“Bewusstsein – Die ersten vier Milliarden Jahre” – von Joseph LeDoux

Bewertung: 3.5 von 5.

Wenn mir ein Buch verspricht, dem Zusammenhang zwischen Gehirn und Bewusstsein noch ein bisschen genauer zu beschreiben, verbünden sich mein Gehirn und mein Bewusstsein ganz schnell in einer Weise, die für einen Widerstand keinen Platz mehr lässt: Ich bestelle das Buch (bzw. lade es runter, damit ich Sekunden später mit dem Lesen anfangen kann).
So ging es mir auch mit diesem Titel, der versprach, den Spuren des Bewusstseins bis tief in die Anfänge der Evolution zu folgen. Das hörte sich spannend an.

Tatsächlich hat diese Publikation ein Alleinstellungsmerkmal: Das erste Drittel des Buches liest sich wie eine Einführung in die Systematik der Evolutions-Biologie. In einer didaktisch vorbildlichen Art und Weise erfährt man, wie Leben überhaupt entstanden ist und wie der Stammbaum der Arten und Stämme gegliedert ist. Der Schwerpunkt dieser sehr detailreichen Analyse besteht zwar in der Suche nach ersten Formen von Informationsübertragung; dabei werden aber auch alle anderen Lebensfunktionen (nicht zuletzt die Fortpflanzung) ausführlich betrachtet.
Gerade die ersten Milliarden Jahre, in denen es um Einzeller und einfache Mehrzeller geht, liegen dem Autor sehr am Herzen; es dauert ca. die Hälfte des Textes, bis es zum ersten mal um Kognition und Denken geht.

Im letzten Viertel des Buches geht es dann um das versprochene Thema “Bewusstsein”.
Hier verändert sich die Qualität der Darstellung (zumindest in Bezug auf meine Erwartungen). Es beginnt – erwartungsgemäß – mit einer Definition verschiedener Bewusstseins-Aspekte und einem Überblick über etablierte Bewusstseinstheorien.
Was dann (über viele, viele Seiten) folgt, sind – verkürzt formuliert – differenzierte Beschreibungen, welche Gehirnarreale bei welchen Funktionen in welcher Reihenfolge und welcher hierarchischen Gliederung tätig werden. Basis dafür ist die “HOT”-Theorie (“high-order-theory”), die (grob) besagt, dass Bewusstsein entsteht, wenn eine nichtbewusste sensorische Information erster Ordnung auf einer höheren (kognitiven) Ebene “re-repräsentiert” wird.
Natürlich lernen die Leser/innen eine Menge über die strukturellen und funktionalen Bereiche des Gehirns und über die zentrale Bedeutung der Erinnerungen für das Bewusstsein (insbesondere für die Selbstwahrnehmung). Aber irgendwie springt der Funke nicht über: Man nimmt über weite Strecken nur noch Wortgeklingel wahr, ohne das damit ein spürbarer Erkenntnisgewinn verbunden wäre.
(Positiv erwähnt sei an dieser Stelle jedoch, dass die grafische Aufarbeitung aller zentralen Aussagen vorbildlich gelungen ist; wo immer es um Strukturen und Gliederungen geht, wird eine passende Illustration angeboten).

Einen weiteren Schwerpunkt setzt LeDOUX bei der Abgrenzung zwischen menschlichen und tierischen Bewusstsein. Er warnt dabei in beide Richtungen: Weder findet er es angemessen, unseren tierischen Mitgeschöpfen pauschal (höhere) Bewusstseinsprozesse abzusprechen, noch sieht er es als akzeptabel an, vorschnelle Analogieschlüsse aus unserem Selbsterleben heraus zu ziehen – selbst wenn ähnliche Verhaltensweisen betroffen sind.

Welche Kernaussagen bleiben nun zurück, wenn man das 470-Seiten-Buch (inkl. Anhänge) beendet hat?
Die erste große Erkenntnis besteht wohl darin, dass Informationsverarbeitung von Beginn an mit dem Leben verbunden ist – selbst bei den Vorformen der Einzeller. Das führt den Autor zu der grundsätzlichen Haltung, erstmal zu schauen, ob Leistungen (Verhalten) nicht auch durch basalere Prozesse erklärbar sind, die weder ein Gehirn noch ein Bewusstsein voraussetzen.
Man wird ebenfalls darauf aufmerksam gemacht, dass ein bestimmtes beobachtbares Verhalten (im weitesten Sinne gemeint) auf verschiedenen funktionalen Wegen entstanden sein kann. So könnte z.B. eine Reaktion, die beim Menschen (auch gehirnphysiologisch) eng mit einer Emotion verbunden ist, bei anderen Lebewesen durchaus ohne diese Komponente funktionieren.

Und dann wartet man auf den Schlussakkord. Man möchte gerne wissen, was ein so schlauer Mensch zu den eher philosophischen oder gesellschaftlichen Implikationen seiner Forschungen und Theorien denkt. Was ist mit dem großen Ganzen? An einer Stelle des Schlusskapitels wird Hoffnung geweckt: Der Begriff “Willensfreiheit” taucht auf.
Um so größer fällt dann die Enttäuschung aus: LeDOUX ergeht sich auf den letzten Seiten in einer allgemeinen Betrachtung zu den großen Zukunftsrisiken und stellt sich (rein abstrakt) die Frage, ob wohl der mit Selbsterleben ausgestattete Mensch diese Herausforderungen (z.B. die Klimakrise) überleben wird. Diese Ausführungen könnten in jedem anderen Buch fast genauso stehen und wirken – angesichts der Informationstiefe des Buches – geradezu peinlich banal.

Wer sich also über die biologische und evolutionäre Basis unserer geistigen Funktionen informieren möchte, ist mit diesem Buch perfekt bedient.
Wenn es darum geht, die aktuelle Bewusstseinsforschung im Zusammenspiel von Hirnphysiologie, Neuropsychologie und Neurophilosophie zu betrachten, sind dafür viele andere Publikationen besser geeignet.


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