“Der Unterschied” von Frans de WAAL

Bewertung: 5 von 5.

Wenn ich ehrlich bin, dann hat mich der Untertitel gepackt – das ist schon ziemlich toll formuliert und macht neugierig.
Selten ist meine Neugier so reichhaltig belohnt worden!

Tatsächlich hat sich der Autor (ein niederländischer Primatologe – also Menschenaffen-Forscher) in diesem Buch die Aufgabe gestellt, sich dem spannenden und hochkontroversen Thema “Sex und Gender” (also biologischem Geschlecht und empfundener Geschlechtsidentität) über den Umweg über unsere direktesten biologischen Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, zu nähern. Wobei “Umweg” schon ein problematischer Begriff ist: Für de WAAL ist es ziemlich naheliegend, die reichhaltigen Forschungsergebnisse aus der Primaten-Welt zu nutzen, um sich den biologischen Grundlagen bzw. Einflussfaktoren unserer menschlichen Geschlechtlichkeit zu nähern.

Diejenigen, die jetzt am liebsten gleich mit großem Getöse über eine “biologistische” Grundhaltung herziehen möchten, in der die Unterschiede zwischen den “instinktgesteuerten” Tieren und dem “Kulturwesen” Mensch missachtet würden, haben mit de WAAL einen schwierigen Gegner. Der Autor leugnet gar nicht, dass weitreichende Unterschiede bestehen; er arbeitet sie selbst sorgfältig heraus. Doch genauso klar und eindeutig stellt er jede Menge eindrucksvoller Belege dafür dar, dass wir hinsichtlich unserer Grundprägung als weibliche bzw. männliche Lebewesen unsere biologische bzw. evolutionäre Basis ganz sicher nicht außer acht lassen können. Sinngemäß sagt er an einer Stelle: “Wer seine biologische Prägung verleugnet, läuft vor sich selbst davon.”

Der Autor legt ein extrem facettenreiches, lebendiges und engagiertes Sachbuch vor, in dem seine Leidenschaft für die Erforschung der Primaten permanent spürbar ist. In einem Kapitel über seine Kindheit lädt er uns ein, seine persönliche Motivation für die Tierforschung aufkeimen zu sehen. In zahlreichen Einblicken in Forschungssettings bringt er sich als unmittelbarer Beobachter und Interaktionspartner seiner Lieblingstiere ein und lässt dabei seine emotionale Beteiligung nicht außen vor. Natürlich werden auch zahlreiche Befunde anderer Forscher/innen exemplarisch dargestellt und eingeordnet.
Gleichzeitig zeigt er sich als ein liberaler Humanist, der sich immer wieder gegen jede Form von Diskriminierung (bzgl. Geschlecht, Gender oder sexueller Präferenz) wendet – und zwar völlig unabhängig davon, ob es nun Hinweise auf die Bedeutung biologischer Faktoren gibt (oder nicht).

Das wirklich Besondere dieses faszinierenden Sachbuches liegt darin, dass de WAAL eben nicht bei der Tierforschung stehen bleibt, sondern sich gezielt deren Aussagekraft für die Grundfragen von Sex und Gender zuwendet. Das tut er nun aber eben nicht durch irgendwelche gewagten Analogieschlüsse, sondern auch unter Rückgriff auf Befunde und Erkenntnisse aus der “Menschenforschung”.
Das führt zu der wirklich bemerkenswerten Tatsache, dass man sich in diesem Buch tatsächlich auf den neuesten Stand der Forschung in Fragen von geschlechtsspezifischen Unterschieden, Transgender und sexueller Orientierung bringen kann – wohlgemerkt nicht bei Primaten, sondern bei uns Menschen!
Im Grunde hat dabei die Primatenforschung dabei eher eine Hilfsfunktion: Da, wo der relative Anteil der biologischen bzw. kulturellen Einflüsse besonders strittig ist, guckt der Autor einfach zu unseren behaarten Verwandten – und schafft damit in vielen (nicht in allen) Fällen zusätzliche Klarheit.

Mal ein paar Beispiele?
Ohne Zweifel ist die Präferenz von Mädchen zum Puppenspiel und zum Interesse an Babys (denen sie auch mit deutlich mehr Empathie begegnen) evolutionär fest angelegt (wobei interessanter Weise auch Affenweibchen Fürsorge und Pflege von erfahrenen Müttern lernen müssen – es ist nicht instinktmäßig programmiert).
Dass Menschenjungen nicht nur körperlich (muskulär) überlegen sind, sondern auch ruppigere soziale Umgangsformen haben, auf Rivalität und Status ausgerichtet sind und mehr Gewalt ausüben, liegt ganz sicher auch an unserem gemeinsamen biologischen Erbe.
Deutliche Zweifel ergeben sich durch die Primatenforschung an den grundsätzlich Prägung zu harmonischeren Sozialbeziehungen des weiblichen Geschlechts: Dort verlaufen die Konflikte nur weniger offensichtlich.
Ganz eindeutig wird die (gelegentlich noch geäußerte These) widerlegt, in der Natur wären – aus Gründen der Fortpflanzungs-Logik – nur heterosexuelle Spielarten der Sexualität bekannt; das Gegenteil ist der Fall (nicht zuletzt bei den Primaten).
Bei aller Eindeutigkeit wird aber auch deutlich, dass schon allein die Verschiedenheit zwischen den beiden engsten Verwandten (Schimpansen und Bonobos) der Herleitung menschlicher Prägungen aus dem biologischen Erbe Grenzen setzt. Amüsant ist in diesem Zusammenhang auch, mit welchen ideologischen Vorbehalten die – zunächst männlich dominierte – Forschergemeinschaft auf Befunde von weiblicher Dominanz und (von beiden Geschlechtern) genussvoll ausgelebter Sexualität reagierte – die dann zu allem Überfluss auch von Primaten-Wissenschaftlerinnen publiziert wurden.

Sehr sympathisch und geradezu modellhaft ist die Grundhaltung des Autors: Auf keiner Seite des ideologischen Spektrums sollten die Augen vor biologischen Tatsachen verschlossen werden. Eine fortschrittliche und tolerante Haltung bei der Gleichstellung von Geschlechtern und beim Respekt vor sexuellen Minderheiten sollte nicht auf der Basis einer Biologie-Ignoranz beruhen – denn das wäre ein sandiger Boden, der nicht auf Dauer tragfähig sein könnte.
Für de WAAL braucht die Gleichwertigkeit keine Gleichheit; es gibt also überhaupt keinen Grund, tatsächliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu verleugnen.
Wissenschaftlich geklärt ist für ihn die Tatsache, dass sexuelle Orientierung und Genderidentität als fester und unveränderlicher Teil unserer Persönlichkeit angelegt sind.

Insgesamt verbreitert dieses Buch auf eine sehr spezielle Weise den Horizont. Dabei bietet sich ein enormes Spektrum an Einblicken und Erkenntnissen – von konkreten Verhaltensbeschreibungen einzelner Primaten-Communities bis zur aktuellen Forschung über Zusammenhänge zwischen Hirnanatomie und Gender-Identität. Manche Befunde und Aussagen sind so erhellend und weitreichend, dass man sich zwischendurch die Augen reibt: Das alles liest man ausgerechnet in einem Buch eines Primatologen?!
Vielleicht fällt es einem Tierforscher inzwischen tatsächlich leichter, bestimmte biologische Selbstverständlichkeiten als solche zu benennen – gerade weil man sich nicht unmittelbar in der aufgeladenen Gender-Debatte bewegt (also eine hilfreiche Außenperspektive einbringen kann).

Ich gebe diesem Werk eine (fast) uneingeschränkte Empfehlung; allerdings muss man auch bereit sein, sich auf die ein oder andere längere Verhaltensschilderung einzulassen (die man vielleicht nicht zwingend so ausführlich gebraucht hätte.)

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