“Die Vernunft und ihre Feinde” von Thilo SARRAZIN

Bewertung: 3 von 5.

Normalerweise muss man sich als Rezensent nicht rechtfertigen, warum man ein bestimmtes Buch gelesen hat; selten wird jemand anzweifeln, dass dafür eine irgendwie nachvollziehbare Motivation bestand. Bei SARRAZIN liegt die Sache ein wenig anders: Seine Bücher zu lesen ist und wird oft mit einem Bekenntnis zu seiner Weltsicht und seinen politischen Aussagen verbunden.
Es besteht eine klare Aufspaltung zwischen seinen (oft begeisterten) Anhängern und (meist kategorischen) Gegnern – was dazu führt, dass viele seiner Kritiker sich auf einzelne (meist provokante) Aussagen beziehen, oft ohne die gesamten Bücher gelesen zu haben (weil man das einfach “nicht tut” oder es vermeintlich gar nicht aushalten könnte).
Ich hatte mir spätestens nach seinem “Tugendterror”-Buch meine Meinung gebildet und war nicht davon ausgegangen, noch einmal in Versuchung zu geraten. Doch dann dieser Titel (und die Ankündigung): Wenn sich jemand auf mein Lieblingsgebiet begibt (die Vernunft) und antritt, sie zu verteidigen – dann muss ich einfach überprüfen, ob wir die gleiche Vernunft meinen bzw. ob sich dort tatsächlich Gemeinsamkeiten auftun könnten.
Oder – anders formuliert: Würde es mir gelingen, seine Art des Vernunfts-Bezuges als Spiegelfechterei zu entlarven? Wie groß würde die intellektuelle Herausforderung werden?

Zunächst muss man davon ausgehen, dass man in SARRAZINs Büchern immer seine gesamte Weltsicht aufgetischt bekommt (egal wie die Bücher dann heißen). Im aktuellen Buch ist das besonders einfach, weil man natürlich jedes Thema unter der Perspektive “Vernunft” oder “Ideologie” betrachten kann.
Die Vielschichtigkeit des Buches geht noch über die angesprochenen Bereiche hinaus: Der Autor beschreibt ausführlich seinen privaten und beruflichen Werdegang und setzt sich gründlich mit erkenntnisphilosophischen Fragen und Richtungen auseinander. Er liefert auf der Grundlage seiner ökonomischen, historischen, soziologischen, psychologischen und politischen Erkenntnisse eine Analyse nahezu aller Gegenwartsprobleme und nimmt sich schließlich mit einer “ideologiekritischen” Perspektive das Regierungsprogramm der aktuellen Ampel-Koalition vor (mit wenig überraschendem Ergebnissen).

Was ist mir besonders aufgefallen und wie bewerte ich das?
1) SARRAZIN hat zwar pointierte Meinungen, aber er ist kein “rechter Hetzer” – was gerade auch für dieses Buch gilt. Er mutet an bestimmten Punkten durchaus auch seinem “Unterstützer-Milieu” einige “Wahrheiten” zu. So verlangt er z.B. die Anerkennung von wissenschaftlichen Erkenntnissen – u.a. in der Corona-Frage; Corona-Leugner oder auch Klimawandel-Leugner können sich keineswegs auf ihn berufen; allerdings relativiert er im weiteren Verlauf die Notwendigkeit einer wirklich konsequenten Klimaschutzmaßnahmen).
2) Das Buch hat durchweg ein bemerkenswertes Niveau und eignet sich ganz sicher nicht für Leute, die nur irgendwelche Parolen für Querdenker-Demos suchen. SARRAZIN ist ohne Zweifel ein sehr belesener und gebildeter Mensch und spricht eher ein intellektuelles Publikum an als den Bildzeitungs-Leser.
3) Aus den biografischen Schilderungen lassen sich sehr gut die Grundhaltungen ableiten, die der Autor insbesondere in den Bereichen “Selbstverantwortung, Leistung, Anstrengung, literarische und intellektuelle Grundorientierung, Distanz zu Marxismus und Kommunismus” ausgebildet hat.
Er kann selbst diese Zusammenhänge sehen und für prägend befinden.
Das ändert allerdings nichts daran, dass er letztlich den Menschen, die in ihrem Umfeld weniger Ressourcen (Willenskraft, Disziplin, Durchhaltevermögen, …) ausbilden konnten, die Verantwortung dafür zuspricht (z.B. für ihren geringeren Fleiß).
4) Es wird in einer bemerkenswerten Klarheit deutlich, dass SARRAZIN von Beginn an mit einem eindeutigen Ziel in die SPD eingetreten und dort an exponierten Stellen (durchaus erfolgreich) mitgearbeitet hat: Er wollte diese Partei so marktliberal wie möglich halten und weitergehenden linken (speziell marxistischen) Einflüssen entgegenarbeiten. Die SPD war nie die Partei seines Herzens – er hatte nur die Analyse angestellt, dass er für seine konservativen Ziele in einer eher linken Partei mehr erreichen könnte, als in einer Partei, die seine Überzeugungen direkt vertritt.
Um so abwegiger erscheinen seine (inzwischen aufgegebenen) Bemühungen gegen einen Parteiausschluss: Es ging nicht darum, dass er dort seine “Heimat” verlieren würde; die politische Heimat liegt am ehesten zwischen dem rechten Teil der FDP und dem bürgerlichen Teil der AfD.
5) Für sich selbst reklamiert der Autor als Hauptanliegen seines Buches, für eine offene, freie Gesellschaft einzutreten, in der in Erkenntnisfragen (wo es also um Wahrheit und nicht um Werte geht) nicht die Ideologie, sondern die wissenschaftliche Empirie zählt.
Erfrischend direkt und klar vertritt SARRAZIN dabei eine eindeutig säkulare Haltung, in der Religion, Aberglaube und Verschwörungstheorien als gleichermaßen irrational bewertet werden. Der Punkt geht an ihn!
Nicht zu übersehen ist allerdings, dass sein Gespür für links-grüne Ideologie (z.B. im Gender- und Islam-Bereich) deutlich sensibler ausgeprägt ist, als dies auf der konservativen Seite (Leistungsgesellschaft, Familienpolitik) der Falle ist.
6) Noch mehr als um Vernunft geht es in dem Buch aber letztlich um ein grundlegendes politisches Ziel: SARRAZINs große Mission ist die Rehabilitation eines gemäßigt-rechten Konservatismus: Er will die – aus seiner Sicht – verschobenen Abgrenzungslinien zu bestimmten Haltungen hinsichtlich “kulturfremder” Einwanderung, einem traditionellen Familienkonzept, einer restriktiven Drogenpolitik und der Ablehnung der Gendersprache so korrigieren, dass diese nicht (von linkslastigem Mainstream und Medien) als “rechtsradikal” und moralisch-minderwertig ins Abseits gedrängt werden.
Diesem Ziel muss man sich nicht anschließen – es erscheint aber zumindest legitim, sich dafür einzusetzen.
7) Bleiben noch die besonders kontroversen Bereiche rund um den schon in seinen anderen Büchern ausgeführten Zusammenhang zwischen Erblichkeit von Intelligenz, kultur- und religionsspezifischer Reproduktionsrate (Kinderzahl) und den darin gesehenen Gefahren für den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg unserer Gesellschaft.
Das Thema ist zu grundsätzlich und zu groß für eine Rezension.
Hier bietet SARRAZIN am ehesten ein Angriffsfläche – aber er kann und will scheinbar nicht davon lassen . Die Frage ist: Darf man so denken, darf man das schreiben? Ich denke schon.

Ich empfehle dieses Buch nicht. Es ist aber auch nicht uninteressant, wenn man sich selbst dabei erproben und beobachten möchte, wie weit man SARRAZINs Argumentationslinien folgen kann – und wann es aus welchen Gründen kippt.
Wenn man sich als (eher links-grüner) Leser/in auf dieses Buch einlässt, sollte man sich jedenfalls nicht wundern, wenn man vieles nicht nur nachvollziehen kann, sondern sich immer wieder mal beim zustimmenden Nicken erwischt.
Keine Sorge: Die Stellen mit dem Ärger und dem Widerspruch kommen…
Vielleicht kann es ja tatsächlich intellektuell anregender sein, sich ein solches zwiespältiges Buch zuzumuten, statt die 35. Publikation aus dem eigenen Lager zu lesen.
Aber das ist natürlich Geschmackssache…

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