“Brüder” von Jackie THOMAE

Bewertung: 4 von 5.

Kurz gesagt: ein anregendes Leseerlebnis!

THOMAE schreibt einen erfrischend modern wirkenden Familien- bzw. Entwicklungsroman. Eigentlich schreibt sie zwei davon, die durch eine genetische Brücke nur lose miteinander verbunden sind: Die beiden geschilderten Lebensläufe (die von Kindheit ins frühe/mittlere Erwachsenenalter reichen) sind durch einen gemeinsamen biologischen (nicht sozialen) Vater aufeinander bezogen. Der Vater hat eine schwarze Hautfarbe, die beiden Mütter sind Weiße.
Die Protagonisten sind somit Halbbrüder, die – das sei verraten – sich nie persönlich begegnet sind. Sie leben zwei völlig unterschiedliche Leben, machen extrem divergierende Erfahrungen und entwickeln sich entsprechend zu völlig verschiedenen Personen.
In gewisser Weise hat man zwei Bücher in der Hand, deren zwei Erzählstränge in weiten Teilen auch unabhängig voneinander funktionieren würden.

THOMAEs Roman lebt davon, dass sehr dichte und lebendige Einblicke in verschiedene Milieus, Lebensumstände und Beziehungskonstellationen gewährt wird.
Während Mick als alternativ-hedonistisches Mitglied der Berliner Clubszene auftritt, entwickelt sich aus Gabriel ein international tätiger Star-Architekt, der in der Londoner Wohlstands-Blase beheimatet ist.
Der gemeinsame Vater war Gast in der DDR im Rahmen der internationalen Solidarität mit Dritte-Welt Staaten. Insofern dokumentiert die Erzählung auch zeitgeschichtliche Aspekte der beiden deutschen Staaten.
In dem Leben des Architekten Gabriel wird auch seiner Partnerin/Ehefrau eine eigene Erzählperspektive eingeräumt; ein Teil der Geschichte wird als Wechselspiel aus der jeweiligen Sicht dargeboten.

Obwohl man beiden Brüdern ihre Multikulturalität ansieht, geht es in diesem Roman nicht vorrangig um Fragen oder Probleme des Rassismus. Die Herkunft ist ein Teil ihrer Identität, sie überlagert aber nicht alle anderen Aspekte – sie ist irgendwie untergemischt und tritt hin und wieder an die Oberfläche. Bestimmte Verhaltensweisen lassen sich dann als ein Kampf gegen die eigene Abstammung verstehen: so entstehen in der Abgrenzung von antizipierten Klischees neue, selbstkonstruierte Klischees.

Für mich stellt dieser Roman eine echte literarische Leistung dar; es ist eine überzeugend zeitgemäße Erzählung – inhaltlich und sprachlich. Man hat dauernd das Gefühl, dass solche facettenreichen und detailgenauen Schilderungen nur aus einer Innenperspektive her möglich sind. Es wird sehr genau hingeschaut, eingefühlt, nachgespürt. Hier leistet die Autorin bei der Innenschau ihrer männlichen “Helden” wirklich Erstaunliches.
Die beiden Welten, die sich aufspannt, bekommen sehr schnell klare Konturen; man schaut mit dem Vergrößerungsglas und ist irgendwie mitten drin.
Als jemand, dem die Lebenswelten und die gemischten Identitäten beider Brüder ziemlich fremd sind, habe ich diesen ungewöhnlich direkten und plastischen Zugang als sehr anregend genossen.

Das Ende war fast ein wenig zu “normal” für diesen besonderen Roman; aber das hat nicht gestört.

“Vom Ende des Gemeinwohls” von Michael J. SANDEL

Bewertung: 4 von 5.

Kann ein Buch zugleich bedeutsam, inspirierend und total nervig sein?
Ja, das geht.

SANDEL, ein politisch engagierter amerikanischer Philosoph, legt eine fulminante Abrechnung mit dem Konzept der Leistungsgesellschaft vor. Er tut das mit einer Akribie und mit einer Eindringlichkeit, die leider den – offenbar kaum zu zügelnden – Überzeugungswillen in eine nur schwer zu ertragende Redundanz abgleiten lassen.

Im Grundsatz geht es um die Frage, ob das seit Jahrzehnten hochgelobte Gesellschaftsmodell, in der Erfolg und Wohlstand nicht von ererbten Privilegien abhängen, sondern von den individuellen Leistungen des Einzelnen, eine gute Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage darstellt.
Das Prinzip lautet: Wenn es gleiche Zugangschancen zu Bildungsangeboten gibt, dann entscheidet nur das Talent und die eigene Anstrengung darüber, wie weit man die Erfolgsleiter hinaufsteigt.
Sandel legt auf 450 Seiten (inkl. ausführlicher Quellen und Anmerkungen) dar, warum dieses – auf den ersten Blick so einladende Konzept – eine ganze Reihe von gravierenden Widersprüchen und Nachteilen in sich birgt.
SANDEL hat dabei in erster Linie die US-amerikanische Situation im Blick, thematisiert aber zwischendurch immer wieder Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten.

Einige seiner Thesen seien hier kurz angedeutet:
– Die Verabsolutierung des – auf akademische Abschlüsse ausgerichteten – Leistungsprinzips habe zu einer gesellschaftlichen Spaltung geführt, die nicht nur die Verteilung des Wohlstandes, sondern auch das gesellschaftliche Klima bzw. die Einstellungen der Menschen beeinflusst habe: Die selbstgewissen Winner erheben sich über die, die es nicht gebracht haben; die Looser spüren diese Verachtung und es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich selbst die Schuld an ihrem Versagen zu geben (denn sie hatten ja alle Chancen…).
– Es erscheine aber faktisch unmöglich, den Anspruch der Chancengleichheit konkret einzulösen, da das Aufwachsen in privilegierten, unterstützenden und bildungsnahen Familien durch noch so viel außerfamiliäre Förderung nicht ausgeglichen werden könne. Die bevorzugten Familien böten nicht nur Bildung und Förderung, sondern auch das Umfeld, in dem solche Kompetenzen wie Anstrengungsbereitschaft oder Selbstvertrauen wachsen könnten.
– Das Narrativ, dass in einer Leistungsgesellschaft jeder den Platz erreichen würde, der ihm fairerweise auch zustände, wird vom Autor von verschiedenen Seiten aus angegriffen. Er macht z.B. immer wieder deutlich, dass von erfolgreichen Menschen grundsätzlich die Rolle unterschätzt würde, die der Zufall oder eben günstige Ausgangsbedingungen für ihre Karrieren spielten.
– SANDEL beklagt, dass der Leistungsbegriff auf den akademischen Bereich der Berufswelt reduziert wird und damit einer Mehrheit der Bevölkerung das Gefühl vermittelt wird, das sie nur einen minderwertigen, zweitklassigen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben erbringen könnten. Damit habe ein großer Teil der Arbeit ihre Würde verloren.
– SANDEL macht auch deutlich, dass die unterschiedlichen Leistung (wie immer sie auch gemessen und beurteilt würde) noch nicht die Frage beantworte, welches Ausmaß an Ungleichheit denn mit dieser verbunden sein sollte. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er das zunehmende Auseinanderklaffen von Mindestlohn und Spitzengehältern – praktisch und moralisch – für völlig unangemessen hält.
– Als besonders abschreckendes Beispiel für die Fehlbewertung von Leistung und gesellschaftlichem Beitrag spricht SANDEL den aufgeblähten Finanzsektor an, in dem aberwitzige Gehälter gezahlt würden, ohne das die Realwirtschaft tatsächlich einen Nutzen habe.
– Beim Ausgleich von Nachteilen (z.B. durch wirtschaftlichen Wandel) müsse nicht nur die Konsumfähigkeit der Betroffenen erhalten werden, sondern es müsse dafür gesorgt werden, dass Ersatzarbeitsplätze, Umschulung u.ä. zur Verfügung ständen. Es gehe immer auch um das Selbstwertgefühl – und nicht nur um genügend Almosen.

Da es sich um ein brandaktuelles Buch handelt (2020), verwundert es nicht, dass all die beschriebenen Zustände im Zusammenhang mit dem Trump-Populismus betrachtet werden. Für SANDEL ist der typische Trump-Fan genau dieser Mensch, der sich von der globalisierten akademischen Elite als Looser eingestuft fühlt – als jemand, der eben die Chance, mit Hilfe eines College-Abschlusses selbst auch aufzusteigen, nicht genutzt habe.

Zum Resümee:
SANDEL hat ein sehr gründliches, tiefschürfendes und relevantes Buch geschrieben, zu einer Grundsatzfrage, die neben dem Klimawandel und der Bewältigung der digitalen Revolution zu den großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte gehört. Das Spektrum seiner Betrachtungen reicht von philosophischen Gerechtigkeitstheorien bis zu konkreten politischen Forderungen.
Es könnte daher eine uneingeschränkte Empfehlung für Interessenten mit einem größeren Anspruch an Informationstiefe sein, wenn – ja wenn es nicht ein solches Ausmaß an Wiederholungen gäbe. Einige Grundaussagen werden tatsächlich so oft – immer wieder gleich oder ähnlich – formuliert, dass es schon ein wenig ärgerlich ist.
Ich würde davon ausgehen, dass ein Mensch, der sich so gründlich in ein Thema vertiefen will, dieses Ausmaß an Redundanz wirklich nicht benötigt.
Es bleibt ein wichtiges Buch. Für Amerika ist es sicher schon ein radikales Buch – aber ohne jede platte Ideologie.

“Aufklärung jetzt” von Steven PINKER

Bewertung: 5 von 5.

Seit ca. zwei Jahren habe ich das Gefühl, kein im weitesten Sinne gesellschaftlich oder politisch angehauchtes Buch lesen zu können, ohne nicht irgendwann auf einen Verweis zu diesem Autor und diesem Buch zu stoßen. Mehrfach fiel die Entscheidung, es dann doch mal zu lesen. Dann wieder ein Zögern: Muss ich wirklich auf hunderten Seiten nachlesen, was ihm als Kernaussage zugeschrieben wird: dass alles (also die ganze Welt) viel besser ist als man meint?
Zum Glück wurde ich durch ein Geschenk aus dieser Ambivalenz befreit.

PINKER ist ein in den USA vielbeachteter Intellektueller, von Haus aus Psychologe, mit einem breiten, multidisziplinären Blick – unter Einschluss von soziologischen, politischen und philosophischen Perspektiven. Sein entscheidendes Merkmal ist allerdings, dass er all diese Erkenntnisse in den Dienst einer Sache stellt, der er sich mit vollem Engagement (Achtung: Wortspiel) verschrieben hat.
Sein von Daten, Grafiken und Quellen geradezu überbordendes 730-Seiten-Buch (davon allein 150 S. Anmerkungen) hat tatsächlich nur ein Ziel: PINKER will auch den letzten Zweifler davon überzeugen, dass die Geschichte der letzten ca. 250 Jahre, die als Folge der Epoche der Aufklärung zunehmend von Vernunft und Wissenschaft geprägt war, den Menschen auf allen erdenklichen Ebenen Fortschritte geschenkt hat. Aber es geht ihm auch um die Schlussfolgerung aus dieser – für ihn zweifelsfreien – Erkenntnis.
Wir sollten und dürfen aus zwei Gründen nicht nachlassen, diesen Weg weiter zu beschreiten: Einmal, weil zwar (im Vergleich zu früher) alles besser und vieles gut, aber längst nicht alles perfekt ist; zum anderen werden Vernunft und Wissenschaft von verschiedenen Seiten massiv angegriffen und in Frage gestellt (einer dieser Gegner ist – auch in diesem Buch von 2017 schon – ein gewisser Trump).

Das Besondere an PINKER ist, dass er bei seinem Kampf gegen Irrationalitäten und Ideologien keinen Unterschied zwischen Freund und Feind macht. Er fordert alle Seiten und Gruppierungen zum Respekt vor Fakten und Daten auf – egal ob es sich um Linke oder Rechte, um religiöse Eiferer oder Okö-Aktivisten handelt. Auch wenn er selbst ein weltoffener Liberaler ist: Im Zweifelsfall würde er wohl einen stringent und faktenbasiert argumentierenden Konservativen einem linken Schlagwort-Populisten vorziehen.

Der Autor ist ein Überzeugungstäter und er liebt statistische Beweise für seine Thesen. Wer Material sucht für die Entwicklung von Lebenserwartung, Gesundheit, Hunger, Gewalt, Krieg, Menschenrechte, Bildung, Lebensqualität, Glück, usw. – er/sie findet sie in diesem Buch. Aber – anders als befürchtet – werden die Ergebnisse nicht einfach nur hintereinandergestellt. PINKER schafft Ordnung und Zusammenhänge, findet immer wieder Bezüge zu seinen Grundthesen.

Manchmal erzeugt PINKER auch innere Widerstände. Bei seinen Ausführungen über die Umwelt- und Klimaproblematik bezieht er klar Position gegen eine “Weltuntergangs-Stimmungsmache”; er betont, dass die von vielen Aktivisten betriebene Katastrophisierung weder angemessen noch pragmatisch (im Sinne von motivierend) sei. Er setzt auch beim Öko-Thema (u.a.) auf die Innovationskraft der Wissenschaft (was bei ihm übrigens auch modernste Kernkrafttechnologie und Geo-Engineering mit einschließt). Etwas widersprüchlich ist hier seine Argumentation, der Klimabewegung auf der einen Seite übertriebene Panikmache vorzuwerfen, es dann aber der Klugheit der Menschen zuzuschreiben, dass man ja begonnen hat, gegenzusteuern (ob das wohl ohne die Aktivisten passiert wäre?).

Es wäre unfair, den Autor als datenverliebten Erbsenzähler zu betrachten. Es geht im letztlich um das große Ganze. PINKER ist ohne Zweifel ein Menschfreund, ein Humanist. Sein Maßstab für den Fortschritt ist das Wohlergehen der Menschen. Dass dabei auch der wirtschaftliche Wohlstand eine große Rolle spielt, wird vielleicht nicht jedem Wachstums- oder Globalisierungsgegner gefallen. Aber er legt einen globalen Maßstab an und hat großes Verständnis dafür, dass sich weite Teile der Welt nach dem Niveau von Lebensstandard sehnen, den wir – konsumgesättigt wie wir sind – eher kritisch in Frage stellen.

Der Psychologe PINKER kommt durchaus auch zu Wort. Er analysiert die Verzerrungen in Wahrnehmung und Bewertungsmustern, die Neigung zu Irrationalität und die Anfälligkeit für ideologisch basierte Fehlschlüsse. Und – was noch wichtiger erscheint – er macht konkrete Vorschläge, wie durch Bildung und Aufklärung die Kompetenzen für vernunftgeleitetes Denken und Handeln gefördert werden könnten.

PINKER legt insgesamt ein beeindruckendes Plädoyer für die Beibehaltung und Verteidigung des eingeschlagenen Weges vor. Und es ist wirklich lehrreich und lohnend, sich die realen Fortschritte in den Lebensverhältnissen einmal so konkret vor Augen führen zu lassen. Zahlreiche weitere Aspekte konnten in dieser Rezension gar nicht erwähnt werden.
Dieses Buch wird mit Sicherheit bei jedem Leser Spuren hinterlassen (bei Leserinnen auch). Es ist im besten Sinne ein Grundlagenwerk, eines von der Sorte, bei dem man froh ist, es mal im Original gelesen zu haben (auch wenn es ein paar Stunden Konzentration kostete).
Auch wenn man PINKER nicht in jedem Punkt folgt und er gelegentlich die Grenze zur Polemik berührt: dieser Mensch und dieses Buch machen einen schlauer.
Ich würde es sofort wieder lesen!

“Die Grüne Macht” von Ulrich SCHULTE

Bewertung: 4 von 5.

Ein kritisch-aufklärerisches Buch über die GRÜNEN im Superwahljahr 2021. Sicher keine schlechte Idee! Geschrieben hat es ein bekannter taz-Redakteur, der auf eine lange Beobachtungszeit zurückgreifen kann.

Es ist ein politisches Buch über eine politische Partei und deren Führungs-Duo; da auch der Autor ein politisch denkender und wertender Mensch ist, kann das Ergebnis naturgemäß nicht neutral oder gar objektiv sein.
Generell kann man festhalten: SCHULTE bringt der aktuellen Strategie der GRÜNEN zwar eine gewisse Grundsympathie und einigen Respekt entgegen, sucht aber – wo immer es geht – nach Schwächen, Widersprüchen, Inkonsequenzen und Tendenzen in Richtung Prinzipienverrat.
Als Grundhaltung lässt sich rasch erkennen: Zwar kann der Autor nicht verhehlen, dass der aktuelle Kurs und die darauf basierende Außendarstellung sehr erfolgreich sind; aber nach seinem Geschmack geht die Öffnung zur Mitte, die Anpassung an den politischen Mainstream zu weit. SCHULTE reiht sich damit – wenn auch in gemäßigter Form – in die Kritik derjenigen Aktivisten und Intellektuellen ein, die sich grünere und linkere GRÜNE wünschen und den radikaleren Wurzeln der früheren Alternativ-Partei nachtrauern.

Nun schreibt SCHULTE keineswegs ein oberflächliches Pamphlet. Auf über 200 Seiten betrachtet er insgesamt 20 Aspekte der aktuellen Realität einer Partei, die sich anschickt, alte Volksparteien (zumindest eine) abzulösen und selbst zu einer gesellschaftlichen Integrationskraft zu werden (für inzwischen alle Politikfelder).
Der Autor beschreibt differenziert, wie erfolgreich sich Baerbock und Habeck bemühen, für eine Vielzahl von Milieus einen Politikstil und ein Lebensgefühl zu verkörpern, die weit über linksökologische Nischen hinaus eine Ausstrahlungskraft in sich tragen. Ganz bewusst wurden ideologische Gräben verlassen; man gibt sich locker und teamfähig, kommunikativ und empathisch. Politik mit der Brechstange und mit dem berühmten “Basta” ist out, Autoritätsgehabe und Grabenkriege um die “Reine Lehre” kommen nicht mehr an.

SCHULTE ist geradezu verblüfft, wie gut dieses Image ankommt; aber dabei darf es natürlich nicht bleiben. Da wo es gut läuft, müssen sich doch irgendwo versteckte Konflikte, Halbheiten oder gar Täuschungen aufdecken lassen. Dazu einige Beispiele:
– natürlich entdeckt der Autor hinter dem so erfolgreich zur Schau gestellten Teamspirit doch eine echte Konkurrenz zwischen den beiden Frontmenschen (finde ich weder erstaunlich noch ehrenrührig)
– es wird der Vorwurf erhoben, dass man sehr viel Kontrolle über die öffentliche Darstellung ausübe, z.B. bei dem Umgang mit Interview-Texten (finde ich nur logisch, wenn man die Erfahrungen bzgl. der Skandalisierung einzelner Aussagen berücksichtigt)
– an verschiedenen Stellen wird bemängelt, dass man sich so “breit” aufstelle, sich sogar um die “Mitte” bemühe, sicher gegenüber der CDU so einladend zeige, sogar freundliche Worte gegenüber der Polizei oder dem Verfassungsschutz finde (okay: das ist nun mal die Strategie, die eine Chance auf ein maßgebliches Mitwirken eröffnet hat; wenn man sich so entschieden hat, muss man nicht immer wieder über Einzelaspekte meckern…)
– an verschiedenen Stellen erfülle man die Ziele und Maßstäbe selbst noch nicht weit genug, z.B. in der öffentlichen Präsenz von diversen Minderheitsgruppen (gleichzeitig werden ernsthafte Bemühungen in diese Richtung geschildert…)

Noch ein paar Worte zu dem Knackpunkt der Kritik: Sind die GRÜNEN zu zahm, zu bescheiden, zu kompromissbereit in Sachen Umwelt und Klima geworden? Haben die Aktivisten recht, die schon alternative Parteien mit einem tieferen GRÜN suchen bzw. gründen?
Recht ausführlich geht SCHULTE der Frage nach, ob die modernen GRÜNEN überhaupt noch bereit sind, den Menschen Einschränkungen oder Verzicht zuzumuten. Er verneint diese Frage weitgehend und schließt daraus, dass die Partei entweder nicht die Wahrheit sagt (um potentielle Wähler nicht zu verschrecken) oder inzwischen der Überzeugung ist, dass die Sache mit dem “Grünen Wachstum” (Nachhaltigkeitswirtschaft ohne Verbote und Wohlstandsverlust) tatsächlich funktionieren könnte.
Ich halte diesen Widerspruch für konstruiert: Wir brauchen auf der einen Seite einen Investitions- und Innovationsschub in Richtung kreativer (technischer und digitaler) Lösungen – weil eine Politik in Richtung Deindustrialisierung weder durchsetzbar noch sozial verantwortbar erscheint. Und wir brauchen natürlich Vorgaben, Regeln, Grenzwerte und andere massive Steuerungsmethoden. Beides wird von den GRÜNEN vertreten – wobei vielleicht inzwischen ein bisschen zu vorsichtig mit vermeintlichen Reizworten umgegangen wird.

Resümee:
Der Autor tut so, als könnte man alles gleichzeitig haben. Auf der einen Seite erfolgreich ein positives und einladendes Angebot zu machen für eine breite Allianz von ökologisch und sozial interessierten Menschen – und dabei pausenlos, kompromisslos und radikal die Endziele einer gemeinwohlorientierten und ökologischen Gesellschaft auf den Lippen tragen.
Letztlich muss SCHULTE immer wieder einräumen, dass der eingeschlagene Weg sowohl sinnvoll (“es geht in die richtige Richtung”) als auch erfolgreich (“eine breite gesellschaftliche Integrationskraft”) ist.
Seine kritischen Anmerkungen sind deshalb nicht falsch oder verwerflich; sie wirken nur immer wieder etwas “gewollt”. Ein bisschen nach dem gewohnten Intellektuellen-Motto: “Was auf breitere Zustimmung stößt, muss ja irgendwie verkehrt sein.”
Letztlich landet der Journalist bei der (für ihn wohl frustrierenden) Schlussfolgerung, dass diese GRÜNEN keine grüne Revolution planen, so dass sie die eine Seite enttäuschen werden und die Ängste der anderen Seite überflüssig machen. Allerdings – so müsste man ergänzen – wird die Politik für die große Gruppe dazwischen vermutlich ganz in Ordnung sein.

Wer sich selbst eine Meinung von dem Politikentwurf der aktuellen GRÜNEN machen will, dem sei das aktuelle Buch von HABECK empfohlen (“Von hier an anders“).
Wer seine eigene kritische Haltung gegenüber dem vermeintlichen “Kuschelkurs” der Partei untermauern möchte, ist mit dem Buch von SCHULTE sicher gut bedient.

“Erste Person Singular” von Haruki MURAKAMI

Bewertung: 3.5 von 5.

Der japanische Meister-Erzähler legt acht Kurzgeschichten vor. Sie lösen bei mir, einem echten Fan, extrem ambivalente Gefühle aus.
Im Durchschnitt ist es letztlich für mich nur ein durchschnittliches Buch.

Ich weiß nicht, ob es stimmt. Es fühlt sich so an, als ob MURAKAMI seine alten Tagebuch-Notizen durchgeschaut hat, um nach verwertbarem Stoff zu suchen. Natürlich ist er fündig geworden und lässt seine Leser, die sicher am liebsten einen neuen großen Roman bekommen hätten, daran teilhaben.

Ohne Zweifel: Irgendwie kann MURAKAMI aus jeder noch so banalen oder zufälligen Situation eine Geschichte machen. In einigen dieser geschilderten Begebenheiten geht es um für ihn typische Sonderbarkeiten; der Autor hat offenbar eine Begabung für die Begegnung mit Absurditäten. Er versteht es wie kaum ein anderer, die Ebenen knapp unterhalb (oder neben) der rationalen Alltagswelt zum Klingen zu bringen. Der Autor hat einen scharfen Blick für situative Details, der eine sehr spezielle Atmosphäre entstehen lässt.
Kurz gesagt: Einige dieser Geschichten bereiten also den gewohnten Lese- bzw. Hörgenuss.

Ja, jetzt kommt das Aber.
Es gibt andere Geschichten, die ich als Zumutung erlebt habe. Es kann doch nicht sein, dass einer der Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis Texte abliefert, die man bestenfalls als Schreibübungen eines Jung-Autors durchgehen lassen könnte. Als Beispiel sei die Betrachtung seiner Baseball-Leidenschaft genannt.
Es kommt mir in diesen Momenten so vor, als ob da unbedingt jemand schreiben will, der eigentlich gerade nichts zu sagen hat. Schreiben als Selbstzweck – weil man es kann?
Oder ist dieser Schriftsteller inzwischen so berühmt, dass jede Episode aus seinem Leben eine Bereicherung für die Literaturgemeinde darstellt?
Vielleicht wollen ja auch der Verlag oder die ungeduldige Leserschaft bedient werden?

Egal. Ich werde auch das nächste MURAKAMI-Buch wieder erwerben, voller Vorfreude und Erwartung. Man kann auch mal Fünfe gerade sein lassen…

“Anständig leben” von Sarah Schill

Bewertung: 4 von 5.

Beim ersten Durchblättern war ich ein wenig misstrauisch – schienen mir doch die Schilderungen sehr persönlich und subjektiv zu sein. Mein Resümee sieht aber letztlich ganz anders aus.
Doch der Reihe nach.

Eine junge Frau, die sich als Teil eines aufgeklärten, liberal-progressiven Milieus darstellt, will die Sache mit der Nachhaltigkeit genauer wissen. Unverbindliche Apelle oder diffuse Vorsätze reichen ihr nicht mehr. Da sie nicht an den alarmierenden Befunden zur ökologischen Ausgangslage zweifelt (die auch im Erscheinungsjahr 2014 schon eindeutig waren), will sie endlich handeln.
Statt von allem ein bisschen zu verändern, will sie durch Selbstversuche erkunden, was es denn eigentlich bedeuten würde, wenn man Einsichten und Ziele wirklich konsequent in Handeln umsetzt. Exemplarisch nimmt sie sich zwei der großen Öko-Themen vor: die fleischlose Ernährung und die Plastikvermeidung.

Die ersten zwei Drittel des Textes bestehen aus der Beschreibung der Erfahrungen, die Sarah SCHILL dabei gemacht hat, je einen Monat vegan bzw. plastikfrei zu konsumieren und zu leben. Im letzten Teil des Buches wird die Perspektive erweitert: die Autorin nimmt Kontakt zu Projekten und Initiativgruppen auf, recherchiert zu weiteren Einzelthemen (z.B. “urban gardening”, der Tier-Schlachtung und der Jagd) und bietet durch ein ausführliches Quellenverzeichnis und zusätzliche Links eine Menge Infoservice zur Vertiefung bzw. zur praktischen Umsetzung.

Es wurde schon angedeutet: SCHILL hat ein sehr persönliches Buch geschrieben. Zwar beinhaltet es auch jede Menge sachlicher Informationen über die desaströse Ausgangslage, im Mittelpunkt steht aber das eigene Erleben beim Versuch des privaten Umsteuerns. Dabei spielen durchgängig zwei Perspektiven eine Rolle:
– Mit welchen inneren und äußeren Hürden habe ich zu kämpfen, wenn ich wirklich – von jetzt auf gleich – konsequent handeln will?
– Wie entwickeln sich meine eigenen Positionen zwischen gedankenlosem Hedonismus und Öko-Sektierertum? Wie geht es mir damit?

Tatsächlich liegt der Mehrwert dieses Buches genau dort.
Die Autorin schafft einen Identifikationsraum, in dem sich die Leser/innen mit ihren eigenen Ambivalenzen wiederfinden können. Es gibt Widersprüche und Zweifel, Idealismus und Resignation. Das alles kennt man von sich selbst. Kaum jemand schafft es, auf allen Gebieten gleichermaßen konsequent zu sein; ehrlicherweise will das auch kaum jemand wirklich.
SCHILL geht mit ihrer Neugier und ihrem Tatkraft den meisten Leser/innen ein paar Schritte voraus. Das ist mutig, anregend und hilft bei der eigenen Positionierung. Da gibt es eine Art “Heldin”, die ein Stück unerschrockener ist als man selbst. Aber es ist eine Heldin aus Fleisch und Blut, keine perfekte Lichtgestalt.
Dass die Autorin einen locker-flockigen Stil hat und sich auch selbstkritisch und humorvoll hinterfragt, versteht sich schon fast von selbst.

Ich kann das Buch sehr empfehlen, wenn man keine reine faktenbasierte Sachbuchlektüre sucht. Es wirkt aktuell, obwohl seit dem Erscheinen schon ein paar Jahre vergangen sind. Natürlich gäbe es inzwischen neuere Zahlen und zusätzliche Verweise – die beschriebenen Grundkonflikte mit der eigenen Konsequenz haben sich nicht verändert.

“Vergiss kein einziges Wort” von Dörthe BINKERT

Bewertung: 4 von 5.

Eine Familiensaga vor (zeit)geschichtlichem Hintergrund. Ein historischer Roman also, wie es ihn in den letzten Jahrzehnten zuhauf gab. Warum sollte man genau diesen lesen?
Ich weiß nicht, ob man sollte. Ich weiß, warum ich wollte (nachdem eine gute Freundin mich darauf gestoßen hat).

Meine Eltern stammten aus Schlesien. Ich kenne die Geschichten ihrer Flucht, habe aber nur sehr diffuse Vorstellungen von dem Leben in ihrer Heimat. Ich war noch nie in Polen, habe mich noch nicht mal genauer mit der wechselvollen Geschichte der früheren “Ostgebiete” beschäftigt. Ich war immer Westdeutscher und hatte mehr Bezug zu den Urlaubsländern in Südeuropa als zu den geografischen Wurzeln meiner Herkunftsfamilie.
Dieses Buch sollte daher ein kleiner Versuch werden, eine große Lücke zu füllen.

Die Autorin hat alle Zutaten im Gepäck, um einen historischen Familienroman zu gestalten. Sie bietet ein verzweigtes, aber trotzdem noch überschaubares Netz von Figuren an, die in einer Drei-Generationen-Perspektive miteinander verbunden sind. (Fast) alles, was in Familien und ihrem Umfeld so passieren kann, kommt auch in diesem Roman vor. Dazu gesellen sich alle die Dinge, die vor, in und nach einem Krieg passieren – nicht auf den Schlachtfeldern, sondern in der Heimat, wo die Familien (also hauptsächlich die Frauen) auf die Rückkehr bzw. die Todesnachricht ihrer Männer warten. Es geht also um Armut, Hunger, Sorgen, Gewalt – aber auch um Solidarität, Menschlichkeit, Familiensinn und die Suche nach den kleinen privaten Glücksinseln. Im Mittelpunkt stehen mutige und leidensfähige Frauen.

Neben dieser privaten Seite geht es in solchen Büchern auch um den zeitgeschichtlichen Background – in diesem Fall um die nahezu unfassbar komplizierten und leidvollen Erfahrungen der Menschen, die sich einmal als “Schlesier” gefühlt haben. Es ist ganz eindeutig das Hauptanliegen der Autorin, die Irrungen und Wirrungen lebendig zu machen, die mit den multiplen und wechselhaften Identitäten als “Deutsche” bzw. “Polen” zusammenhingen – quer durch die Familien.

Das Buch ist leserfreundlich ausgestattet. Es bieten eine Übersicht über die Personen und ihre Bezüge und eine ausführliche Übersicht über die historischen Fakten. Toll!
BINKERT präsentiert keinen hochliterarischen Text. Die Sprache, das Erzählen ist Mittel zum Zweck, sie ist funktional. Das ist kein Nachteil, wenn man sich auf die Inhalte konzentrieren möchte.
Natürlich wird hier keine neutrale Dokumentation vorgelegt. Das Alltagsleben rund um Gliwice/Gleiwitz wird aus Sicht der Menschen aufgefaltet; dabei spielen ihre Beziehungen und ihre Gefühle, ihre Hoffnungen, Enttäuschungen und Verluste die entscheidende Rolle. Geschichte wird personalisiert und damit auch emotionalisiert. Wer das kitschig findet, sollte andere Bücher lesen.

Das Buch hat für mich seinen Auftrag eindeutig erfüllt. Zwar wäre ich auch mit etwas weniger privatem Herz/Schmerz zufrieden gewesen, aber insgesamt ist der Autorin ein gutes Gleichgewicht zwischen Einzelschicksal und Vermittlung von historischen Zusammenhängen gelungen. Die 630 Seiten waren mir nicht zu viel; ich musste mich an keiner Stelle aufraffen weiterzulesen – ganz im Gegenteil.

Es gibt allerdings auch etwas Betrübliches: Für mich kam dieses Buch zu spät!
Vor 10 oder 15 Jahren wäre es eine perfekte Grundlage für Fragen gewesen, die ich meinen Eltern leider nie gestellt habe. Es wären sicher Gespräche entstanden, die nie geführt wurden.
Ein Buch, das einem so etwas bewusst macht, kann kein schlechtes Buch sein.



“Das Verschwinden der Erde” von Julia PHILLIPS

Bewertung: 2.5 von 5.

Die positiven Reaktionen auf dieses Roman-Debüt hat auch mich erreicht und eine spontane Kaufentscheidung ausgelöst – in Hörbuch-Form. Ich denke jetzt, es war vielleicht ein bisschen zu spontan. Ich hätte Zeit und Geld doch lieber in eine andere Richtung lenken sollen.

Der Roman beginnt und endet mit der Geschichte einer Entführung von zwei Mädchen in einer abgelegenen russischen Provinz. Dieser Plot dient damit als eine Art äußerer Klammer für die restlichen Inhalte, schafft aber auch zwischendurch den Zusammenhang zwischen all den anderen Personen, von denen in diesem Buch die Rede ist.
Es sind vor allem eine Reihe von Frauen, deren Leben in irgendeiner Weise mit diesem Ereignis verbunden sind – z.B. durch Verwandtschaft und Bekanntschaft mit der verzweifelten Mutter.
Nun ist es keineswegs so, dass hier eine geradlinige Geschichte eines Verbrechens und seiner Aufklärung erzählt wird. Ganz im Gegenteil: Die vermissten Mädchen schweben im Großteil des Romans nur ganz abstrakt über den Dingen; so etwas wie planvolle Ermittlung findet gar nicht statt.

Worum geht es dann in diesem Buch?
Grob gesagt, geht es um die Erfahrung von Frauen: mit (ihren) Männern, mit ihren Kindern, mit einer gleichgültigen Bürokratie, mit Armut und Perspektivlosigkeit. Beschrieben wird der anstrengende und meist eintönige Alltag, der nur aufgehellt oder unterbrochen wird durch solidarische Erfahrungen mit anderen Frauen und den ganz privaten Fantasien von einem irgendwie besseren, glänzenderen Leben.
Es gibt wenig Freude und Genuss in dieser Ecke des Landes, wenn auch die Landschaft eindrucksvoll sein kann. Meist ist der Ausstieg aus dem trüben Pflichtprogramm mit dem Trinken verbunden – wobei die Frauen in der Regel eher die Opfer als die Nutznießer des Alkoholkonsums sind. An jeder Ecke wird deutlich, dass es Frauen sind, die alles Wesentliche am Laufen halten – mit ihrer Energie, mit ihrer Zähigkeit und ihrem Verantwortungsgefühl. Es geht in diesem Buch um die Kraft und die Würde solcher Alltags-Heldinnen.

Die Autorin schreibt in einem eindringlichen Stil, der durch bildhafte Formulierungen und häufige inhaltliche Wiederholungen gekennzeichnet ist. Ein bisschen fühlt es sich so an, als ob man immer wieder ähnliche Schleifen durchläuft; in diesen Schleifen begegnet einem hin und wieder ein Bezug auf die beiden verschwundenen Mädchen.
Es gelingt der amerikanischen(!) Autorin unzweifelhaft gut, eine bestimmte Atmosphäre zu generieren; man spürt, dass sie sich auf diese Gegend und ihre Menschen persönlich eingelassen hat; vielleicht wollte sie ihnen – insbesondere den Frauen – sogar so etwas wie ein Denkmal setzen.
Auf der anderen Seite habe ich die Komposition der Geschichte fast als eine Zumutung erlebt. Ich wollte irgendwann nur noch, dass es bitte bald vorbei ist. Bis kurz vor Ende war völlig unklar, ob denn das Schicksal der beiden Mädchen wohl nochmal aufgegriffen würde. Die Art, in der das dann geschehen ist, fand ich wenig überzeugend.

Dieses Buch wird von der Kritik sehr gelobt; das Marketing läuft offenbar gut und man kann fast schon von einem Hype sprechen. Sorry – da kann ich nicht mitgehen.
Es ist sicher sehr subjektiv und ganz fürchterlich verkürzt und pauschal – doch auf den Punkt gebracht denke ich: Diese Julia Phillips kann zwar schreiben, aber nicht erzählen.

“Von den Bakterien zu Bach – und zurück” von Daniel C. DENNETT

Bewertung: 4 von 5.

Manchmal wir die Bewertung eines Buches stark davon beeinflusst, wie stark es die Erwartungen erfüllt (oder enttäuscht), die man darauf projiziert hat.
Ich schreibe hier über einen sehr besonderes Buch, das aber nicht genau das erhoffte war.

DENETT ist ein amerikanischer Philosoph, der sehr stark naturwissenschaftlich orientiert ist; insbesondere ist er ein leidenschaftlicher Vertreter der darwinistischen Evolutionslehre.
Er hat sein (langes) Schaffen als Forscher und Publizist einer grundsätzlichen philosophischen Frage gewidmet: Gibt es neben der physikalischen, auf Materie und Naturgesetzen basierenden Welt noch eine zweite Dimension, die so etwas wie eine geistige Welt umfasst, die auf ein höheres Wesen und seine Schöpfungskraft hinweist. Das wäre die Theorie des Dualismus.
DENETT nimmt sich in diesem Resümee seines Lebenswerkes (er ist knapp 80) gleich das größte, spannendste und umstrittenste Thema vor, an dem man diese Frage abarbeiten kann: das menschliche Bewusstsein. Denn eines scheint klar: Wenn man das Geheimnis des Ich-Bewusstseins naturwissenschaftlich erklären könnte, dann wäre der Dualismus endgültig aus dem Rennen.

Anders als erwartet nähert sich der Autor dem Bewusstsein nicht von der Seite der Hirnforschung. Er fängt ganz vorne an, bei der Entwicklung des Lebens und den Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Auslese, wie sie von Darwin (“Über die Entstehung der Arten”) und später u.a. von Dawkins (“Das egoistische Gen”) dargestellt wurden.
Der Grund für seine Akribie wird schnell deutlich. Er will eine möglichst lückenlose Argumentations- und Beweiskette schmieden, in die sich an keiner Stelle “der Feind” (die Kreationisten bzw. die Vertreter des Intelligenten Designs) mit ihrer Skepsis und ihrem Zweifel einnisten können.

Ganz grob entwirft DENNETT folgende Denklinie: Der “geistlosen” genetischen Auslese lassen sich letztlich alle biologischen Entwicklungsschritte zuschreiben – bis zu dem Punkt, an dem es zu einer Art kulturellen Explosion bei den frühen Menschen kommt.
Danach geht es – sozusagen – zweigleisig weiter: Auf der einen Seite entwickeln sich erste Kulturtechniken (vor allem die Sprache) ebenfalls nach Prinzipien der Auslese weiter (nur viel schneller als über den genetischen Weg); dazu kommt ein Prozess der Wechselwirkung, in dem sich biologische Strukturen an die Erfordernisse der Kulturerrungenschaften anpassen. Dieser Prozess ist dann aber eben nicht mehr zufallsgesteuert (durch ziellose Mutationen, die erst mühselig ihre Überlegenheit unter Beweis stellen müssen), sondern sozusagen vorgebahnt – und damit schneller.
Ganz zum Schluss entsteht dann für die immer intelligenteren (Vor-)Menschen die Notwendigkeit, auch die eigene Kommunikation zu steuern und zu reflektieren. Um diese unglaublich komplexe neuronale Leistung zu vollbringen, wurde so etwas wie eine “Benutzeroberfläche” entwickelt, die dem User das Gefühl vorspiegelt, ein autonomer, willensfreier Beherrscher seines Geistes zu sein.

Das alles ist im Detail wirklich sehr kompliziert. Es wird auf 450 eng bedruckten Seiten Schritt für Schritt ausgeführt. Die Perspektiven werden hin und hergewendet, mögliche Einwände erörtert, Alternativen abgewogen, Modelle kreiert und verworfen.
Man fühlt sich an DAWKINS erinnert, der im “Egoistischen Gen” einen vergleichbaren, fast zwanghaft gründlichen Diskussionsstil zelebriert. Wenn man wirklich jeden einzelnen Gedanken nachvollziehen wollte, müsste man sich wohl einige Wochen Zeit nehmen.

Mich brauchte DENNETT nicht zu überzeugen. Trotzdem habe ich mal wieder das sichere Gefühl genossen, dass es auf der anderen philosophischen Seite (bei den Dualisten oder den Idealisten) sicher keine vergleichbar nachvollziehbaren Darstellungen gibt.
Es erscheint angesichts der Folgerichtigkeit der Argumentation und ihrer wissenschaftlichen und logischen Belege einfach extrem abstrus zu behaupten, dass ausgerechnet das menschliche Bewusstsein den Gestaltungskräften der Natur entzogen und durch eine externe “Sonderkraft” geschaffen sein sollte.
Der einzige Grund für eine solche Annahme ist das emotionale Bedürfnis des Menschen nach Einzigartigkeit als Krone der Schöpfung.

Ein anregendes und anstrengendes Buch.
Ich hätte mir etwas weniger Evolutionstheorie und etwas mehr Neuro-Wissenschaft gewünscht.
Was man bekommt, ist auf jeden Fall einen leidenschaftlichen Wissenschaftler, der für die Verbreitung seiner Überzeugung keine Mühe scheut.

Trumps Begnadigungs-Orgie

Frage:
Was unterscheidet die völlig ausufernde Welle von Begnadigungen rechtmäßig verurteilter Straftäter durch einen scheidenden Präsidenten (143 allein in den letzten Stunden) von der Gepflogenheit eines Mafia-Bosses, die in seinem Auftrag tätigen Gangster möglichst zeitnah aus dem Gefängnis zu befreien?

Antwort:
Ich weiß keine

In beiden Fällen wird letztlich ein gesetzloser Raum geschaffen, in dem die (zukünftigen) Täter schon vor ihrer Tat wissen, dass sie letztlich einer Strafverfolgung – zumindest überwiegend – entgehen können.
Der Mächtige kann sich also Loyalitäten schaffen, die weit über das normale Maß hinausgehen, weil begrenzende oder hemmende Mechanismen außer Kraft gesetzt werden.

Vielleicht gab oder gibt es ja einen sinnvollen Grund für solche Regelungen.
Aber in den Händen eines trumpartigen Charakters wirkt das Ganze desaströs.