“Kintsugi” von Andrea LÖHNDORF

Bewertung: 4 von 5.

Fernöstliche Traditionen und Weisheiten sind schon lange “in”. In früheren Jahrzehnten waren Einflüsse aus Indien, China und Japan eher den Bereichen Religion, Mystik und Esoterik zuzuordnen; im Rahmen der Achtsamkeits-Welle hat sich das deutlich verändert. Meditation und ähnliche Praktiken sind heutzutage tief in den westlichen Lifestyle eingedrungen – bis nahe an die Grenze des Selbstoptimierungs-Wahns.

Die Japanische Kintsugi-Tradition hat es noch nicht ganz so weit gebracht. Die traditionellen Haltungen, die sich um diese Kunst der “Neuzusammensetzung” ranken, lassen sich wohl nicht so schnell in einfache Handlungsanweisungen übersetzen.
Die auf östliche Lehren spezialisierte Lektorin LÖHNDORF hat einen Versuch unternommen, die asiatische Lebenskunst für uns Wessis verständlich und nutzbar zu machen.

Ursprünglich beschreibt Kintsugi eine handwerkliche Technik, in der die Scherben einer zerbrochenen Keramik so zusammengesetzt werden, dass die Risse bzw. Klebestellen nicht versteckt, sondern besonders betont werden (z.B. mit goldener Färbung). So entsteht ein einzigartiges Kunstwerk – gerade weil es auf einem vorherigen Zusammenbruch aufbaut.
Eine tolle Metapher für psychische Krisen aller Art und den Stolz, den deren Bewältigung auslösen könnte (sollte).

LÖHNDORF widersteht der Versuchung, auf diesem schönen Bild ein ganz normales Selbsthilfe-Ratgeberbuch aufzubauen (so wie es der spanische Psychologe NAVARRO in seinem gleichnamigen Buch gemacht hat). Die Autorin bleibt respektvoll und sensibel im kulturellen Kontext und lädt ein, die japanische Mentalität Schritt für Schritt zu erkunden.

Doch ist auch für LÖHNDORF dieser Ausflug in fremde Denkweisen keineswegs ein Selbstzweck: Endziel ist auch hier die Anwendung auf das eigene Leben. Die Konzepte und Werkzeuge “Wabi-Sabi” (Akzeptanz u. Selbstmitgefühl), “Zen” (Achtsamkeit, Stille u. Einfachheit), “Ikigai” (persönlicher Lebenssinn), “Kaizen” (Prinzip der kleinen Schritte) und “Yui Maru” (Zugehörigkeit) werden nicht nur einfühlsam und kultursensibel dargestellt, sondern auch mit Hilfe von Beispielen und kleinen Übungen handhabbar gemacht.
Angereichert wird die Darstellung durch kleine Geschichten bzw. Anekdoten; in den Text eingewoben sind kurze Sinnsprüche und Zitate aus Ost und West.

Der Autorin ist das Gleichgewicht zwischen Innensicht (am Beispiel von Tee-Zeremonien, der Freude an Naturspaziergängen, der Sinn für Einfachheit und Gemeinschaft) und praktischer Nutzung zur Selbsthilfe sehr gut gelungen. Man erlebt einen fließenden Übergang, keine verkrampft-gezwungene Zuordnung. Die Übungen zur Selbstreflexion, die Anleitungen zu Verhaltensübungen atmen einen ähnlichen Geist wie die ursprünglichen Vorbilder: Kein Hauruck, kein “alles ist möglich”, kein Selbstoptimierungs-Kauderwelsch. Es geht sanft zu, langsam und achtsam. Man fühlt sich schon fast wie ein japanischer Teemeister…

Angenehm und seriös wirkt auch, dass LÖHNDORF sich thematisch auf persönliches Wachstum und kleinere Lebenskrisen beschränkt und nicht den Eindruck erweckt, dass hier ein Rezeptbuch für die Selbsttherapie von ernsthaften psychischen Störungen angeboten wird.

Insgesamt hat LÖHNDORF ein sympathisches Büchlein geschaffen, das in unaufgeregter Art zu einem lohnenden kulturellen Ausflug einlädt: Wir können ohne Zweifel etwas lernen von japanischen Lebensweisheiten – ohne gleich in ein schwurbeliges Alternativ-Weltbild abzutauchen. Die Vorschläge und Anregungen, die hier gemacht werden, sind alltagskompatibel. Und zum Glück werden nicht gleich Wunder versprochen…

2 Antworten auf „“Kintsugi” von Andrea LÖHNDORF“

Schreibe einen Kommentar zu Sandra Puls Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert