„Die Verteidigung der Wahrheit“ von Jonathan RAUCH

Bewertung: 4.5 von 5.

Der preisgekrönte amerikanische Journalist Jonathan RAUCH legt mit diesem Buch ein leidenschaftliches und gewichtiges Plädoyer für eine Gesellschaft vor, in der es – noch bzw. wieder – anerkannte Prinzipien für die Suche nach und die Bewertung von Erkenntnissen gibt.
Seine Analysen, Argumentationsstränge und Lösungsvorschlage sind systematisch, nachvollziehbar und überzeugend.

Von Anfang an spürt man als Leser/in, dass diesem Buch eine klare Konzeption und ein Roter Faden zugrundliegt: RAUCH argumentierte an keiner Stelle assoziativ oder anekdotisch, sondern er führt in gut austarierten Schritten durch ein übersichtlich ausgeschildertes Gedankengebäude.

Nach einem Anfangs-Exkurs in die philosophischen Grundlagen gesellschaftlicher Ordnungen wird die Analogie zwischen dem politischen Liberalismus und dem epistemischen (also erkenntnisbezogenen) Liberalismus zum zentralen Ausgangspunkt für seine Thesen. Das bedarf einer kurzen Erläuterung.
Für Rausch ist die amerikanische Verfassung (und das darauf beruhende System) ein gutes Beispiel für ein Gesellschaftsmodell, in dem versucht wird, sowohl Stabilität als auch Flexibilität zu gewährleisten. Das passiert durch eingebaute Machtbegrenzungen bzw. Sicherungssysteme („checks und balances“), die auf einem komplexen Zusammenspiel von Institutionen basieren. Durch eine Verständigung auf entsprechende (demokratische, pluralistische) Grundprinzipien bildet sich letztlich ein System aus, in dem nur Kooperation und Kompromissbereitschaft zum Erfolg führen können – jedenfalls, solange alle die Basis-Regeln auch mittragen (also z.B. der Präsident nicht Trump heißt). Dieses Politikverständnis nennt RAUCH „liberal“ – in Abgrenzung zu autokratischen oder ideologiegesteuerten Systemen, die keine entsprechenden Freiheitsrechte und Partizipationsmöglichkeiten bieten.

Mit dem Begriff „epistemischen Liberalismus“ beschreibt der Autor das parallele System der gesellschaftlichen Wahrheits-Gewinnung: Wissenschaft, Journalismus, Justiz und andere öffentliche Institutionen haben sich in den letzten 200 Jahren zunehmend auf gemeinsame Regeln und Vorgehensweisen geeinigt: Als Erkenntnisfortschritt wird anerkannt, was empirisch belegt, objektiv überprüfbar und in der Community der Experten kritisch hinterfragt und diskutiert wurde. Dabei spielen weder personengebundene Autorität noch eine zentralistische Organisation eine Rolle; stattdessen sind das System und die notwendigen Institutionen pluralistisch, selbstreguliert und selbstkorrektiv ausgerichtet. RAUCH ist zutiefst überzeugt davon, dass dies das denkbar beste Erkenntnismodell darstellt.

In der zweiten Hälfte des Buches führt RAUCH aus, wie diese so wertvolle „Verfassung der Erkenntnis“ von drei bedeutsamen Entwicklungen der letzten ca. zwei Jahrzehnte massiv angegriffen wurde: von den aufmerksamkeitsheischenden und emotionsaufpeitschenden digitalen sozialen Medien, von den systematischen (meist rechtslastigen) Desinformationskampagnen der Internet-Trolle und von der (überwiegend linksorientierten) Cancel Culture in Sozialwissenschaften und Journalismus.
RAUCH weist mit akribischer Genauigkeit nach, wo und wie dabei jeweils die Grundprinzipien im Umgang mit Meinungen, Überzeugungen und Erkenntnissen (und den dahinter stehenden Personen) angegriffen und z.T. regelrecht sturmreif geschossen werden.

Obwohl es in den Beispielen durchweg um hoch-kontroverse gesellschaftliche Streitpunkte geht, gelingt es dem Autor in vorbildlicher Weise, eine glaubwürdige, „neutrale“ Position einzunehmen und zu behalten. Die vom ihm geschätzten und verteidigten Prinzipien wendet er – unabhängig vom eigenen Standpunkt (z.B. als liberaler Homosexueller) auf alle Themen und auf alle politischen Lager an. Er ist überzeugt davon, dass eine Offenheit für und die Konfrontation mit alle/n (rechtmäßigen) Positionen die beste Voraussetzung für einen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt darstellt. Folglich bedauert er beispielsweise, dass in sozialwissenschaftlichen Instituten und vielen Zeitungsredaktionen kaum noch bekennende Konservative Tätig sind.

Insgesamt handelt es sich um ein extrem informatives und aufklärerisches Buch, dessen Wert in keiner Weise dadurch geschmälert wird, dass hier ein „Überzeugungstäter“ am Werk ist. Denn bei aller Toleranz für unterschiedliche Überzeugungen: Wenn jemand wie Trump ganz offensichtlich alle Regeln der „Erkenntnis-Verfassung“ vorsätzlich, systematisch und zynisch bricht, kennt RAUCH kein Pardon. Daher ist dieses Buch mindestens ebenso ein „Anti-Trump-Buch“ wie es eine Abrechnung mit der Cancel Culture ist.
Nicht zu vergessen: RAUCH macht auch auf positive Beispiele und eine wachsende Gegenbewegung aufmerksam: Er hat keineswegs aufgegeben und appelliert an uns alle, die Angriffe der Erkenntnis-Feinde abzuwehren.

Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass es sich um ein sehr „amerikanisches“ Buch handelt: Das betrifft sowohl die allgemeinen Beispiele, als auch die grundsätzlich andere Situation an den US-Universitäten. Nicht zu überlesen ist auch ein ziemlich ausgeprägter Verfassungs-Patriotismus, der für deutsche Standards schon manchmal grenzwertig erscheint (der aber die Analysen und die Argumentation nicht beeinträchtigt).

„Angepasst, strebsam und unglücklich“ von Margrit STAMM

Bewertung: 3.5 von 5.

Die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin widmet dieses Buch einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die – ihrer Überzeugung nach – oft im Schatten der pädagogischen bzw. bildungspolitischen Diskussion stehen: den Überleistern.
Während bei den bekannteren „Unterleistern“ der Schulerfolg deutlich hinter den Begabung zurückbleibt (z.B. bei manchen Hochbegabten), sind hier die Schüler/innen gemeint, die es durch besondere und dauerhafte Anstrengung, durch Elternengagement bzw. durch zusätzliche Fördermaßnahmen ein Leistungsniveau erreichen, das über ihrem eigentlichen kognitiven Potential liegt.
Die Autorin will in diesem Buch auf den Preis aufmerksam machen, den die Lernenden für diesen Leistungs- und Optimierungsdruck bezahlen müssen.

STAMM beschreibt (auch mit kurzen Fallbeispielen) Schüler/innen, deren gesamtes Leben von dem Bestreben überschattet wird, möglichst gute Leistungen (Noten) zu erzielen, und damit die Hoffnungen und Erwartungen der Eltern und Schule zu erfüllen. Diese Kinder wirken ehrgeizig, zielstrebig und motiviert, werden aber nicht durch Eigeninteresse an der Sache oder Spaß am Lernen, sondern durch (zu) hohe Zielsetzungen und die Sorge vor Misserfolgen angetrieben. Auf der Strecke bleiben Lebensfreude, allgemeine Persönlichkeitsentfaltung und die Muße zum freien Spiel.

Da sich STAMM für diese Thematik ein ganzen Buch Zeit nimmt, kann sie die Sache gründlich und systematisch angehen. Sie betrachtet alle Akteure und Beteiligten: Die Gesellschaft, das Bildungssystem, die Lehrkräfte, die Eltern und natürlich die Kinder selbst.

Die entscheidende Verantwortung sieht sie ganz „oben“ angesiedelt: Es sei das herrschende gesellschaftliche Klima, von dem diese Fixierung auf messbare Leistungen, auf die möglichst vollständige Nutzung aller persönlicher Ressourcen und auf die permanente Optimierung von verwertbaren Fähigkeiten ausgehe.
Insbesondere die Eltern sieht sie in einer Art Falle: Sie erlebten es oft als ihre Pflicht, den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden und bewerteten ihren eigenen Erfolg als Eltern an den Schulleistungen ihrer Kinder.

Auf der Basis eigener Untersuchungen stellt STAMM vier typische Ausprägungsformen von Überleistern an, die sie folgendermaßen benennt: „Die zum Erfolg Geführten“, „die unter Druck Stehenden“, „die ambitionsbelasteten Aufsteiger“ und „die intrinsisch Motivierten“. Als gemeinsames Merkmal nennt STAMM vor allem mangelndes Selbstvertrauen und (meist im Untergrund) nagende Selbstzweifel, auf die wiederum mit unterschiedlichen (dysfunktionalen) Strategien reagiert werde.

STAMM setzt ihrer Analyse auch eine positive Perspektive entgegen, die sie als Forderung an Gesellschaft, Bildungssystem und Eltern formuliert: Kinder benötigten dringend Lebensbedingungen, in denen sie sich „authentisch“ entwickeln könnten. Dazu müsse das Augenmerk auf ihre Gesamtpersönlichkeit und den Erwerb von generellen Lebenskompetenzen gerichtet werden. Kindern müsse „das Recht auf den heutigen Tag“ und „die Möglichkeit, auch einmal zu scheitern“ zugestanden werden. Das Ziel müssten selbstbewusste und autonome junge Menschen sein – und nicht deren optimierter Notendurchschnitt.

Um ehrlich zu sein: Es gab im ersten Drittel des Buches deutliche Zweifel, ob man diese – vermeintlich übersichtliche – Thematik nicht lieber in einem etwas ausführlicheren Zeitschriftenartikel hätte darstellen sollen. Und tatsächlich: Der Text ist ziemlich redundant, weil die (leicht zu erfassenden) Grundthesen in jedem Kapitel wiederholt werden. Bei einem vorgebildeten Publikum könnte da schon die Ungeduld wachsen…
Doch wer sich ein wenig intensiver einlassen kann und möchte, findet doch in der Breite und dem Facettenreichtum der Darstellung weitere lohnende Perspektiven.
Das immer wieder aufflackernde Gefühl: „Jetzt müsst es doch langsam reichen“, ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass man ja unaufhörlich innerlich zustimmend nickt: Wer wollte der Analyse und den Thesen dieses Buches denn auch ernsthaft widersprechen? Irgendwie weiß man das alles ja schon, es ist auch alles richtig…

Ob man das alles in dieser Ausführlichkeit tatsächlich auch lesen sollte, hängt von den persönlichen Grundlagen und Bedürfnissen ab. Dass die in diesem Buch gut lesbar und nachvollziehbar dargestellten Inhalte möglichst weite Verbreitung finden sollten – daran kann kaum ein Zweifel bestehen.
Und das gilt nicht nur in Hinblick auf das psychischen Wohlergehen der betroffenen Kindern, sondern auch mit dem Blick auf unsere gemeinsame Zukunft: Um diese Herausforderungen zu bestehen, werden Lebenskompetenzen und erfahrene Selbstwirksamkeit mit Sicherheit bedeutsamer sein, als der Notenspiegel am Ende eines Schuljahres.

„Du wirst diesen Tag überstehen. Und Morgen auch.“ von Daniel HOWELL

Bewertung: 4 von 5.

Dies ist ein Lebenshilfe-Ratgeber der besonderen Art.
Der Autor kommt nicht aus der Psycho-Welt, sondern hat dieses Buch als Betroffener (mit einer schwierigen homosexuellen Biografie) geschrieben. Ein entscheidendes Motiv für dieses Projekt liegt aber wohl in der Popularität HOWELLs begründet: Er ist als YouTuber, Moderator, Comedian und Blogger in seiner Szene ein Star (über 6 Millionen Abonnenten bei YouTube) und nutzt diese Reichweite dafür, Krisenhilfe für ein Publikum verfügbar zu machen, für das übliche Ratgeber-Literatur zu altbacken oder spießig daherkommt.

Zunächst lässt sich festhalten, dass die beschriebenen Methoden und Strategien fachlich fundiert und seriös sind. Hier hat nicht irgendein Freak eine eigene Theorie entwickelt – vielmehr hat HOWELL etablierte Konzepte aus der „Kognitiven Verhaltenstherapie“, der „Akzeptanz- und Commitment-Therapie“ und der auf Selbstfürsorge orientierte „Compassion-Focused Therapy“ in seinen besonderen Kontext gestellt. auch Aspekte der „Positiven Psychologie“ fließen ein.

Das zentrale Element dieses Buches ist die persönliche Ansprache seines Publikums. Die zentrale Botschaft: „Ich bin einer von euch. Ich bin nicht perfekt – ihr müsst es auch nicht sein. Ich habe das alles selber durchgemacht, kenne (fast) alle Tiefpunkte des Lebens. Aber es gibt Hoffnung und Hilfen.“
Schon durch die biografische Einleitung des Buches schafft der Autor eine sehr persönliche Atmosphäre und schafft so etwas wie eine Grundlage zur Solidarität. Damit erreicht er, dass sich kein Betroffener irgendwie klein oder minderwertig fühlen muss – egal ob es um Depressionen, Ängste, Identitätsprobleme oder Arbeitsstörungen geht.
Nicht zu vergessen: HOWELL ist Comedian und spielt daher auch die Karte des Humors – gerne durch ins Absurde überspitzte Formulierungen.

Inhaltlich gliedert HOWELL sein Buch nach der zeitlichen Perspektive: Zunächst geht es um Strategien, die eine akute Krise bewältigen sollen („Dieser Tag“). Dann wird es schrittweise langfristiger: „Morgen“ und „Die Tage danach“. Es geht um Dinge wie Atem- und Achtsamkeitsübungen, Entspannung, soziale Unterstützung, Aktivierung, Tagestruktur, Stimmungsbeeinflussung, Umgebungswechsel, Selbstfürsorge, usw.

Eingebettet werden die sehr konkreten Handlungsvorschläge in eine allgemeine Aufklärung über die grundlegenden Prozesse bzw. Mechanismen, die im Zusammenhang mit psychischen Symptomen oder Ausnahmezuständen stehen. Die wichtigsten psychischen Störungen und ihre möglichen Ursachen werden auf eine sachliche und deeskalierende Weise erklärt: Hier ist deutlich das Ziel zu erkennen, durch Sachinformationen (z.B. über Panik-Attacken) zu einer Beruhigung beizutragen.

Positiv ist anzumerken, dass der Autor alles versucht, negative Kreisläufe zu verhindern: Wo immer es geht, entlastet er seine Leserschaft von Selbstvorwürfen und Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit den entstandenen Problemen. Immer wieder bietet er Alternativen zu „dysfunktionalen“ (schädlichen/belastenden) Gedanken und Konzepten an. Er nutzt seine eigenen Erfahrungen, um daraus Zuversicht und Ermutigung abzuleiten. Vor allem aber redet er die Belastungen seiner Leser/innen nicht klein.
Und noch etwas zieht sich durch das gesamte Buch: HOWELL weist immer wieder auf die Möglichkeit und den Nutzen einer professionellen (therapeutischen) Unterstützung hin.

Natürlich sind die Grenzen von Selbsthilfe-Literatur auch in diesem Buch zu spüren: So schlau und alltagskompatibel auch immer die Vorschläge sein mögen („Mach am besten das….“) – die Lücke zwischen Lesen und Umsetzen wird gerade in psychischen Krisen oft unendlich groß erscheinen. Irgendwann könnte sich dann – trotz aller Niedrigschwelligkeit – ein Gefühl von Hilflosigkeit und Versagen einstellen („Ich krieg ja gar nichts davon hin…“).
Dem Autor sei aber zugestanden, dass er eine Menge dafür tut, dieser Gefahr vorzubeugen. Seine Ansprüche und Erwartungen an seine Zielgruppe sind sehr gemäßigt – niemand muss sich schämen, irgendetwas nicht gut genug zu sein. Auch die Aufforderung zu einem naiven „Positiven Denken“ unterbleibt glücklicherweise.

Auch wenn man vielleicht eine andere Strukturierung vorgezogen hätte, man bestimmte Methoden vermisst oder den persönlichen Bezug manchmal etwas übertrieben empfinden sollte: Das große Verdienst dieses Buches ist es zweifellos, die psychologische Selbsthilfe einer speziellen Zielgruppe auf eine sehr sensible und motivierende Art nahe zu bringen.
Das bedeutet auf der anderen Seite allerdings auch, dass der auf seine Community ausgerichtete Stil für ein etwas älteres bzw. gesetzteres Mainstream-Publikum nicht gut passt. Aber das ist ganz sicher auch so gewollt.

„Celsius“ von Marc ELSBERG

Bewertung: 3 von 5.

Klima-Thriller sind ja inzwischen fast ein eigenes Genre geworden. Mal steht die Botschaft im Vordergrund (und die Handlung dient nur als Vermittlungsweg); manchmal geht es überwiegend um den Plot (und das Klima-Thema stiftet nur den aktuellen Rahmen).
Es scheint zunächst, dass Marc ELSBERG einen Mittelweg gewählt hat: Man nimmt ihm eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Menschheits-Bedrohung durchaus ab; gleichzeitig kümmert er sich aber auch zunehmend um einen – reichlich verwegenen – Handlungsablauf.
Der Erfolg ist allerdings letztendlich nur mäßig.

Inhaltlich gibt es bei Celsius durchaus einen gewissen Alleinstellungs-Bonus: Es geht nämlich in diesem Buch nicht um die gewohnten Konflikte hinsichtlich der Maßnahmen zur CO2-Reduzierung, sondern um eine nachgeschaltete Technologie: das Geoengineering.
Tatsächlich werden ja schon seit Jahren Szenarien durchgespielt, wie man durch direkte technologische Beeinflussung des Klimas (insbesondere der Sonneneinstrahlung) der Erderwärmung entgegentreten könnte.

ELSBERG spielt die weltpolitischen Komplikationen, die ein unabgestimmtes Eingreifen in globale Klimaprozesse auslösen könnten, in aller Ausführlichkeit durch. Es beginnt mit einem spektakulären Alleingang Chinas, entwickelt sich aber im Laufe der Story (die mehrere Jahren umfasst) zu einem komplexen Verwirrspiel mehrerer Akteure.
Natürlich sind auch Aktivisten, engagierte Wissenschaftlerinnen und Enthüllungsjournalisten im Spiel. Bestimmten Mächten im Hintergrund ist keine Maßnahme zu aufwendig oder brutal, um ganz andere Ziele zu verfolgen.
Und dann gibt es dann noch so ein geheimes älteres Filmprojekt, das irgendwie mit allem zusammenhängt…

Die Darstellung ist phasenweise recht Action-lastig: Man hat dann das (ermüdende) Gefühl, dass Kino-Szenen mühsam in Sprache übersetzt werden: Da knallt, explodiert und brennt es am laufenden Meter – braucht man das in dieser Ausführlichkeit?!

Die größte Schwäche des Thrillers ist allerdings der doch sehr konstruierte Handlungsfaden rund um diesen ominösen Film, der so erstaunlich zukunftsweisend war und wegen dem noch viele Jahre nach seinem Nichterscheinen erbittert gekämpft und gemordet wird. Diese Verwicklungen führen die Story doch recht weit von dem eigentlich sehr relevanten Thema des Buches weg.
Zwar kommt in der Endhandlung eine durchaus originelle Idee zum tragen, diese geht aber in dem übermäßig personalisierten Show-Down ziemlich verloren.

Insgesamt hat ELSBERG ein relevantes Thema ein wenig zu reißerisch bearbeitet und ist so deutlich unter dem möglichen Niveau geblieben.
Was allerdings bleibt, ist das klare Gefühl, dass alle Anstrengungen auf eine rasche und konsequente Vermeidung von weiteren Klimagas-Emissionen gerichtet werden sollten – statt auf eine zukünftige Super-Technologie zu hoffen.

„Lektionen“ von Ian McEWAN

Bewertung: 4 von 5.

Man könnte im ersten Viertel dieses 720-Seiten-Werkes (24 Std. als Hörbuch) auf die Idee kommen, diesen Roman zu unterschätzen. McEWAN hetzt seine Leserschaft nicht gerade durch eine Handlung, die sich an der Biografie des Protagonisten (Roland) entlanghangelt.
Der Autor – „zufällig“ genauso alt wie die Romanfigur – beschreibt nicht nur sehr detailliert die Lebens- und Beziehungsstationen von Roland, sondern nutzt diesen Roman ausgiebig dazu, eine ganze Reihe von bedeutsamen zeitgeschichtlichen Ereignisse und Stationen einzuweben. Da er uns auch eine familiäre Generation weiter in die Vergangenheit führt, reicht der Bogen von der „Weißen Rose“ in den 1940igern bis kurz vor den Ukraine-Krieg.
Da kommt einiges zusammen, das zwar überwiegend aus englischer Perspektive betrachtet und bewertet wird. Aber der deutschen Leserschaft kommt zugute, dass ein Zweig der Familie aus Deutschland stammt und deshalb auch ein beträchtlicher Teil der Geschichte in Deutschland spielt. So spielen dann z.B. die Situation der zwei deutschen Staaten und Maueröffnung in Berlin durchaus eine zentrale Rolle.

In gewisser Weise hat McEWAN also zwei Bücher geschrieben: Eine Lebensgeschichte von ca. 70 und eine Zeitgeschichte von knapp 80 Jahren. Das gibt dem Autor viel Gelegenheit zum Rückblick, zur Aufbereitung und zur Bilanzierung. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich McEWAN in diesem Alterswerk ein literarisches Denkmal setzen wollte.

Die Themen im privaten Teil sind ganz überwiegend Beziehungsthemen: Es geht um einen selbst erlebten sexuellen Missbrauch des Roland (durch eine junge Klavierlehrerin), um eine frühe und intensive erotische Erfahrung (die durchaus sehr freizügig geschildert wird), um eine erste große Liebe, um das Verlassenwerden und das Alleinerziehen eines kleinen Sohnes, um eine späte zweite, tragische Liebe und um das Glück des Eingebundenseins in ein zugewandtes Familiensystem. Es geht gleich in zwei Konstellationen um den Umgang mit Verletzungen und Enttäuschungen, mit dem Ringen um Durchhalten, Aufarbeitung und Verzeihen. Irgendwann geht es dann auch um Krankheit und den verzweifelten Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben.

Neben diesen zentralen zwischenmenschlichen Themen spielt die Musik, das Klavierspielen, eine zentrale Rolle in diesem Roman: Rolands Begabung wird früh entdeckt und gefördert, kann sich dann aber doch nicht voll entfalten – begleitet ihn dann aber doch durch sein ganzes Leben.

Zwischendurch hat der Roman etwas Gemächliches, manchmal Anekdotenhaftes. Manchmal fühlt es sich an wie die ruhigen Erzählungen eines in die Jahre gekommen älteren Herrn. Dann wird auch mal über die englische Parteipolitik geplaudert und sich kritisch an der wirtschaftsfreundlichen „New Labour“-Politik von Tony Blaire abgearbeitet. Es wird von Besuchen und Begegnungen mit Bekannten und Familienmitgliedern erzählt – wie eben das Leben so manchmal dahinfließt.
Aber wenn man durchhält, setzt sich gegen Ende immer stärker das Gefühl durch, dass es lohnend und befriedigend war, sich durch dieses Leben führen zu lassen. Man ist gespannt darauf, ob und wie sich bestimme Kreise schließen. Man merkt so ganz allmählich, dass man nicht nur Roland, sondern auch ein paar Menschen seines sozialen Umfeldes in sein Leser-Herz geschlossen hat.

„Lektionen“ ist ein zutiefst menschlicher, ein berührender Roman – nicht immer spektakulär, aber voller emotionaler Tiefen und Untiefen. Man erkennt von Kapitel zu Kapitel stärker, wie doppel- bzw. mehrfachdeutig der Buchtitel gemeint ist – denn dieses geschilderte Leben beinhaltet sehr viel mehr Lektionen als die schicksalsprägenden Klavierstunden der Kindheit und Jugend.

Die Sicht auf die frühe männliche Sexualität und der bilanzierende Rückblick auf ein langes, mit Zeitgeschichte gespicktes Leben sprechen vermutlich am ehesten ein reiferes männliches Publikum an – was natürlich andere Leser/innen nicht ausschließen soll.
Zumindest für diese Gruppe sind die „Lektionen“ ein niveauvolles geistiges Futter.

„Und die Vögel werden singen“ von Aeham AHMAD

Bewertung: 4.5 von 5.

Da war doch mal was mit Syrien…
War das nicht auch sowas wie ein Krieg? Oder nur ein Bürgerkrieg? Haben da nicht auch Putins Truppen Schulen und Krankenhäuser zu Schutt und Asche bombardiert, in Aleppo?

Es wirkt tatsächlich etwas verstörend, nach einem Jahr Dauer-Information über Hintergründe und Folgen des Ukraine-Krieges mit solcher unmittelbaren Wucht in einen anderen Schauplatz von Machtmissbrauch, Menschenverachtung und unvorstellbarem Leid geworfen zu werden.
Genau das tut aber der Musiker Aeham AHMAD in diesem eindrücklichen autobiografischen Erlebnisbericht (der schon 2019 veröffentlicht wurde).

Seine Geschichte beginnt aber früher, in den späten 1980iger Jahren. Wir lernen den kleinen Aeham als Schuljungen im Großraum Damaskus kennen. Er stammt aus den ärmlichen Verhältnissen einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie und es bedarf eines enormen Einsatzes seiner Familie und sehr früh auch von ihm selbst, um sich – trotz der widrigen Umstände – zu einem vielversprechenden jungen Pianisten und Musiklehrer zu entwickeln. Zusammen mit seinem blinden Vater baut der Junge Mann – buchstäblich aus dem Nichts – in seinem Stadtteil einen florierendes Musikgeschäft auf.

Mit der Abriegelung und dem folgenden systematischen Aushungern des Stadtviertels „Yarmourk“ beginnt eine mehrjährige Leidensgeschichte für Tausende von Familien, für die – eingeklemmt zwischen den verfeindeten bewaffneten Gruppierungen – bald der Alltag zu einem immerwährenden Überlebenskampf wird.
Inmitten dieser menschenfeindlichen Umgebung, in der Hunger, Gewalt und Tod nicht Ausnahme, sondern Regel sind, beginnt eine geradezu märchenhafte Geschichte: Zusammen mit ein paar Freunden (und später auch Kindern aus der Nachbarschaft) beginnt AHMAD, sein (auf Rollen montiertes) Klavier durch die Straßen zu schieben und vor Trümmerhäusern zu musizieren. Es sind Texte und Gedichte, in denen die Menschen ihre aktuelle Situation thematisieren, so dass die Musik ein emotionaler Befreiungsakt und eine Anklage zugleich ist.
Dass einige seiner „Auftritte“ über YouTube den Weg zu einer internationalen Öffentlichkeit finden, wird sich langfristig positiv auswirken. Doch liegen zwischen den „Trümmerkonzerten“ und dem sicheren Leben in Deutschland noch unfassbare Herausforderungen…

AHMAD ist offenbar gleich mit zwei Begabungen gesegnet: Er ist nicht nur als Musiker erfolgreich, sondern hat auch mit diesem Buch eine bemerkenswerte literarische Leistung vollbracht. Man kann sich der Unmittelbarkeit seines Schreibstils kaum entziehen, übliche Distanzierungsmechanismen werden schnell löchrig.
Aber letztlich sind es die Ereignisse und Umstände selbst, die unter die Haut gehen. Die Willkürlichkeit, Sinnlosigkeit und Perversion der Unterdrückung und Gewalt wird immer wieder durch die Todesschüsse von Heckenschützen und die Selbstherrlichkeit der verschiedenen Milizen an ihren Check-Points vor Augen geführt. Es erscheint fast wie ein Wunder, dass es unter diesen Bedingungen noch so etwas wie Nachbarschaft, Freundschaft und Solidarität überleben kann.

Der Krieg in der Ukraine hat uns wegen der räumlichen und kulturellen Nähe sehr schockiert. Mit seinem Buch richtet AHMAD einen Spot auf die Hintergründe der Flüchtlingswelle von 2015. Das ist auch aus heutiger Perspektive sehr aufschlussreich.
Es wird eindrücklich deutlich, wie hoffnungslos desolat die politische und moralische Situation in diesem Land war (und ist); in dem wüsten Durcheinander von ideologischen und mafiösen Gruppierungen geht die Vernunft und Humanität letztlich auf allen Seiten verloren.
Man kann die existentielle Erleichterung des Autors nachempfinden, was es nach Krieg und lebensgefährlicher Flucht bedeutet, plötzlich in einem „zivilisierten“ Land leben zu dürfen, in dem die Regeln des Zusammenlebens geachtet und „sogar“ von den staatlichen Institutionen (einschließlich der Polizei) geschützt werden. Wir vergessen allzu oft, welches unglaubliche Glück wir haben, in einem demokratischen Rechtsstaat mit gesicherten Grundrechten leben zu dürfen.

Wer beim Lesen dieses Buches nicht- spätestens im Schlussteil – zu Tränen gerührt ist, muss wohl über einen guten Schutzpanzer gegen Emotionen verfügen. Ich kann dieses zutiefst menschliche Buch nur sehr empfehlen.

„Imperium der Schmerzen“ von Patrick Radden KEEFE

Bewertung: 4.5 von 5.

Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die in den USA durch die „Opioid-Krise“ ausgelöst wurden, sind bei uns nur in einem stark reduzierten Ausmaß ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. In den Staaten waren die gesundheitlichen und finanziellen Auswirkungen dieses Schmerzmittel-Skandals dramatisch und haben in den letzten Jahren zu heftigen juristischen und politischen Konflikten geführt.
Kurz gesagt geht es um einen geradezu epidemischen Missbrauch einer bestimmten Gruppe von Schmerzmitteln (vor allem OxyContin), deren Suchtpotential über viele Jahre hinweg zwar bekannt war, von den Verantwortlichen aber konsequent verheimlicht und geleugnet wurde.

Der preisgekrönte Investigativ-Journalist KEEFE hat in seinem opulenten Buch das Entstehen des Problems exemplarisch in Form einer Familienchronik aufgearbeitet. Das Besondere an seinem Ansatz ist, dass er auf der Ebene der persönlichen Details tief in die Persönlichkeitsprofile und Beziehungsdynamiken der Familie Sackler eindringt, dies aber nicht in die Form eines dokumentarischen Romans zu Papier gebracht hat (was angesichts der Materialfülle sicher möglich gewesen wäre). Stattdessen ist er einem journalistischen Stil treu geblieben, so dass sich das 640-Seiten-Buch (Hörbuch 24 Std.) wie eine geradezu endlose ZEIT- oder SPIEGEL-Titelgeschichte liest.

Im Mittelpunkt der Darstellung steht nicht die Aufarbeitung der Daten über Umfang und Folgen des Arzneimittel-Skandals (diese Informationen bekommt man natürlich auch). Es geht dem Autor um drei große thematische Bereiche:
– Er will aufzeigen, welche persönlichen (psychischen) und innerfamiliären Strukturen dieser konkreten Familie dazu beitragen konnten, dass ein solches Ausmaß an Täuschung und Verantwortungslosigkeit entstehen konnte.
.- Er deckt die Mechanismen eines Wirtschaftssystems auf, in dem Gier und Egoismus sich so ungebremst entfalten können.
– Mit schonungsloser Klarheit zeigt KEEFE die Verstrickung zwischen Wirtschaft, Politik und Justiz auf, in der Vertuschung, Korruption und Untätigkeit entscheidend für die ungebremste Ausweitung der Katastrophe waren.

Wenn man sich diesem Buch mit einem Sachinteresse zuwendet, wird man zunächst auf Hunderten von Seiten von den Psychogrammen der Familiendynastie der Sacklers erwartet. Als Leser/in muss man sich also zunächst darauf einlassen, dass man sich dem eigentlichen Thema mit einem langen Vorlauf nähert.
Die Darstellung der beteiligten Personen, ihrer biografischen Wurzeln und ihrer Beziehungsdynamik ist außerordentlich detailliert und psychologisch nachvollziehbar geschildert. Als Leser/in kann man das Gefühl bekommen, dass man schon eine Art „Familienbiografie“ gelesen hat, bevor es so richtig losgeht.
Der geradezu atemberaubende Tiefgang der Analyse beschränkt sich aber nicht auf die Persönlichkeiten; mit gleicher Akribie stellt KEEFE auch die jeweiligen finanziellen und wirtschaftlichen Einzelschritte nach, die aus einem kleinen Familienbetrieb einen Pharma-Großkonzern wachsen ließ.

In allen Facetten der Darstellung beeindruckt das Buch dadurch, dass man durch Fakten und eindeutig belegte Zusammenhänge geradezu „erschlagen “ wird. Zwischendurch erwischt man sich bei der Frage, wie man überhaupt ein solch dichtes und feingewebtes Netz an Fakten und Hintergründen erstellen kann. Man spürt praktisch auf jeder Seite, wie viele Tausend Stunden an Recherche eingeflossen sein müssen.

Natürlich muss kein Mensch das alles wissen, um die Opioid-Krise verstehen und bewerten zu können. Da könnte ein Wikipedia-Artikel reichen.
In diesem Buch passiert aber etwas anderes: KEEFE überzeugt seine Leserschaft dadurch, dass er exemplarisch so in die Tiefe geht, dass einfach kein Raum für Relativierungen oder Ausflüchte mehr übrig bleibt: Alles wird erklärt, alles ist nachvollziehbar, alles wird gründlich belegt.
Genau so wird dann ein vermeintlich „ausgewalzter“ Einzelfall zu einem Lehrstück über ein ganzes wirtschaftliches und politisches System. Statt Meinung oder Parolen liefert KEEVE ein solches Paket an Beweisen, dass wohl jede/r Skeptiker irgendwann kapitulieren muss.

Wir haben es also bei diesem Buch mit einem exzellenten Beispiel von Aufklärungs-Journalismus zu tun, dessen Bedeutung und Wirkung über die eigentliche Thematik hinausreicht.
Man sollte sich aber im Klaren darüber sein, dass das Buch ein Ausmaß an Zeit und Konzentration erfordert, das über die Ressourcen durchschnittlicher Sachbuchleser wohl deutlich hinausgeht.

„Erwachen“ von Sam HARRIS

Bewertung: 4 von 5.

Der amerikanische Philosoph und Neurowissenschaftler Sam HARRIS hat einige Gemeinsamkeiten mit seinem deutschen Kollegen Thomas Metzinger (s. „Bewussseinskultur„): Wie dieser erforscht auch HARRIS das Bewusstsein von (mindestens) zwei Seiten: von der Hirnforschung aus und durch Beobachtung und Analyse der Eigenerfahrungen bei meditativen Praktiken. Als Erweiterung der Introspektion haben beide auch mit psychedelischen Drogen experimentiert.
HARRIS ist allerdings noch eindeutiger der Szene der meditativen Bewusstseinserweiterung zuzuordnen; er hat in jüngeren Jahren viel Zeit mit bekannten asiatischen „Gurus“ verbracht und bietet aktuell u.a. auch eine (englischsprachige) Meditations-App an. Der Autor zieht aber eine deutliche Grenze zwischen intensiven spirituellen Erfahrungen auf der einen, und religiös bzw. esoterisch geprägten, mit irrationalen Dogmen verbundenen Lehren.

Die Ausführungen von HARRIS kreisen immer wieder um einige Grundüberzeugungen des Autors:
– Regelmäßige Praxis in Meditation und Achtsamkeit können zu einem gesunden, erfüllten und ethisch fundierten Leben beitragen. Dabei spielt die Steuerung der Aufmerksamkeit auf das aktuelle Erleben und die gelassene Akzeptanz auch von unangenehmen Realitäten eine Rolle.
– Es möglich und erstrebenswert, den eigenen Geist steuern zu lernen und sich Bewusstseinszuständen anzunähern, die mit geistiger Klarheit und Präsenz im augenblicklichen Erleben verbunden sind.
– Eine besondere Rolle spielt dabei die Fähigkeit, aus dem (nur teilweise bewussten) Kreislauf innerer Gedanken auszusteigen, sich von ihnen zu distanzieren (genauso wie von momentanen Gefühlen und Bewertungen).
– Sich einem „reinen“ Bewusstseinszustand zu nähern, bedeutet auch, sich von den üblichen Vorstellungen eines „Ich“ oder eines „Selbst“ zu lösen; diese Begriffe stellen aus Sicht von HARRIS nur (kognitive) Konzepte dar, die nicht mit der Realität unseres „wahren“ Bewusstseins übereinstimmen.

Der Kern dieses Buches ist das Werben für eine säkulare (also von irrationalen Annahmen freien) Spiritualität. Ein direkterer Zugang zu der Basis unseres Bewusstseins und die Zunahme der Kontrolle über die eigenen geistigen Vorgänge schaffen – so HARRIS – nach und nach eine Befreiung von psychischen Belastungen und Beeinträchtigungen; gleichzeitig ermöglicht die Konzentration auf aktuelle Sinneseindrücke ein bewussteres Erleben und Genießen unsers gegenwärtigen Seins – was auch einen engeren Bezug zur Natur und zu den Mitmenschen beinhalte.
HARRIS macht deutlich, dass man bei der Meditation keineswegs irgendwelchen Erleuchtungserfahrungen hinterherjagen muss; auch die kleinen Schritte bei der „Schulung des Geistes“ zur Achtsamkeit können das (Er-)Leben entscheidend verändern.

Der Autor zeigt sich aber auch in seiner Rolle als Neurowissenschaftler und gibt faszinierende Einblicke in Befunde, die unser Alltagskonzept vom Selbst und vom Bewusstsein vollkommen in Frage stellen (z.B. durch Forschungen an sog. „split-brain-Patienten“). Er stellt faszinierende Grundsatzüberlegungen an – über die Rolle von Bewusstsein für das ganze Universum und seine Sinnhaftigkeit.
HARRIS verhehlt auch nicht, dass bestimme psychoaktive Substanzen (MDMA, Psilocybin, LSD) sehr rasch und sicher zu „wertvollen“ Erfahrungen führen können, die auch vielen langjährigen Meditations-Profis versagt bleiben. Doch dieser Weg – das macht der Autor klar – ist voller Risiken.

Vieles in diesem Buch ist anregend und nachvollziehbar; HARRIS ist sicherlich in der Lage, viele Leser/innen zu einem Einstieg in oder einer Intensivierung von meditativen Übungen zu motivieren. Dies gilt vor allem für die Sinnsuchenden, die sich irrationalen und willkürlichen Glaubensvorschriften (von Sekten, Gurus und Religionen) nicht unterwerfen wollen. Bei HARRIS muss man seinen logischen Verstand nicht an der Garderobe abgeben, um sich auf die Suche nach einen tieferen Einblicken in Sphären zu begeben, die jenseits des Alltagsbewusstseins liegen.

Trotzdem erscheint nicht alles plausibel und widerspruchsfrei. So begründet HARRIS seine Grundthese, dass sich im „wahren“ Bewusstsein auch das „Ich“ auflöst (und auflösen soll), nicht explizit. Was ist so einschränkend an dem „normalen“ Gefühl, eine personelle Einheit zu bilden – selbst wenn dies höchstwahrscheinlich nur eine Illusion ist. Hält es uns ab von dem restlosen Verschmelzen mit dem Kosmos? Muss man soweit kommen (wollen)? Ist das „reine Bewusstsein“ wirklich so ein paradiesischer Zustand, dass man Jahre seines Lebens (oder Drogenexperimente) darauf verwenden sollte, ihn zu erreichen? Reicht nicht ein bisschen mehr Achtsamkeit und Gelassenheit?
Was auch irritiert: Wenn es eigentlich so einfach ist, durch regelmäßige Meditation seinen Geist zu schulen – warum hat sich HARRIS als junger Mensch jahrelang in abgelegensten Ecken der Welt von verschiedensten Meistern „ausbilden“ lassen? Welche Weisheiten erfährt man von diesen Menschen, die man nicht in ein paar Wochen vermitteln könnte? Braucht man Gurus, um dann doch Atem-Meditation zu machen (was man in weinigen Stunden erlernen kann)?
Das mag für einige banal und ketzerisch klingen. Aber für mich waren und sind das offene Fragen.

Das rätselhafte menschliche Bewusstsein steht im Zentrum von philosophischen, neurowissenschaftlichen, psychologischen und sinnsuchenden Aktivitäten. HARRIS hat mit diesem Buch einen engagierten und anregenden Betrag geliefert.

21.03.2023 Aufklärung zur Ukraine

Bild von Enrique auf Pixabay

ARTE zeigte heute eine zeitgeschichtliche Dokumentation über die Geschehnisse des letzten Jahrzehnts rund um die Ukraine. Sie beleuchtet die Ereignisse, insbesondere das Vorgehen Putins, überwiegend aus französischer, englischer und EU-Sicht – eher weniger aus deutscher Sicht.

Ich finde das sehr informativ und überzeugend!
Der Grund dafür ist, dass hier nicht irgendwelche Experten über Vorgänge und ihre Bewertungen sprechen, sondern dass alle gemachten Aussagen sich auf Original-Bilder beziehen und fast ausschließlich Menschen zu Wort kommen, die an den Abläufen (Verhandlungen) unmittelbar beteiligt waren. Das schließt zwar die Subjektivität von Einschätzungen nicht aus, angesichts der engen Verknüpfung mit den „echten“ Bildern und „echten“ Aussagen ist aber der Realitätsbezug kaum zu leugnen.

Ich kann nur wärmstens empfehlen, sich auf diesem Wege nochmal historisch „fit“ zu machen. Das hilft mit Sicherheit dabei, die aktuelle Situation – insbesondere den Standpunkt der Ukraine – besser zu verstehen.
Selbst wenn man sich an diese Bilder z.B. aus dem Jahr 2014 erinnert – mit dem heutigen Wissen kann man sie ganz anders würdigen.

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

15.03.2023 Kultur-Verbot?

Von Andrés Ibarra – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74416762

Man kann es nicht bestreiten: Roger Waters (früher eine prägende Figur bei PINK FLOYD) fällt schon seit Jahren mit politischen Äußerungen und Aktivitäten auf, die man mit einiger Berechtigung als unangemessen, übertrieben, einseitig oder provokant bewerten kann. Während es in den vergangenen Jahren meist um Israel ging (dessen Politik er extrem kritisch gegenübersteht), hat er sich aktuell auch gegenüber Russland als sehr „einfühlsam“ gezeigt.
Roger Waters ist wohl auch insgesamt kein einfacher Mensch. Das Zerwürfnis mit den anderen Bandmitgliedern und die endlosen gerichtlichen Streitigkeiten um das Erbe von PINK FLOYD ist sicher nicht zuletzt auch ein Ergebnis seines streitbaren Charakters.

Aber – und darum geht es: Muss man einen solchen Künstler, der mit seinen multimedialen Bühnenshows unzählige Fans begeistert, mit einem Auftrittsverbot belegen? Um ihn für unliebsame Haltungen und Äußerungen zu „bestrafen“, die er in anderen Kontexten zeigt?

Ich finde: nein!
Angemessen wäre das nur für den Fall, dass er seine Veranstaltungen als Plattform für eine politische Propaganda benutzen würde, die eindeutig gegen rechtliche und ethische Normen verstoßen würde. Allein die Tatsache, dass bei seinen opulenten Video-Projektionen neben vielen anderen Symbolen auch ein Davidstern zu sehen ist, kann wohl kaum dieses Kriterium erfüllen.

Dieser Mann mag als Person unsympathisch und als politischer Mensch mehr oder weniger verpeilt sein: Als Künstler sollte er auftreten dürfen!

(Zu weiteren Tages-Gedanken)