“Begleiten statt verbieten” – von Leonie LUTZ und Anika OSTHOFF

Bewertung: 4.5 von 5.

Es ist noch nicht sehr lange her, da bestanden Erziehungs-Ratgeber für das digitale Leben überwiegend aus Warnungen: vor zu viel, zu früh, zu lange. Als Risiken wurden u.a. genannt: Bewegungsmangel, Wahrnehmungs- und Koordinierungsprobleme, Überfordern der Augen, Beeinträchtigung der kindlichen Gehirnentwicklung, soziale Isolation und Gewaltbereitschaft.
Es ist ein großer Verdienst des vorliegenden Buches, sich von dieser einseitigen Betrachtung endgültig gelöst zu haben, ohne die realen Herausforderungen und Gefahren der Digital-Welt zu leugnen. Als Antwort darauf bieten die beiden Autorinnen aber zeitgemäße und kreative Lösungen an, die weit über das Beschränken und Kontrollieren hinausgehen: Sie setzen auf Information, die wiederum die Grundlage für die aktive Gestaltung eines Rahmens bilden, in dem sich Kinder und Jugendliche mit zunehmender Autonomie auch digital entfalten können.
Aber sie setzen noch einen drauf: LUTZ und OSTHOFF wollen Lust machen auf aktiv gelebte digitale Familien-Kultur und geben jede Menge Anregungen für Spaß, Kompetenzerweiterung und Alltagsnutzen.

Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist sind die aktuellen und zukünftigen beruflichen Anforderungen in einer Welt, deren fortschreitende Digitalisierung wohl nur durch einen totalen Zivilisations-Bruch (wie er zurzeit leider vorstellbarer geworden ist) aufzuhalten wäre. Statt sich dieser Entwicklung voller Skepsis und Widerstand entgegenzustellen, schlagen die Autorinnen die aktive (Mit-)Gestaltung vor: “Machen wir doch das Beste daraus! Seien wir vorbereitet und gewappnet (statt panisch und vermeidend)!” (Meine Formulierung).
Der Weg dorthin ist geradezu revolutionär: Eltern werden in diesem Buch motiviert, selbst diejenigen zu sein (werden), die ihre Kinder in die Faszination der digitalen Welt einführen. So surft man sozusagen vor bzw. auf der Welle, statt ihr angestrengt und miesepetrig hinterher zu hecheln.
Der digitale Familienalltag kann aus so viel mehr als Spielen und Lernen bestehen: Das gemeinsame Erstellen von multimedialen Produktionen und Erinnerungsstücken (Foto-Sammlungen, Hörspiele, Pin-Wände, Videos, usw.).

Der Vorteil dieses offensiven Vorgehens: Es kommt erst gar nicht das Gefühl auf, dass die digitale Welt irgendwie böse oder von den Erwachsenen ungewollt ist. Noch wichtiger: Das kompetente Umgehen mit Gefahren des Internets wird als natürlicher Bestandteil des gemeinsamen Tuns erlebt (und nicht als nachträgliche, nervige Beschränkung).

Egal, ob es um Spiele, Chatten, Lernen oder Social Media geht: Es werden immer ganz konkrete Hinweise auf rechtliche Rahmenbedingungen bzw. auf Risiken und deren Eingrenzung gegeben. Da, wo kurze Anregungen (bzw. einzelne Links) nicht ausreichen, werden jede Menge Quellen für weitergehende Informationen genannt.
Natürlich werden in diesem Zusammenhang die jeweiligen Besonderheiten der bei den Kids beliebten Plattformen nachvollziehbar und differenziert beschrieben.

LUTZ und OSTHOFF lassen immer mal wieder einfließen, dass das Digitale natürlich eingebettet sein muss in eine Erfahrungswelt, in der Bewegung, Naturerleben, Ruhephasen und unmittelbare Sozialkontakte ausreichend Raum haben. Dass das in den Kreisen, in denen sich die beiden bewegen, selbstverständlich ist, wird man nicht bezweifeln.
Ob dies von allen technik-affinen Familien wirklich verinnerlicht und umgesetzt wird, muss allerdings offen bleiben.

Es gibt bei diesem Buch letztlich nur ein ABER – und für das können die Autorinnen nichts: Unbestreitbar bleibt, dass diese Form der motivierenden Aufklärung nur solche Eltern erreichen wird, die die notwendigen Voraussetzungen dafür mitbringen (Zeit, Vorbildung, materielle Ressourcen, Motivation und persönliche bzw. technische Kompetenzen).
Weil das die Autorinnen ganz sicher auch selbst wissen, werden sie nicht müde zu betonen, dass die Vermittlung von digitaler und medialer Grundkompetenzen eine Basis-Aufgabe der öffentlichen Bildung (ab der KITA-Zeit) werden muss.

Für halbwegs digital-affine Eltern stellt dieses Buch eine extrem praxisnahe Erweiterung vorhandener Haltungen und Kompetenzen dar.
Bei etwas traditionelleren (oder kritischeren) Eltern könnten die Autorinnen einen lohnenden Perspektivwechsel einleiten und damit das Verhältnis zwischen den Generationen auf Dauer entspannen. Dabei könnte z.B. helfen, dass am Ende des Textes eine umfassende Liste von Regeln vorgeschlagen werden – und zwar für Kinder, Jugendliche und Eltern. Digital-offen zu sein, heißt nämlich keineswegs, dass alles erlaubt ist.
Für Großeltern stellt dieses Buch ebenfalls eine große Chance dar: Mit dem hier dargestellten Wissen (und Verständnis) ausgestattet könnten sie als kompetente Berater oder Vermittler auftreten – und gleichzeitig dem Vorurteil entgegenwirken, dass die Älteren sowieso “raus” sind, bei diesem Thema.

Wärmstens (und dringend) empfehlen möchte ich dieses Buch allen Fachkräften, die in pädagogischen, beraterischen oder therapeutischen Kontexten mit Kinder, Jugendlichen oder Familien zu tun haben. Der hier vermittelte Kenntnisstand sollte sich möglichst rasch als Standard etablieren.

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