“Lektionen” von Ian McEWAN

Bewertung: 4 von 5.

Man könnte im ersten Viertel dieses 720-Seiten-Werkes (24 Std. als Hörbuch) auf die Idee kommen, diesen Roman zu unterschätzen. McEWAN hetzt seine Leserschaft nicht gerade durch eine Handlung, die sich an der Biografie des Protagonisten (Roland) entlanghangelt.
Der Autor – “zufällig” genauso alt wie die Romanfigur – beschreibt nicht nur sehr detailliert die Lebens- und Beziehungsstationen von Roland, sondern nutzt diesen Roman ausgiebig dazu, eine ganze Reihe von bedeutsamen zeitgeschichtlichen Ereignisse und Stationen einzuweben. Da er uns auch eine familiäre Generation weiter in die Vergangenheit führt, reicht der Bogen von der “Weißen Rose” in den 1940igern bis kurz vor den Ukraine-Krieg.
Da kommt einiges zusammen, das zwar überwiegend aus englischer Perspektive betrachtet und bewertet wird. Aber der deutschen Leserschaft kommt zugute, dass ein Zweig der Familie aus Deutschland stammt und deshalb auch ein beträchtlicher Teil der Geschichte in Deutschland spielt. So spielen dann z.B. die Situation der zwei deutschen Staaten und Maueröffnung in Berlin durchaus eine zentrale Rolle.

In gewisser Weise hat McEWAN also zwei Bücher geschrieben: Eine Lebensgeschichte von ca. 70 und eine Zeitgeschichte von knapp 80 Jahren. Das gibt dem Autor viel Gelegenheit zum Rückblick, zur Aufbereitung und zur Bilanzierung. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich McEWAN in diesem Alterswerk ein literarisches Denkmal setzen wollte.

Die Themen im privaten Teil sind ganz überwiegend Beziehungsthemen: Es geht um einen selbst erlebten sexuellen Missbrauch des Roland (durch eine junge Klavierlehrerin), um eine frühe und intensive erotische Erfahrung (die durchaus sehr freizügig geschildert wird), um eine erste große Liebe, um das Verlassenwerden und das Alleinerziehen eines kleinen Sohnes, um eine späte zweite, tragische Liebe und um das Glück des Eingebundenseins in ein zugewandtes Familiensystem. Es geht gleich in zwei Konstellationen um den Umgang mit Verletzungen und Enttäuschungen, mit dem Ringen um Durchhalten, Aufarbeitung und Verzeihen. Irgendwann geht es dann auch um Krankheit und den verzweifelten Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben.

Neben diesen zentralen zwischenmenschlichen Themen spielt die Musik, das Klavierspielen, eine zentrale Rolle in diesem Roman: Rolands Begabung wird früh entdeckt und gefördert, kann sich dann aber doch nicht voll entfalten – begleitet ihn dann aber doch durch sein ganzes Leben.

Zwischendurch hat der Roman etwas Gemächliches, manchmal Anekdotenhaftes. Manchmal fühlt es sich an wie die ruhigen Erzählungen eines in die Jahre gekommen älteren Herrn. Dann wird auch mal über die englische Parteipolitik geplaudert und sich kritisch an der wirtschaftsfreundlichen “New Labour”-Politik von Tony Blaire abgearbeitet. Es wird von Besuchen und Begegnungen mit Bekannten und Familienmitgliedern erzählt – wie eben das Leben so manchmal dahinfließt.
Aber wenn man durchhält, setzt sich gegen Ende immer stärker das Gefühl durch, dass es lohnend und befriedigend war, sich durch dieses Leben führen zu lassen. Man ist gespannt darauf, ob und wie sich bestimme Kreise schließen. Man merkt so ganz allmählich, dass man nicht nur Roland, sondern auch ein paar Menschen seines sozialen Umfeldes in sein Leser-Herz geschlossen hat.

“Lektionen” ist ein zutiefst menschlicher, ein berührender Roman – nicht immer spektakulär, aber voller emotionaler Tiefen und Untiefen. Man erkennt von Kapitel zu Kapitel stärker, wie doppel- bzw. mehrfachdeutig der Buchtitel gemeint ist – denn dieses geschilderte Leben beinhaltet sehr viel mehr Lektionen als die schicksalsprägenden Klavierstunden der Kindheit und Jugend.

Die Sicht auf die frühe männliche Sexualität und der bilanzierende Rückblick auf ein langes, mit Zeitgeschichte gespicktes Leben sprechen vermutlich am ehesten ein reiferes männliches Publikum an – was natürlich andere Leser/innen nicht ausschließen soll.
Zumindest für diese Gruppe sind die “Lektionen” ein niveauvolles geistiges Futter.

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