Florian FREISTETTER und Helmut JUNGWIRTH

Bewertung: 4.5 von 5.

Warum liest (oder hört) man ein solchermaßen auf ein (vermeintlich) alltagsfernes Thema spezialisiertes Buch?
Nun, dass Mikroorganismen eine herausragende Bedeutung für unseren Organismus, für die Nahrungsketten und das gesamte biologische System unseres Planeten haben, hat sich in den letzten Jahrzehnten herumgesprochen.
Dass man aus der Perspektive dieser kleinsten Mit-Lebewesen die Geschichte der ganzen Welt erzählen könnte, klingt dann aber doch ungewohnt, vielleicht sogar ein wenig vermessen. Es macht auf jeden Fall neugierig!

Die beiden Autoren sind ohne Zweifel kompetente Geschichten-Erzähler. Sie finden das rechte Maß zwischen Wissenschaftlichkeit, Alltagsbezug, Unterhaltung und Humor – und auf der Basis diese Aspekte wählen sie aus der geradezu unendlichen Vielzahl der Arten genau 100 Beispiele aus (natürlich könnten es genauso gut 67 oder 423 sein).

Die Leistung von FREISTETTER und JUNGWIRTH besteht darin, genau solche Kleinstlebewesen (Bakterien, Viren, Algen, Pilze) in die Geschichten-Sammlung aufgenommen zu haben, an deren Eigenschaften, Funktionen und Bedeutungen sich eben viel mehr darstellen und erklären lässt als nur das schnöde biologische Sein des jeweiligen Organismus.
Jede der 100 kleinen, abgeschlossenen Kurzgeschichten beleuchtet zusätzliche Aspekte und bietet damit ein kleines Stück Weltverständnis – angefangen von der Systematik der Lebensformen, über die Nützlichkeit für das Alltagsleben und Überleben der Menschen bis hin zu der großen Frage, ob nicht unglaublich überlebenstüchtige Mikroorganismen z.B. auf Meteoriten die Urform des Lebendigen quer durch den Kosmos getragen haben (und weiter tragen).

Die Autoren spielen mit einem Kaleidoskop an wissenschaftlichen Fragen und Antworten, von denen die meisten auch ohne die Kenntnis der jeweils zuständigen Mini-Lebensform interessant wären. Dieses Buch wurde ganz sicher nicht geschrieben, um dem Durchschnitts-Lesenden die Namen der 100 Kleinstwesen in das Gedächtnis zu schreiben.
Was man stattdessen lernt, ist Folgendes: So vielfältig und grenzenlos die Phänomene sind, die unsere Welt ausmachen, so komplex und verzahnt all die Vorgänge sind, die uns auf diesem Planeten umgeben – so unfassbar facettenreich und bedeutsam ist die Rolle von Mikroorganismen. Und genau deshalb funktioniert es tatsächlich erstaunlich gut: die Welterklärung aus diesem besonderen Blickwinkel.

Das 100-Teile-Puzzle, das die Autoren in diesem informativen und anregenden Buch anbieten, setzt sich nicht zu einem scharfen oder gar vollständigen Gesamtbild zusammen – das wäre ein völlig unrealistischer Anspruch. Aber es entsteht ein Kunstwerk, das Konturen, Struktur und Muster hat; es macht den Betrachter schlauer, löst Staunen aus und macht auch ein wenig demütig – angesichts der unentrinnbaren Abhängigkeit, die wir als vermeintliche Krone der Schöpfung von dem System des Lebens insgesamt haben.
Ohne Mikroorganismen gäbe es uns schlichtweg nicht – es gäbe so ziemlich gar nichts! Es gab sie vor uns und es wird sie nach uns geben – lange nach uns…

“Being You” von Anil SETH

Bewertung: 5 von 5.

Dieses (leider nur in Englisch verfügbare) Buch stellt für mich zurzeit die Referenz im Bereich der populärwissenschaftlichen Publikationen zum Thema “Gehirn und Bewusstsein” dar.
Herausragend ist es vor allem deshalb, weil es nicht nur eine profunde Übersicht über die aktuellsten Bewusstseins-Theorien (insbesondere den “Funktionalismus” und die “Integrierte Informations-Theorie”) gibt – sondern gleichzeitig eine überzeugende eigene Sichtweise entwickelt.

SETH nimmt ein bestimmtes Publikum in den Fokus: Er wendet sich an die Leser/innen, die sich für die großen Grundsatzfragen interessieren. Es geht also nicht um all die hochkomplexen Experimente, die mit Hightech-Apparaturen untersuchen, was sich an welchen Stellen im Gehirn tut, wenn bestimmte Wahrnehmungen, Gedanken oder Gefühle erlebt werden.
Diese Zusammenhänge gibt es natürlich – und sie können auch hochinteressant sein. Aber sie beantworten nicht die existentiellen Fragen, die sich an der Grenze zwischen Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften stellen: Wie stellt unser Gehirn ein Bild über die äußere Realität her? Warum gibt es überhaupt das bewusste Erleben? An welche Bedingungen ist es geknüpft? Welche Funktion hat es im evolutionären Überlebenskampf? Welches Ausmaß an Bewusstheit kann anderen Lebewesen zugesprochen werden? Werden Computer oder Roboter mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI) bald selbst empfindungsfähig werden? Wie eng hängen Intelligenz und Bewusstsein zusammen? Kann man den Grad von Bewusstheit von außen messen? Was ist mit der Willensfreiheit? Ist es überhaupt denkbar, dass wir das Rätsel des Bewusstseins jemals lösen?

Tatsächlich gibt der Autor auf all diese Fragen Antworten – nicht mit der Selbstgewissheit eines Gurus, aber mit dem Optimismus und der Erfahrung eines Experten, der seit Jahrzehnten die Fortschritte der Neurowissenschaften mitgeprägt hat.
Seine Grundbotschaft lautet: Wenn man nur die richtigen Fragen stellt und weit genug in die Basis des Lebens eintaucht, erscheint der Graben zwischen den “normalen” Lebensprozessen und dem Basisgefühl “zu sein” (also irgendwie zu existieren) gar nicht mehr so tief bzw. breit zu sein. Für ihn fängt also Bewusstsein nicht erst bei abstrakten Denkvorgängen oder der Selbstreflexion an, sondern bei einem ganz basalen “sich selber als etwas spüren” (alles, was darauf aufbaut, kann sowieso davon abgeleitet werden und macht keinen qualitativen Sprung mehr aus).

SETH startet mit der Wahrnehmung und führt (sehr gründlich) aus, dass unser Gehirn eine geniale Vorhersagemaschine ist, die unaufhörlich damit beschäftigt ist, die Unterschiede zwischen erwartetem und realem sensorischen Input zu berechnen und zu minimieren. Was entsteht, ist kein naturgetreues Abbild der Außenwelt, sondern sind die (statistisch) wahrscheinlichsten Hypothesen über die Aspekte der Umwelt, die für eine lebenserhaltende Steuerung des Verhaltens bedeutsam sein könnten. SETH nennt die Ergebnisse sogar “kontrollierte Halluzinationen” – um deutlich zu machen, wie aktiv und eigensinnig das Gehirn dabei vorgeht (wie diverse Alltagstäuschungen und raffinierte Experimente belegen).

Von da aus ist der Weg nicht mehr weit zu der Annahme, dass das Ziel der Lebenserhaltung bei einem so komplexen und anpassungsfähigen Wesen wie uns (und vieler anderer Tiere) ohne eine komplexe innere Steuerung nicht denkbar wäre. Für eine solche Steuerung brauchen wir auch jede Menge Wahrnehmungen aus unserem eigenen Körper, die wiederum (ebenfalls über Vorhersagen und das Minimieren von Abweichungen) zu einem pragmatischen Modell zusammengesetzt werden, aus dem letztlich das “Gefühl zu sein” entsteht; letztlich auch eine Art “Halluzination”, die unserem Gehirn nützt, um die richtigen Entscheidungen zu fällen. Dazu gehört zwingend ein Grundempfinden dafür, welche Zustände angestrebt werden müssen – die Basis für alle komplexeren Emotionen.
Entscheidend für SETH ist, dass das Ganze kein Zauberwerk ist, sondern sich aus den Basisstrukturen und -prozessen des Lebens schrittweise ableiten lässt. Auch das Bewusstsein seiner Selbst setzt sich aus Teilfunktionen zusammen, die auch einzeln beobachtet und (durch Krankheit oder Experiment) irritiert werden können.
Anders als in dieser extrem komprimierten Form, wirken die Darlegungen des Autors plausibel, nachvollziehbar und folgerichtig. Natürlich finden diese Überlegungen nicht im luftleeren Raum statt, sondern werden auf zahlreiche Beobachtungen und Befunde bezogen.

Ziemlich fest legt sich SETH hinsichtlich der Verteilung des Bewusstseins bei Tieren und bei zukünftigen digitalen Konstruktionen: Da er eine extrem enge Verbindung des “sich selbst Erlebens” mit grundlegenden biologischen Mechanismen sieht, spricht er großen Teilen der Tierwelt grundlegende Empfindungsfähigkeit (“etwas zu sein”) zu, bezweifelt diese Möglichkeit aber für absehbare Zeit (vielleicht sogar prinzipiell) für intelligente Maschinen (SETH warnt davor, Intelligenz und bewusstes Erleben gleichzusetzen).

Das Buch ist eine wahre Fundgrube für Menschen, die neugierig darauf sind, wie nahe die Hirnforscher dem Bewusstsein schon gekommen sind. Der Autor versteht es, diese Fragen so zu stellen und zu beantworten, dass man als interessierter (und etwas vorgebildete) Laie einen Bezug zu den großen Fragen des Lebens, aber auch zum normalen Alltag findet.
SETH gehört zu den Wissenschaftlern, die glücklicherweise auch ein großes didaktisches Geschick haben.
Der Text ist so gut strukturiert und aufeinander bezogen, dass er (für etwas geübte Leser/innen) auch auf Englisch gut verständlich ist.
(Das kann man übrigens auch bei seinem Vortrag über das Buch ausprobieren: https://www.youtube.com/watch?v=qXcH26M7PQM&t=728s).

“Die Vernunft und ihre Feinde” von Thilo SARRAZIN

Bewertung: 3 von 5.

Normalerweise muss man sich als Rezensent nicht rechtfertigen, warum man ein bestimmtes Buch gelesen hat; selten wird jemand anzweifeln, dass dafür eine irgendwie nachvollziehbare Motivation bestand. Bei SARRAZIN liegt die Sache ein wenig anders: Seine Bücher zu lesen ist und wird oft mit einem Bekenntnis zu seiner Weltsicht und seinen politischen Aussagen verbunden.
Es besteht eine klare Aufspaltung zwischen seinen (oft begeisterten) Anhängern und (meist kategorischen) Gegnern – was dazu führt, dass viele seiner Kritiker sich auf einzelne (meist provokante) Aussagen beziehen, oft ohne die gesamten Bücher gelesen zu haben (weil man das einfach “nicht tut” oder es vermeintlich gar nicht aushalten könnte).
Ich hatte mir spätestens nach seinem “Tugendterror”-Buch meine Meinung gebildet und war nicht davon ausgegangen, noch einmal in Versuchung zu geraten. Doch dann dieser Titel (und die Ankündigung): Wenn sich jemand auf mein Lieblingsgebiet begibt (die Vernunft) und antritt, sie zu verteidigen – dann muss ich einfach überprüfen, ob wir die gleiche Vernunft meinen bzw. ob sich dort tatsächlich Gemeinsamkeiten auftun könnten.
Oder – anders formuliert: Würde es mir gelingen, seine Art des Vernunfts-Bezuges als Spiegelfechterei zu entlarven? Wie groß würde die intellektuelle Herausforderung werden?

Zunächst muss man davon ausgehen, dass man in SARRAZINs Büchern immer seine gesamte Weltsicht aufgetischt bekommt (egal wie die Bücher dann heißen). Im aktuellen Buch ist das besonders einfach, weil man natürlich jedes Thema unter der Perspektive “Vernunft” oder “Ideologie” betrachten kann.
Die Vielschichtigkeit des Buches geht noch über die angesprochenen Bereiche hinaus: Der Autor beschreibt ausführlich seinen privaten und beruflichen Werdegang und setzt sich gründlich mit erkenntnisphilosophischen Fragen und Richtungen auseinander. Er liefert auf der Grundlage seiner ökonomischen, historischen, soziologischen, psychologischen und politischen Erkenntnisse eine Analyse nahezu aller Gegenwartsprobleme und nimmt sich schließlich mit einer “ideologiekritischen” Perspektive das Regierungsprogramm der aktuellen Ampel-Koalition vor (mit wenig überraschendem Ergebnissen).

Was ist mir besonders aufgefallen und wie bewerte ich das?
1) SARRAZIN hat zwar pointierte Meinungen, aber er ist kein “rechter Hetzer” – was gerade auch für dieses Buch gilt. Er mutet an bestimmten Punkten durchaus auch seinem “Unterstützer-Milieu” einige “Wahrheiten” zu. So verlangt er z.B. die Anerkennung von wissenschaftlichen Erkenntnissen – u.a. in der Corona-Frage; Corona-Leugner oder auch Klimawandel-Leugner können sich keineswegs auf ihn berufen; allerdings relativiert er im weiteren Verlauf die Notwendigkeit einer wirklich konsequenten Klimaschutzmaßnahmen).
2) Das Buch hat durchweg ein bemerkenswertes Niveau und eignet sich ganz sicher nicht für Leute, die nur irgendwelche Parolen für Querdenker-Demos suchen. SARRAZIN ist ohne Zweifel ein sehr belesener und gebildeter Mensch und spricht eher ein intellektuelles Publikum an als den Bildzeitungs-Leser.
3) Aus den biografischen Schilderungen lassen sich sehr gut die Grundhaltungen ableiten, die der Autor insbesondere in den Bereichen “Selbstverantwortung, Leistung, Anstrengung, literarische und intellektuelle Grundorientierung, Distanz zu Marxismus und Kommunismus” ausgebildet hat.
Er kann selbst diese Zusammenhänge sehen und für prägend befinden.
Das ändert allerdings nichts daran, dass er letztlich den Menschen, die in ihrem Umfeld weniger Ressourcen (Willenskraft, Disziplin, Durchhaltevermögen, …) ausbilden konnten, die Verantwortung dafür zuspricht (z.B. für ihren geringeren Fleiß).
4) Es wird in einer bemerkenswerten Klarheit deutlich, dass SARRAZIN von Beginn an mit einem eindeutigen Ziel in die SPD eingetreten und dort an exponierten Stellen (durchaus erfolgreich) mitgearbeitet hat: Er wollte diese Partei so marktliberal wie möglich halten und weitergehenden linken (speziell marxistischen) Einflüssen entgegenarbeiten. Die SPD war nie die Partei seines Herzens – er hatte nur die Analyse angestellt, dass er für seine konservativen Ziele in einer eher linken Partei mehr erreichen könnte, als in einer Partei, die seine Überzeugungen direkt vertritt.
Um so abwegiger erscheinen seine (inzwischen aufgegebenen) Bemühungen gegen einen Parteiausschluss: Es ging nicht darum, dass er dort seine “Heimat” verlieren würde; die politische Heimat liegt am ehesten zwischen dem rechten Teil der FDP und dem bürgerlichen Teil der AfD.
5) Für sich selbst reklamiert der Autor als Hauptanliegen seines Buches, für eine offene, freie Gesellschaft einzutreten, in der in Erkenntnisfragen (wo es also um Wahrheit und nicht um Werte geht) nicht die Ideologie, sondern die wissenschaftliche Empirie zählt.
Erfrischend direkt und klar vertritt SARRAZIN dabei eine eindeutig säkulare Haltung, in der Religion, Aberglaube und Verschwörungstheorien als gleichermaßen irrational bewertet werden. Der Punkt geht an ihn!
Nicht zu übersehen ist allerdings, dass sein Gespür für links-grüne Ideologie (z.B. im Gender- und Islam-Bereich) deutlich sensibler ausgeprägt ist, als dies auf der konservativen Seite (Leistungsgesellschaft, Familienpolitik) der Falle ist.
6) Noch mehr als um Vernunft geht es in dem Buch aber letztlich um ein grundlegendes politisches Ziel: SARRAZINs große Mission ist die Rehabilitation eines gemäßigt-rechten Konservatismus: Er will die – aus seiner Sicht – verschobenen Abgrenzungslinien zu bestimmten Haltungen hinsichtlich “kulturfremder” Einwanderung, einem traditionellen Familienkonzept, einer restriktiven Drogenpolitik und der Ablehnung der Gendersprache so korrigieren, dass diese nicht (von linkslastigem Mainstream und Medien) als “rechtsradikal” und moralisch-minderwertig ins Abseits gedrängt werden.
Diesem Ziel muss man sich nicht anschließen – es erscheint aber zumindest legitim, sich dafür einzusetzen.
7) Bleiben noch die besonders kontroversen Bereiche rund um den schon in seinen anderen Büchern ausgeführten Zusammenhang zwischen Erblichkeit von Intelligenz, kultur- und religionsspezifischer Reproduktionsrate (Kinderzahl) und den darin gesehenen Gefahren für den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg unserer Gesellschaft.
Das Thema ist zu grundsätzlich und zu groß für eine Rezension.
Hier bietet SARRAZIN am ehesten ein Angriffsfläche – aber er kann und will scheinbar nicht davon lassen . Die Frage ist: Darf man so denken, darf man das schreiben? Ich denke schon.

Ich empfehle dieses Buch nicht. Es ist aber auch nicht uninteressant, wenn man sich selbst dabei erproben und beobachten möchte, wie weit man SARRAZINs Argumentationslinien folgen kann – und wann es aus welchen Gründen kippt.
Wenn man sich als (eher links-grüner) Leser/in auf dieses Buch einlässt, sollte man sich jedenfalls nicht wundern, wenn man vieles nicht nur nachvollziehen kann, sondern sich immer wieder mal beim zustimmenden Nicken erwischt.
Keine Sorge: Die Stellen mit dem Ärger und dem Widerspruch kommen…
Vielleicht kann es ja tatsächlich intellektuell anregender sein, sich ein solches zwiespältiges Buch zuzumuten, statt die 35. Publikation aus dem eigenen Lager zu lesen.
Aber das ist natürlich Geschmackssache…

“Bewusstsein – Warum es weit verbreitet ist, aber nicht digitalisiert werden kann” von Christof KOCH

Bewertung: 4 von 5.

KOCH ist einer der ganz Großen der modernen Hirnforschung. Auch dieses Buch wird man daher als eine Art Maßstab dafür ansehen können, wieweit diese aufregende Wissenschaft inzwischen gekommen ist (Stand 2019).

Der Autor hat keine Angst vor den ganz großen Fragen – auch nicht vor den Rätseln, die man bis vor kurzem noch unlösbar hielt: Wie kann man den Zusammenhang erklären zwischen messbaren hirnphysiologischen Prozessen und den aus Innensicht erlebbaren Bewusstseinsinhalten? Was sind die notwendigen Voraussetzungen für bewusstes Erleben? Ab welchem Entwicklungsstand von tierischen Gehirnen sollte man von einem “sich selber Erleben” aus gehen? Ab welchem Komplexitätsgrad von digitalen Denkapparaten muss man vielleicht auch hier Empfindungsfähigkeit unterstellen?

KOCH führt uns zunächst an den Forschungsstand im Gehirn selbst: Was passiert dort an welchen Stellen, wenn ein bestimmtes Erleben berichtet wird? Das ist schon anregend und spannend genug.
Doch er will noch tiefer eindringen: Er will eine Theorie liefern, die erklärt und begründet, warum es unter bestimmten Bedingungen zu Bewusstsein kommt (kommen muss). KOCH ist davon überzeugt, mit der “Integrierten Informationstheorie” (IIT) eine bedeutsame Spur gefunden zu haben, aus der sich sogar schon Vorhersagen und praktische Anwendungen ableiten lassen.
Dann geht es den Computern an den Kragen: KOCH bezweifelt die Prognosen einiger Technik-Enthusiasten, dass schon auf der Grundlage heutiger Rechensysteme auch digitales Bewusstsein möglich werden könnte. Der gegenwärtigen Hard- und Software fehlen einige grundlegende Komponenten, die KOCH als notwendige Bedingungen ansieht.
Um so großzügiger geht er mit unseren evolutionären Vorgängern und Mitgeschöpfen um: Für KOCH steht zweifelsfrei fest, dass die Schwelle für so etwas wie “sich spüren” sehr weit unten in der Hierarchie der Gattungen liegt. Auch das leitet er wissenschaftlich und theoretisch ab; gleichzeitig macht der Auto im Schlusskapitel auch deutlich, dass er an diesem Punkt auch eine ethische Berufung spürt und für Konsequenzen im Umgang mit (fast) allen Tieren wirbt.

Die im Zentrum des Buches stehende ITT (Integrierte Informationstheorie) hat einen Nachteil: Sie ist ein ziemlich abstraktes Konzept, eher ein Set von Axiomen als eine anschauliche Erklärung. Die Theorie hat zwar den Vorteil, einen Rahmen für viele Beobachtungen und Prozesse zu liefern und sogar Berechnungen über das Ausmaß vorhandenen Bewusstseins zu ermöglichen – ihr fehlt es aber am Charme einer unmittelbaren Plausibilität.
Die kürzeste Formulierung wäre etwa: “Jedes Erlebnis existiert für sich, ist strukturiert, hat seine spezifische Art zu sein, ist eine Einheit und definit.” Etwas gefälliger ausgedrückt: “Bewusstsein ist eine fundamentale Eigenschaft von allem, was sich selbst ursächlich wirksam beeinflussen kann.”
Staunend verfolgt man über viele (herausfordernde) Seiten, wie sich all diese bedeutungsschweren Begriffe theoretisch, logisch und mathematisch füllen und auf biologischer bzw. physiologischer Ebene repräsentieren lassen.
Das ist Hardcore!

Ein wenig Aufatmen ist angesagt, wenn es dann um die praktischen Anwendungen geht: Aus der ITT lassen sich klinische Messverfahren ableiten, die Bewusstseinsspuren auch bei Patienten entdecken können, die sich in absolut keinster Weise mitteilen können. Man arbeitet mit dem neuronalen Echo auf bestimmte externe Hirnstimulationen.
Auch hier geht es ins Detail…

Hier kann nicht jede Facette dieses faszinierenden Buches angesprochen werden.
Allgemein lässt sich sagen: KOCH hat die Neigung, wirklich jede Verästelung seines Theoriegebäudes zu erforschen (bzw. vorhandene Ergebnisse darauf zu beziehen). Kein Gedanke scheint ihm dabei zu “schräg” zu sein (bis hin zu der Frage, unter welchen Bedingungen sich mehrere Gehirne zu einem Ganzen vereinigen würden und was es mit dem “Reinen Bewusstsein” auf sich hat).

Insgesamt würde ich dieses Buch eindeutig als Fach- und nicht als Sachbuch einordnen. Es ist zwar von der Intention und der Ansprache her an ein breiteres Publikum gerichtet, setzt aber bzgl. des Inhalts wirklich eine erhebliche Anstrengungsbereitschaft voraus. Dies ist außerhalb eines spezifischen wissenschaftlichen Interesses kaum zu erwarten.
Dazu kommt: Die hier vorgestellte Theorie ist so sperrig und spröde, dass der erhoffte Erkenntnis-Funken nicht so recht überspringen möchte.
Ohne Zweifel erkundet man unter der Begleitung von KOCH (der mit Sicherheit geniale Züge hat) interessante Sphären – die angebotenen Antworten lassen sich aber nicht ohne Weiteres in der nächsten privaten Gesprächsrunde unterbringen.
Man wird wohl etwas einsam bleiben – mit den in diesem Buch gemachten Erfahrungen…


“Die Illusion der Vernunft” von Philipp STERZER

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Psychiatrie-Professor STERZER hat hier ein Buch vorgelegt, in dem – über sein Fachgebiet hinaus – vor allem Erkenntnisse aus der (kognitiven) Psychologie, der Neuro-Wissenschaften und der Evolutions-Biologie zusammenfließen.
Herausgekommen ist dabei eine sehr spezielle Mischung, deren Inhalt und Schwerpunktsetzung aus dem Titel (und Untertitel) nicht abzuleiten ist.
Das große Thema des Buches ist die gemeinsame Sicht auf das Entstehen, den Wahrheitsgehalt (die Rationalität), die Funktionalität und den evolutionären Vorteil von Überzeugungen sowohl bei gesunden, als auch bei psychisch kranken Menschen.

Ganz eindeutig liegt der psychiatrische Interessensschwerpunkt des Autors im Bereich der Schizophrenie, insbesondere bei der häufig auftretenden Wahnsymptomatik. Grob gesagt behandelt STERZER solche Wahnideen als eine Sonderform von Überzeugungen und untersucht, in welchem Umfang diese den gleichen “Gesetzmäßigkeiten” und Dynamiken unterliegen wie die ganz “normalen” Überzeugungen von Durchschnittsmenschen.
Ihn interessiert dabei insbesondere, warum (in beiden Fällen) so häufig offensichtlich “irrationale” (empirisch nicht haltbare) Überzeugungen entstehen und sich gegen massive Widerstände (andere Meinungen, Fakten, eigene Erfahrungen) behaupten.
Erklärungen findet der Autor in (allseits bekannten) kognitiven Verzerrungstendenzen, in grundlegenden neurologischen Mechanismen und in den evolutionären Überlebensvorteilen.

Die zentralen Thesen von STERZER ranken sich um die “Predictive-Processing-Theorie”, also der Sichtweise, dass unser Gehirn eine (ziemlich geniale) Vorhersage-Maschine ist, die permanent damit beschäftigt ist, aufgrund bisheriger Wahrnehmungen und Erfahrungen die zukünftigen Ereignisse (Sinnesreize) zu antizipieren. Meldungen an die höheren Hirnzentren finden nur bei Abweichungen von den Prognosen statt – was eine sehr effiziente Möglichkeit darstellt, das Gehirn zu entlasten.

Der Autor will ganz allgemein Abweichungen von der “Rationalität” enttabuisieren und entpathologisieren: Unser Säugetier-Gehirn ist nicht auf Wahrheit oder Vernunft programmiert, sondern auf Nützlichkeit für Überleben und Fortpflanzung. Da heiligt der Zweck oft die Mittel: Bestimmte Verzerrungen und Irrationalitäten können durchaus einen evolutionäre Vorteil mit sich bringen (z.B. die Konzentration auf mögliche Gefahren und das “übertriebene” Erkennen von Mustern, Kausalitäten bzw. Absichten).
In diesem Zusammenhang wirbt STERZER mehrfach zu Selbstkritik und Toleranz: Sind wirklich nur die Überzeugungen anderer Menschen mit soviel Irrationalität getränkt und so immun geben Logik und Empirie?

STERZER bietet ein hochinteressantes, didaktisch gut aufbereitetes und allgemeinverständliches Buch, das lobenswerter Weise stark interdisziplinär ausgerichtet ist. Viele Beispiele sind alltagsbezogen; Fachchinesisch wird weitgehend vermieden.
Einschränkend wäre allerdings zu bemerken, dass der Autor sich an einigen Stellen doch ein wenig festbeißt und dann auch eine gewisse Redundanz entsteht (manche Schlussfolgerungen liest bzw. hört man dann doch ein paarmal zu oft…).
Auch wird nicht für jede/n Leser/in der doch sehr starke Bezug auf (schizophrene) Wahnsymptomatik so interessant und relevant sein: Man muss schon ein gewisses Interesse an dieser psychiatrischen Störung mitbringen, um in vollem Umfang von den Ausführungen zu profitieren.

Trotzdem: “Die Illusion der Vernunft” ist ein anregender Ausflug in die Kognitionswissenschaften; da man von STERZER gut begleitet wird, ist er durchaus auch für wenig geübte Reisende geeignet.

“System Error” von Solveig ENGEL

Bewertung: 3 von 5.

Es liegt voll im Trend, Bücher über den – aktuellen oder drohenden – Überwachungsstaat zu schreiben. Man muss nicht lange nach einem Stoff suchen, wenn man sich z.B. die aktuellen digitalen Systeme in China als Anregung nimmt.
Es fehlt dann nur noch ein passender Plot – und schon ist der nächste warnende Blick in die nähere Zukunft fertig.

In diesem krimi-affinen Roman geht es um einen ganz besonderen Big-Data-Algorithmus, der in der Lage ist, Verbrechen nicht nur aufzuklären, sondern letztlich sogar vorherzusagen. Entwickelt wird dieser geniale Code in einer privaten Firma, die durch zwei Teilhaber getragen wird, die sich im Laufe der Story zu unerbittlichen Gegnern entwickeln.
Während Marow einer echten Berufung folgt und der absoluten Korrektheit seiner Software verpflichtet ist, denkt der windige Kyle eher an Geld und Macht.

Als zentrale Bewährungsprobe für die Genialität des Verbrecher-Aufspür-Codes dient die Entlarvung eines bis dahin unbescholtenen Journalisten. Nach diesem spektakulären Erfolg stand dem Siegeszug des Programms nichts mehr im Wege. Kaum jemand zweifelte noch an seiner Schuld…
(Ganz nebenbei gerät dieser Ravi noch in eine rechtsterroristische Verschwörung; die Schilderung seiner Einschleusung in den inneren Kern ist dermaßen hanebüchen, dass es einem die Sprache verschlägt).
Mit von der Partie sind u.a. ein rechtslastiger Investor und ein Innenminister, der von der totalen Sicherheit für seine Bürger und Wähler denkt.

Wie fast immer geht es in dem Roman um “Gut gegen Böse”; wie leider so oft verläuft dieser Kampf ein wenig holzschnittartig und klischeehaft. In “System Error” geht es um gute und böse Programme und Programmierer, um Verrat und Intrigen, um Moral und Korruption.
Es geht auch um eine Welt, die sich nach absoluter Berechenbarkeit und Sicherheit sehnt und um eine Digitalisierung, die scheinbar unaufhaltbar in einen gesellschaftlichen Abgrund führt.

Allerdings trägt ENGELs Roman aufgrund seiner inhaltlichen Konstruktion wenig zu dem – eigentlich ja sehr spannenden – Grundsatzkonflikt zwischen “Freiheit und Sicherheit” bei: Letztlich sind es finstere Machenschaften eines Einzelnen, die das Überwachungs-System scheitern lassen – nicht die digitale Datenanalyse selbst. Man hätte gerne erfahren, was denn aus der seriösen Version des großen “Cyb-Systems” geworden wäre.
Der Showdown am Ende des Romans wirkt ein wenig aufgesetzt und kann zur Grundproblematik auch nichts mehr beitragen.

Obwohl ENGEL den Roman sprachlich ansprechend ausgestaltet, überzeugt die Geschichte inhaltlich insgesamt nicht wirklich. Man kann sich als Leser/in zwar in der Skepsis gegen Big-Data bestätigen lassen – einige Aspekte des Plots wirken aber wenig überzeugend.