“Bevor es zu spät ist” von Karl LAUTERBACH

Bewertung: 4.5 von 5.

Dieses Buch ist in verschiedenerlei Hinsicht eine echte Überraschung. Im Vordergrund steht dabei sein inhaltlicher Schwerpunkt: Wer würde denn ernsthaft erwarten, dass der bekannteste (und wohl auch umstrittenste) Gesundheitspolitiker des Landes nach drei Jahren Pandemie ein ziemlich reinrassiges Klimabuch schreibt?!
Das lässt aufhorchen!

Zwar betrifft das Meta-Thema von LAUTERBACHs Betrachtungen die Bedeutung wissenschaftlicher Expertise für die zukünftige Politik. Betrachtet man aber die tatsächliche Aufteilung des Textes, findet man sich plötzlich in einer recht systematischen Darstellung des Klimawandels – mitsamt seiner Entstehungsgeschichte, seiner aktuellen Ausprägung, seiner konkret drohenden Konsequenzen (u.a. in Bezug auf Verteilungskämpfe, Klima-Migration und Wassermangel) – bis zu den möglichen bzw. notwendigen Gegenmaßnahmen (die wiederum sehr differenziert dargestellt und bewertet werden).

Und da wartet die zweite Überraschung: Diese zusammenfassende Darstellung der Klimakrise ist außerordentlich gut gelungen. Sie wäre geeignet, auch Neueinsteigern in die Thematik (falls es die noch gibt) die grundlegenden Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen – ohne mit einem Wust von Tabellen oder Schaubildern zu verschrecken. Gleichzeitig kann diese Form der Aufarbeitung auch für diejenigen nützlich sein, die schon das ein oder andere Klimabuch gelesen haben – aber vielleicht in bestimmten Teilsaspekten den Überblick verloren haben. Als Argumentationsgrundlage für die Überzeugungsarbeit mit Uninformierten oder Zweiflern kann die hier vorgelegte schlanke Klarheit und Folgerichtigkeit ganz sicher gute Dienste leisten.

Doch soll ja das Thema “Klima” eigentlich nur als Beispiel dienen für die Notwendigkeit, den großen Menschheitsproblemen mit einem größeren Einfluss von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf die Politik zu begegnen.
Gekonnt nutzt LAUTERBACH seine reichlich vorhandene Innenperspektive aus, um die Hindernisse und Widerstände zu beschreiben, die dem Einfließen empirischer Befunde in politisches Handeln entgegenstehen. Dabei verliert er sich nicht in einer radikalen Systemkritik (nach dem Motto: “die parlamentarische Demokratie ist den Herausforderungen nicht gewachsen”), sondern zeigt einiges – wenn auch leicht ungeduldiges – Verständnis für die oft schwerfälligen und mühsamen Abläufe auf dem Weg zu mehrheitsfähigen Kompromissen.
Doch mit vorbildlicher Klarheit zieht LAUTERBACH eine Grenze zwischen den “normalen” gesellschaftlichen Themen und dem Klimawandel: Hier müsse die Politik sehr viel schneller und konsequenter handeln – und zwar ab sofort und mit aller Kraft auf der Basis der Wissenschaft.

Nachdem der Autor verschiedene Varianten durchgespielt hat, plädiert er leidenschaftlich für einen spezifischen Ansatz der Verankerung von Wissenschaft in der Politik: Es ist – sicher nicht ganz zufällig – sein eigener Weg, nämlich die unmittelbare Beteiligung der Wissenschaftler/innen am politischen Entscheidungsprozess, also als Mandatsträger in den Parlamenten.

Ja, die Corona-Pandemie wird dann schließlich doch noch zum Thema gemacht. LAUTERBACH bilanziert die verschiedenen Phasen der Entwicklung und Bekämpfung dieser weltweiten Herausforderung. Für den Autor ist folgerichtig, dass Deutschland im Umgang mit Covid solange ziemlich erfolgreich gewesen sei, wie es einen engen Schulterschluss zwischen Wissenschaft und Politik gegeben habe; dieser sei aber leider in einer späteren Phase verloren gegangen.
LAUTERBACH warnt sehr eindringlich vor zukünftig drohenden pandemischen Heimsuchungen und stellt dabei – was die ganze Argumentation abrundet – besonders die Rolle der klimatischen Einflüsse auf die Einschränkung der Lebensräume für Tier und Mensch dar.

Der Mehrwert dieses Buches liegt vor allem an der besonderen Perspektive: Hier schreibt ein Wissenschaftler, der sich entschieden hat, sich ganz der (mühsamen und oft undankbaren) politische Umsetzung empirischer Erkenntnisse zu widmen. Die Übernahme der Verantwortung im Gesundheitsbereich in Zeiten von Corona hat ihn zu einer Zielscheibe für Häme und Hass gemacht.
Wie dieses Buch deutlich macht, bräuchten wir mehr Menschen mit dieser Doppel-Kompetenz (idealer Weise sollten sie auch noch begabte Kommunikatoren sein…).

Dass ein Gesundheitspolitiker ein solch engagiertes Klimabuch schreibt, kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass wissenschaftliches Denken eine Grundhaltung darstellt, die einen Transfer auf ganz verschiedene Bereiche ermöglicht.
Eine gewisse Tragik liegt vielleicht darin, dass die aufgeladene “Anti-Lauterbach-Stimmung” der Verbreitung dieses Buches bestimmte Grenzen setzen könnte.
Auf alle, die sich dadurch nicht beeinträchtigen lassen, wartet eine sehr informative und anregende Lektüre.
Es wäre allerdings sicher angemessen gewesen, den thematischen Schwerpunkt (Klima) auch schon auf dem (vorderen) Buch-Cover zu nennen.

(Lust auf andere Sachbücher? Hier meine Übersicht.)

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