“Die Verteidigung der Wahrheit” von Jonathan RAUCH

Bewertung: 4.5 von 5.

Der preisgekrönte amerikanische Journalist Jonathan RAUCH legt mit diesem Buch ein leidenschaftliches und gewichtiges Plädoyer für eine Gesellschaft vor, in der es – noch bzw. wieder – anerkannte Prinzipien für die Suche nach und die Bewertung von Erkenntnissen gibt.
Seine Analysen, Argumentationsstränge und Lösungsvorschlage sind systematisch, nachvollziehbar und überzeugend.

Von Anfang an spürt man als Leser/in, dass diesem Buch eine klare Konzeption und ein Roter Faden zugrundliegt: RAUCH argumentierte an keiner Stelle assoziativ oder anekdotisch, sondern er führt in gut austarierten Schritten durch ein übersichtlich ausgeschildertes Gedankengebäude.

Nach einem Anfangs-Exkurs in die philosophischen Grundlagen gesellschaftlicher Ordnungen wird die Analogie zwischen dem politischen Liberalismus und dem epistemischen (also erkenntnisbezogenen) Liberalismus zum zentralen Ausgangspunkt für seine Thesen. Das bedarf einer kurzen Erläuterung.
Für Rausch ist die amerikanische Verfassung (und das darauf beruhende System) ein gutes Beispiel für ein Gesellschaftsmodell, in dem versucht wird, sowohl Stabilität als auch Flexibilität zu gewährleisten. Das passiert durch eingebaute Machtbegrenzungen bzw. Sicherungssysteme (“checks und balances”), die auf einem komplexen Zusammenspiel von Institutionen basieren. Durch eine Verständigung auf entsprechende (demokratische, pluralistische) Grundprinzipien bildet sich letztlich ein System aus, in dem nur Kooperation und Kompromissbereitschaft zum Erfolg führen können – jedenfalls, solange alle die Basis-Regeln auch mittragen (also z.B. der Präsident nicht Trump heißt). Dieses Politikverständnis nennt RAUCH “liberal” – in Abgrenzung zu autokratischen oder ideologiegesteuerten Systemen, die keine entsprechenden Freiheitsrechte und Partizipationsmöglichkeiten bieten.

Mit dem Begriff “epistemischen Liberalismus” beschreibt der Autor das parallele System der gesellschaftlichen Wahrheits-Gewinnung: Wissenschaft, Journalismus, Justiz und andere öffentliche Institutionen haben sich in den letzten 200 Jahren zunehmend auf gemeinsame Regeln und Vorgehensweisen geeinigt: Als Erkenntnisfortschritt wird anerkannt, was empirisch belegt, objektiv überprüfbar und in der Community der Experten kritisch hinterfragt und diskutiert wurde. Dabei spielen weder personengebundene Autorität noch eine zentralistische Organisation eine Rolle; stattdessen sind das System und die notwendigen Institutionen pluralistisch, selbstreguliert und selbstkorrektiv ausgerichtet. RAUCH ist zutiefst überzeugt davon, dass dies das denkbar beste Erkenntnismodell darstellt.

In der zweiten Hälfte des Buches führt RAUCH aus, wie diese so wertvolle “Verfassung der Erkenntnis” von drei bedeutsamen Entwicklungen der letzten ca. zwei Jahrzehnte massiv angegriffen wurde: von den aufmerksamkeitsheischenden und emotionsaufpeitschenden digitalen sozialen Medien, von den systematischen (meist rechtslastigen) Desinformationskampagnen der Internet-Trolle und von der (überwiegend linksorientierten) Cancel Culture in Sozialwissenschaften und Journalismus.
RAUCH weist mit akribischer Genauigkeit nach, wo und wie dabei jeweils die Grundprinzipien im Umgang mit Meinungen, Überzeugungen und Erkenntnissen (und den dahinter stehenden Personen) angegriffen und z.T. regelrecht sturmreif geschossen werden.

Obwohl es in den Beispielen durchweg um hoch-kontroverse gesellschaftliche Streitpunkte geht, gelingt es dem Autor in vorbildlicher Weise, eine glaubwürdige, “neutrale” Position einzunehmen und zu behalten. Die vom ihm geschätzten und verteidigten Prinzipien wendet er – unabhängig vom eigenen Standpunkt (z.B. als liberaler Homosexueller) auf alle Themen und auf alle politischen Lager an. Er ist überzeugt davon, dass eine Offenheit für und die Konfrontation mit alle/n (rechtmäßigen) Positionen die beste Voraussetzung für einen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt darstellt. Folglich bedauert er beispielsweise, dass in sozialwissenschaftlichen Instituten und vielen Zeitungsredaktionen kaum noch bekennende Konservative Tätig sind.

Insgesamt handelt es sich um ein extrem informatives und aufklärerisches Buch, dessen Wert in keiner Weise dadurch geschmälert wird, dass hier ein “Überzeugungstäter” am Werk ist. Denn bei aller Toleranz für unterschiedliche Überzeugungen: Wenn jemand wie Trump ganz offensichtlich alle Regeln der “Erkenntnis-Verfassung” vorsätzlich, systematisch und zynisch bricht, kennt RAUCH kein Pardon. Daher ist dieses Buch mindestens ebenso ein “Anti-Trump-Buch” wie es eine Abrechnung mit der Cancel Culture ist.
Nicht zu vergessen: RAUCH macht auch auf positive Beispiele und eine wachsende Gegenbewegung aufmerksam: Er hat keineswegs aufgegeben und appelliert an uns alle, die Angriffe der Erkenntnis-Feinde abzuwehren.

Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass es sich um ein sehr “amerikanisches” Buch handelt: Das betrifft sowohl die allgemeinen Beispiele, als auch die grundsätzlich andere Situation an den US-Universitäten. Nicht zu überlesen ist auch ein ziemlich ausgeprägter Verfassungs-Patriotismus, der für deutsche Standards schon manchmal grenzwertig erscheint (der aber die Analysen und die Argumentation nicht beeinträchtigt).

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