Party-Szene?

Ich kann es nicht mehr hören!
Warum nennt man seit zwei Tagen die gewalttätigen Menschen, die in Stuttgart Menschenleben gefährdet und Eigentum verwüstet haben, verharmlosend “Party-Szene”?

Gehört es inzwischen zum üblichen Zeitvertreib, sich bei einer sich bietenden Gelegenheit gegen Polizeikräfte zu solidarisieren und Langeweile oder Frust in Gewalt abzuführen?
Als Event? Als antiautoritäre Befreiungsgeste?

Wie wohltuend und beruhigend muss das für diese Gruppierungen klingen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit weiter als Party-Szene bewertet fühlen. So schlimm kann es also nicht sein…
Für mich ist das unverständlich!

Die alte Auto-Welt

Wenn jemand der Illusion unterliegen sollte, dass sich das Ende der deutschen Auto-Fixierung schon auf einem guten Wege befände – dem (oder der) empfehle ich einen Wochenendausflug bei gutem Wetter Richtung Ostwestfalen; z.B. in das nette Örtchen Lippstadt.

Dort ist die Auto-Welt noch in Ordnung. Samstag abends und Sonntag vormittags werden sie gezeigt, die kleinen Flitzer oder die kraftvollen PS-Protze. Eine Runde durch die Kneipen-Straßen und ihrem Publikum gehört zum Pflichtprogramm – fast wie in den US-Filmen der 60iger Jahre.
Hier – abseits der Großstädte und Metropolen – steht das Auto noch für Freiheit, Stil und Genuss; von Auto-Scham keine Spur!

Auf dem Weg von und zur Autobahn gibt es jede Menge blitzblank-geputzte Edelkarossen zu sehen, die ungeduldig darauf warten, dass ihrem technischen Potential endlich mal wieder ein angemessenen Raum gegeben wird.

Als Kleinwagen-Hybrid-Fahrer, der möglichst entspannt mit 4,0 l Durchschnittsvorbrauch von A nach B kommen möchte, fühlt man sich ein bisschen fremd in dieser scheinbar so selbstgewissen Dinosaurier-Welt.

Es ist vermutlich ganz gut, dass ich mich einer solchen Konfrontation mit der Realität nicht allzu oft aussetze. Auf den Fahrradtrassen in Essen kann man so schön von einer Verkehrswende träumen…

“Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens” von Richard David PRECHT

Ein Buch von Precht zu lesen, ist für mich eine gewisse Herausforderung:
Finde ich – so lautet die selbstgestellte Aufgabe – wenigstens hin und wieder mal eine Stelle, an der ich im permanenten zustimmenden Nicken innehalten kann und sich zumindest mal ein zögerlicher „Ja-Aber-Gedanke“ ausbildet?
Beim Thema „Künstliche Intelligenz“ (ich spreche jetzt nur noch von „KI“) hatte ich eine kleine Hoffnung auf solche inneren Abgrenzungs-Momente, da der Autor erfahrungsgemäß mit seinem Digital-Skeptizismus über meine eher ambivalente Haltung hinausgeht.
Ich war dabei nicht besonders erfolgreich…

Precht tritt mit seinem aktuellen Buch bescheiden auf: Er nennt es einen „Essay“. Im Gegensatz zu den letzten essayhaften Publikationen von HORX und BLOM handelt es sich aber bei seiner aktuellen Abhandlung um ein ausgewachsenes Sachbuch. Man muss keine inhaltliche Unterforderung befürchten, weil nur ein oder zwei Grundgedanken in aufgeblasener Form dargeboten würden. Precht behandelt die (potentiellen) Auswirkungen der KI-Revolution auf das „Menschsein“ sowohl breit als auch mit Tiefgang.

Niemand wird von Precht erwarten, dass es um die technologischen Aspekte der KI geht. Hier meldet sich ein gesellschaftlich engagierter Philosoph zu Wort. Ein fasziniertes Staunen angesichts der Fähigkeiten und Möglichkeiten der KI-Entwicklung ist nicht seine Sache.
Natürlich nennt Precht im Laufe seiner Betrachtungen auch sinnvolle und vielversprechende Anwendungen der KI, aber diese stellen nur ein leises Grundrauschen dar gegenüber seinen sehr grundsätzlichen, kritischen und warnenden Perspektiven.

Jetzt muss ich – möglicherweise – eine Erwartung enttäuschen: Ich werde an dieser Stelle nicht durch die Grundthesen dieses Buches führen (dann wäre dieser Text ein eigener Essay). Die Inhalte kann man sich an anderen Stellen problemlos erschließen (im Netz gibt es jede Menge aktueller Precht-Auftritte; außerdem auch jede Menge anderer Rezensionen).
Aber die – aus meiner Sicht relevantesten – Themen-Komplexe sollen kurz benannt werden:
Precht beschreibt
– die erschreckende Ignoranz der KI-Propheten gegenüber den ökologischen Herausforderungen,
– die grundlegenden Irrtümer bei der Gleichsetzung von menschlicher und digitaler Intelligenz (bei denen die leibliche und emotionale Gebundenheit unserer kognitiven Leistungen ausgeblendet wird),
– die „inhumanen“ Konzepte und Visionen der Technik-Gurus aus dem Silicon-Valley (die den gegenwärtigen Menschen-Typ durch Verschmelzung mit digitalen Komponenten „erweitern“ oder durch die Entwicklung einer „starken“ KI ersetzen wollen – einige mit dem Fernziel, das ganze Universum zu erobern),
– das völlig einseitige Menschenbild der KI-Enthusiasten (in dem es keine Alternativen zu dem endloser Bedürfnis nach Kontrolle, Weiterentwicklung und Selbstoptimierung gibt),
– die Unmöglichkeit, ethische und moralische Prinzipien in digitale Strukturen zu pressen (es sei denn, man würde der Moral einen streng „utilitaristischen“ Anstrich geben – was Precht total ablehnt).

All diese (und einige andere) Überlegungen führen zu den zentralen Fragen:
Ist die angekündigte KI-Zukunft wirklich mit unseren Vorstellungen vom „Menschsein“ kompatibel?
Wenn nicht – warum sollten wir diesen Weg gehen? Warum sollte er alternativlos sein?
Warum lassen wir uns von den Vertretern bestimmter (wirtschaftlicher) Interessen einreden, das es eine Art Naturgesetz in Richtung KI gibt?
Warum fangen wir nicht endlich an, für unsere Vorstellungen von menschlicher Zukunft einzutreten?

Wo bleibt das „ja, aber…“?
Nun, das zustimmende Nicken war tatsächlich kaum zu stoppen.
Es gibt ein paar kleine Zweifel; hier ein Beispiel: Ich bin z.B. nicht so sicher wie Precht, dass der Mensch in seiner jetzigen biologisch-evolutionären Ausstattung wirklich in der Lage ist, die selbstverursachten Untergangsrisiken aus eigener Kraft zu bewältigen. Ich halte zukünftige „Eingriffe“ in die menschliche Hard- und Software nicht unbedingt für erstrebenswert – aber vielleicht für notwendig. Möglicherweise können wir uns in ein paar Jahrzehnten tatsächlich einen „Menschentyp“ nicht mehr leisten, der einen charakterlosen Primitivling zum mächtigsten Mann der Welt macht.
In wenigen Punkte schießt auch ein Precht mal über‘s Ziel hinaus: Ich glaube nicht, dass sich Dawkings Standardwerk „Das egoistische Gen“ als ein Beispiel für den Vorwurf eignet, dass man der Evolution einen bewussten Plan und Willen unterstellt.
Aber das sind Peanuts angesichts der Fülle von anregenden Gedanken und Reflexionen.

Ein wenig länger diskutieren würde ich – wenn ich jemals diese Möglichkeit bekäme – Prechts etwas fundamentalistisch wirkende Forderung, man dürfe niemals Entscheidungen auf KI-Systeme übertragen, die sich konkret auf die konkrete Zukunft von Menschen auswirken (z.B. bei der Personalauswahl, im Straßenverkehr, bei der Kreditvergabe oder bei medizinischen Fragen). Ich würde ihn fragen wollen, warum er denn die menschlichen Entscheidungs-Algorithmen grundsätzlich als „wertvoller“ betrachtet. Kann er sich wirklich keine Fälle vorstellen, in denen menschengemachte (systematische) Fehlentscheidungen und Diskriminierungen durch den Einsatz einer KI zum Positiven korrigiert werden könnten?

Ein wenig geärgert hat mich seine Ausführungen zur Beschränktheit der Gültigkeit von statistischen Aussagen für den Einzelfall. Es wirkt ein wenig naiv, jetzt der KI vorzuwerfen, dass sie bei Entscheidungen auf der Basis von Datenanalysen ja nicht die Besonderheiten und den Kontext des Individuums berücksichtigen würde. Zwar räumt Precht letztlich ein, dass das auch ohne KI – wie ich finde unvermeidlich – stattfindet; trotzdem bekommt die KI auch diesen Minuspunkt aufs Konto. Wie sollte denn – so frage ich mich – eine hochkomplexe und vielfältig vernetzte Gesellschaft ohne
Wahrscheinlichkeits-Abschätzungen auskommen? Was müssten wir dann alles in Frage stellen?!
Da hat auch ein Precht mal nicht zu Ende gedacht oder ein wenig unlauter argumentiert (finde ich).

Trotzdem gibt es diese eindeutige Bilanz:
Dieses Buch ist weit mehr als eine etwas ausgeweitete Zusammenfassung bekannter Standardargumente. Wer sich in den kommenden Monaten und Jahren mit den philosophischen und ethischen Implikationen der KI auseinandersetzen will, kommt an dieser Vorlage von Precht wohl kaum vorbei. Selbst wenn man ihm nicht in allen Punkten zustimmt, so bietet er doch so etwas wie einen Referenzrahmen für den weiteren Diskurs.

Empfehlung: Lesen (oder hören; der Autor liest selbst – ziemlich schnell).

“Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit” von Rutger BREGMAN

Ein durch und durch überraschendes und faszinierendes Buch!

Normalerweise fange ich eine Rezension nicht mit meiner Bewertung an. Es fällt mir hier aber schwer, sie zurückzuhalten. Weder möchte ich meinen Drang disziplinieren, dieses Buch vorweg zu loben, noch möchte ich das Risiko eingehen, dass jemand vielleicht vorzeitig das Lesen abbricht und dann die entscheidende Botschaft nicht bekommt.

Ich habe wirklich schon eine Menge Sachbücher gelesen – psychologische, philosophische, soziologische, politische, historische, naturwissenschaftliche – aber dieses Buch ist tatsächlich anders als alle anderen.
Es ist ein wissenschaftliches und zugleich ein sehr persönliches Buch. Es beinhaltet Themen aus allen genannten Disziplinen und bringt sie in einen ganz besonderen Zusammenhang. Diese Verbindungen, dieser rote Faden, entspringt nicht einer “sachimmanenten” Logik, sondern der subjektiven Motivation des Autors, einem niederländischen Historikers und Journalisten (es handelt sich übrigens um einen relativ jungen Mann – ganz anders als die Hörbuch-Stimme es vermuten lässt).

Anders als es der Untertitel des Buches suggeriert, wird hier keineswegs eine zusammenhängende, irgendwie chronologische Geschichtsschreibung der Menschheit geboten. Aber es wird eine andere Geschichte über die Gattung Mensch erzählt!
Es ist ein – offensichtlich sehr persönliches – Anliegen des Autors, seine positive Sichtweise der menschlichen Natur einer anderen Erzählung entgegenzustellen; einer negativen Erzählung die – seiner Überzeugung nach – auf zahlreichen Missverständnissen, Verzerrungen, Auslassungen, Fehlinterpretationen und auch eindeutigen Lügen beruht.

Nun ist BREGMAN aber kein von einer Mission beseelter naiver Gutmensch, der sein privates Glaubensbekenntnis unter die Leute bringen will.
Ganz anders: Der Mann hat Biss!
In einer an Hartnäckigkeit, empirischer Gründlichkeit und Aufwand kaum zu übertreffender Art und Weise nimmt er sich eine ganze Reihe von – scheinbar willkürlich – ausgewählten Einzelthemen vor und tut, was er offenbar am liebsten tut und am besten kann: Er zerstört Mythen und vermeintliche Gewissheiten über die so “egoistische und grausame Natur” des Menschen, die nur durch intensivste zivilisatorische Eingriffe halbwegs im Zaum gehalten werden kann.

Er schreibt u.a. über:
– das (meist sehr vernünftige und solidarische) Verhalten von Menschen in Notsituationen und bei Katastrophen,
– die (überraschend ausgeprägte) Neigung von Soldaten, auch mitten im Krieg das Töten zu vermeiden,
– die erstaunlichen Erfolge von alternativen Modellen, mit Straftätern und Gefangenen umzugehen.

In einige Themen verbeißt sich der Autor förmlich. So stellt er sehr gründlich und anschaulich seine These dar, wie der – durch die Evolution auf “freundlich” getrimmte – Jäger und Sammler durch Sesshaftigkeit, Landnahme und Besitz erst einige unsympathische Charakterzüge entwickelt hat. Auch die Kultur der Osterinseln und deren so schockierendes Ende wird von BREGMAN sehr systematisch aufgerollt und in ein völlig verändertes Licht gestellt. Der (erschreckenden) Botschaft des weltberühmten Romans “Herr der Fliegen” stellt er eine wahre Geschichte entgegen, die so erfreulich anders verlaufen ist. Ein Kapitel über amerikanische Polizeigewalt liest sich wie ein Kommentar zu den gerade aktuellen Ereignisse in den USA (Stand Juni 2020).

Stärker als alles andere hat mich aber die (nachvollziehbare) Infragestellung einiger grundlegender experimenteller Befunde aus der Sozialpsychologie berührt und geradezu schockiert. Dabei ging es um nicht weniger als die bekanntesten “Indizien” für die Verführbarkeit und Bösartigkeit des Menschen (z.B. das “Gefängnis-Experiment von Zimbardo oder das Gehormsakeits-Experiment von Milgram).
In weiten Teilen geht es bei dieser akribischen Analyse von Daten und Schlussfolgerungen nicht um neue Interpretationen, sondern um die Aufdeckung von Fälschungen und Betrug!
Eigentlich kaum zu glauben!

Was fängt nun BREGMAN mit all dem an?
Er unterfüttert unermüdlich und faktenreich seine Grundthese, dass der Mensch eine Grundanlage zur Kooperation und Empathie in sich trägt. Er ist überzeugt davon, dass es sich auf allen Ebenen lohnt, seinen Mitmenschen erstmal mit Vertrauen zu begegnen, dass es sinnvoll und effektiv ist, auch benachteiligten oder gestrauchelten Menschen würdevoll zu begegnen. Für ihn ist klar belegt, dass das Verhalten der Menschen sehr häufig die Art des erfahrenen Umgangs wiederspiegelt, dass Fehlverhalten oft das Ergebnis von Diskriminierung und negativen Zuschreibungen ist.

Der Autor vermittelt und bewertet zwar eine Menge Fakten und Befunde, sein Schreibstil ist aber eindeutig journalistisch. BREGMAN schreibt für den interessierten Laien. Er fängt den Leser dadurch ein, dass er “Geschichten” erzählt – nicht trocken und nüchtern, sondern spannend und lebensnah. So wird Erkenntniszuwachs zum Vergnügen!

Selten hat mich ein Buch so überrascht, irritiert und stellenweise schockiert – selbst in Bereichen, in denen ich mich seit einigen Jahrzehnten (durch Studium und Beruf) ganz gut auskennen sollte. Gleichzeitig habe ich ein sehr menschliches, optimistisches und anrührendes Buch genossen, das Mut zur Menschlichkeit macht.
Angesichts der faszinierenden Einblicke und Erkenntnisse fallen gelegentliche Längen oder Redundanzen nicht ins Gewicht.

Für mich ist es eines der besten Sachbücher, die ich jemals gelesen habe!

Die App ist da!

Die deutsche Gründlichkeit hat mal wieder zugeschlagen: Es musste die “weltbeste” App sein, weit ab von jedem Verdacht, irgendein Datenschutzrisiko zu beinhalten.
Und natürlich ist sie freiwillig, freiwillig, freiwillig!

Ich bin gespannt, ob es trotzdem eine Boykott- und Ablehnungsszene geben wird. Einfach, weil man ja gegen das sein muss, was irgendwie “staatlich” ist. Weil Staat bedeutet ja offensichtlich, Kontrolle, Ausspionieren, Datensammeln.
Der Staat ist ja irgendwie immer der Gegner.

Vielleicht bin ich ja naiv. Es liegt wohl daran, dass ich noch nie in einem Unrechtsregime leben musste. Ich bin irgendwie mit dem Gefühl aufgewachsen, dass der Staat ein absolut notwendiger Dienstleister ist, der – letztlich in meinem Auftrag und meistens in meinem Interesse – Dinge für mich regelt und bereitstellt, die mir sonst sehr fehlen würde.

Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich habe schon bei dem Volkszählungs-Konflikt in den 1970-iger Jahren nicht wirklich verstanden, warum der Staat nicht wissen sollte, wo wie viele Personen leben. Tatsächlich habe ich damals – trotz grundsätzlich “progressiver” Einstellung – nicht protestiert, sondern war als Volkszähler unterwegs (habe von meinem Verdienst u.a. die stilbildende “Deep Purple in Rock” gekauft).

Von mir aus dürfte es auch einen zentralen Speicher der Corona-Daten geben. Aber wenn das nicht sein muss – ums so besser!
Ich möchte nur keine endlosen Diskussionen hören und sehen über die “Restrisiken” dieser App. Ich glaube, ich wäre kein sehr geduldiger Gesprächspartner.

Ein schlauer Mensch hat die Tage – sinngemäß – gesagt: Jeder Smartphone-Besitzer, der ein Google-, Facebook- oder Microsoft-Konto hat, sollte zwangsverpflichtet werden, auch die Corona-App zu installieren. Die Auswirkungen auf die persönliche Durchleuchtungs-Dichte wäre selbst mit den empfindlichsten Instrumenten nicht messbar.

Also bitte: Installiert die App und beschäftigt euch dann mit wesentlichen Dingen!

Nachtrag:
Ich habe gerade die – verständliche – Frage bekommen, ob die App denn unter den aktuellen Bedingungen überhaupt noch so sinnvoll sei.
Meine Antwort: Ich sehe in einem möglichst flächendeckenden Runterladen der App auch ein gesellschaftliches Zeichen, eine Art Volksabstimmung für Vernunft und Verantwortung.

Lachs

Komischer Titel für einen Blogbeitrag von mir?

Ich habe heute eine 90-minütige Dokumentation über den Lachs als Lebewesen und die Lachsindustrie als Wirtschaftsfaktor gesehen. Das Ergebnis: Viel Information, differenzierte Aufklärung und emotionales Berührtsein.

Ich wusste schon von der Problematik der industriellen Lachs-Produktion – durch eine ZEIT-Titelgeschichte aus dem letzten Jahr. Auch das Lesen hat damals etwas ausgelöst: Ich war seitdem häufiger (fast immer) bereit, für “Bio-Lachs” deutlich mehr zu bezahlen.

Dieser Film macht die Zusammenhänge deutlicher und vor allem eindrücklicher. Es geht – wie so oft – um Maßlosigkeit, Wachstumsfetischismus und Verantwortungslosigkeit.
Beleuchtet werden viele Aspekte: Die Romantik der ursprünglichen Lachsfischerei, die sprunghafte Entwicklung der “Zuchtfarmen” in Norwegen (und inzwischen auch in Chile), die Umweltschäden und die unsäglichen Lebensbedingungen, die geplante Steigerungsdynamik für die nächsten Jahre.

Am meisten hat mich das Interview mit einem norwegischen Geschäftsmann (Exporteur) erschüttert, der schildert, wie stolz er über jedes Flugzeug ist, das mit ca. 30 Tonnen Lachs zu den wohlhabenden Kunden in Asien oder zu den Golfstaaten startet. Oder die Geschichte eines Norwegers, der es geschafft hat, den norwegischen Lachs in Japan (und dann weltweit) als Sushi-Spezialität einzuführen. Einfach ein Irrsinn!
Und diese Menschen spüren offenbar noch nicht einmal eine kleine Ambivalenz hinsichtlich ihres – jedem ökologischen Gedanken widersprechenden – Tuns.
Der ganze Wahnsinn solle sich in den nächsten Jahren noch verfünffachen.

Guten Appetit!
Ich glaube, ich kann jetzt auch auf Bio-Lachs (weitgehend) verzichten.

(Die Sendung lief auf ARTE).

Der langsame Abschied von den USA

Mein Verhältnis zu Amerika war nie kritiklos oder gar verklärt. Seitdem ich (politisch) denken kann, habe ich im “American Way of Life” immer auch Widersprüche, Doppelmoral, Rassismus, Zynismus, Imperialismus und grenzenlos egoistischen Individualismus gesehen (um nur ein paar Beispiele zu nennen). Die Betonung lag auf “auch”.
Es gab dazu ein ein gewisses Gegengewicht. Es gab das Amerika, dass uns von Hitler befreit hat. Es gab das glitzernde Wolkenkratzer- und Hollywood-Amerika. Es gab die Strahlkraft der Kennedys und von Martin Luther King. Es gab Woodstock und die Ostküsten-Intellektuellen. Es gab die Vielfalt und Weite der Landschaften, das Grenzenlose. Und zuletzt gab es mit Obama einen Präsidenten, der zwar politisch kein Heiliger war, dem man aber ohne jeden Zweifel Anstand und Charakter zubilligen kann, den man sich im persönlichen Freundeskreis hätte vorstellen können.

Wenn wir uns die heutige USA nach (fast) vier Jahren Trump anschauen, gucken wir auf ein anderes Land, letztlich auf eine andere Welt. Man muss die Einzelheiten hier nicht alle aufzählen; wir alle haben sie hunderte Male gehört und gelesen.
Was wirklich überrascht – auch noch nach den ersten drei Jahren – ist die Steigerungsdynamik, mit der Prinzipien, Maßstäbe und Werte aufgegeben bzw. in ihr Gegenteil verkehrt werden.
Wie konnte man ernsthaft glauben – auch etliche deutsche Kommentatoren haben das anfangs getan – dass ein durch und durch egomanischer, narzisstischer und charakterloser Mensch schon zu einem irgendwie brauchbaren Staatsmann werden könnte? Wenn so ein Mensch zum mächtigsten Mann der Welt werden kann, dann stimmt etwas Grundsätzliches nicht mit diesem Land! Das konnte man nie schönreden; man hätte sich die Versuche auch gut sparen können!

Man könnte jetzt vielleicht irgendwie schadenfroh sein, nach dem Motto “Das haben die bekloppten Amis jetzt davon… (z.B. mit Corona).”
Aber es geht nicht nur um all die vernünftigen Menschen, die ja auch dort leben (ca. 50%). Es geht um unser aller Zukunft.
Ich weiß nicht, ob wir es uns leisten können, dass die USA auf der Weltbühne in zunehmendem Tempo an Bedeutung und Einfluss verlieren. Ich bin davon überzeugt, dass die falschen Leute (in Peking, Moskau, Teheran, Ankara, usw.) sich gerade voller Begeisterung die Hände reiben.
Auch wenn die Erzählung (das Narrativ) vom “Freien Westen”, der Demokratie und Menschenrechte in der Welt verteidigt, (leider) immer viel mit Propaganda und Heuchelei zu tun hatte: Wie sehen die Alternativen aus? Welche wünscht man sich wirklich? Wen möchte man als neue Supermacht an den Schaltstellen sehen?

Ich sehe nur einen gangbaren Weg: Wir müssen Europa stärken und auf das Nach-Trump-Amerika hoffen. Aber – selbst wenn uns das gelingt – ein Abschied von der USA, die uns doch irgendwie vertraut war und uns – trotz aller Schwächen – ein wenig Stabilität geschenkt hat, dieser Abschied hat schon längst begonnen.
Schaffen wir es , diesem Entfremdungsprozess etwas entgegenzusetzen? Können und wollen wir noch differenzieren zwischen Trump und seinem Land? Was ist das für ein Land, wo es normal ist, dass man nur als Multimillionär Chancen hat, als Präsident zu kandidieren? In dem ein Großteil der Medien in rechten und extrem-klerikalen Händen liegt? In dem Waffen geradezu angebetet werden? In dem das dumpfe und geistlose Macho-Gehabe mehrheitsfähig ist?

Als Vorbild für die Welt taugt dieses Amerika schon lange nicht mehr. Müssen wir es endgültig abschreiben? Dürfen wir das tun?

“Die Zukunft nach Corona” von Matthias HORX

Es ist scheinbar die Zeit der kleinen bzw. dünnen Bücher. Das Buch von HORX ist geradezu winzig – es wäre sonst für ein Buch tatsächlich zu dünn. Von dem ebenfalls kurz gefassten Buch von BLOM war kürzlich die Rede.
Ich will nicht unterstellen, dass es um den “schnellen Euro” geht; bei HORX Corona-Buch geht es auf jeden Fall aber um die Aktualität: Autor und Verlag wollen das Thema offenbar so früh wie möglich besetzen. Von einem großen Interesse und damit von guten Marktchancen ist auszugehen.

Horx ist Zukunftsforscher. Daher ist es logisch, dass er nicht die bestehende Corona-Krise untersucht sondern die Zeit danach. Dass der Autor dabei ein erstaunliches Tempo an den Tag legt, hat er mit einem ersten kurzen Text zum gleichen Thema schon Mitte März (!) bewiesen. Damit hat er in gewisser Weise schon die Spur gelegt zu dem jetzt erschienenen Buch.
Auch marketing-technisch nicht ungeschickt.

Der Grundgedanke, der diesem Buch einen roten Faden verleiht, ist schnell erklärt, aber deswegen nicht weniger anregend und pfiffig: HORX lädt uns alle ein, selbst nicht nur Zukunfts-Forscher sondern auch Zukunfts-Gestalter zu werden. Die Methode dazu verbegrifflicht er – im Gegensatz zu der üblichen “Pro-Gnose” – als “Re-Gnose”.
Wenn wir uns nämlich als Gedankenspiel in eine vorgestellte nahe Zukunft (nach der Krise) versetzen und von diesem Punkt zurück auf den Corona-Umbruch schauen, könnte deutlich werden, welches bedeutsame Veränderungspotential in der Krise und deren Bewältigung stecken könnte. Diese innere Zukunftsschau – bzw. das staunende Zurückschauen aus der Zukunft – könnte dann genau die Kräfte mobilisieren oder stärken, die dazu beitragen, dass positiv die antizipierten Bilder (z.B. neue Prioritäten, weniger Hektik, mehr Nachhaltigkeit) auch zur Realität werden.
Sein Ansatz ist von der Zuversicht getragen, dass die Erschütterung produktiven Wandel und kreative Erneuerung auslösen kann.

Aber gehen wir mit HORX Schritt für Schritt vor.
Der Autor ist sich – im Gegensatz zu anderen schlauen Menschen (wie z.B. PRECHT) – sicher, dass Corona einen wirklich fundamentalen Einschnitt darstellt, eine “Tiefenkrise”. Ein solches “disruptives” Ereignis wirkt nachhaltig in die Zukunft, weil es eine neue Weltsicht, ein neues Narrativ mit Symbolkraft erschafft.
HORX geht davon aus, dass eine reale Herausforderung (wie Corona) Kompetenzen und Ressourcen der Überlebensmaschine Mensch mobilisieren kann. So finden sich ansonsten eher resignierte Zeitgenossen plötzlich – nach der ersten lähmenden Angstreaktion – in einem aktiven Bewältigungsgeschehen wieder und erfahren Selbstwirksamkeit.
HORX beschreibt die denkbaren positiven Überraschungen, die mit dem Lockdown verbunden sein konnten: Es geht um Besinnung auf das Wesentliche, die Fähigkeit zum Verzicht und zur Solidarität. Wir kennen das aus diversen Talkrunden.
Auch hier geht es um eine Rückschau: Das so andere (gebremste) Corona-Leben enthüllt sozusagen die Banalitäten und Absurditäten des Alltags (mit seinem Hyperkonsum und Kreuzfahrtwahnsinn), die wir bis vor wenigen Wochen als normal und alternativlos betrachtet haben.
Anhand eines aus der Psychologie entlehnten Modells beschreibt HORX die Chance, zwischen dem Abrutschen in ein Trauma und der leugnenden Ignoranz einen dritten Weg zu gehen: einen Zukunfts- oder Möglichkeitsraum zu betreten, in dem ein Wandel aktiv gestaltet werden kann.

Fairer Weise legt der Autor in einem nächsten Kapitel die Nähe seines Modells zum Prinzip der “Positiven Psychologie” selbst offen: Es geht darum, die (positiv) imaginierte Zukunft als Kraft und Orientierung zu nutzen – statt passiv im Problem-Modus steckenzubleiben.
Auch das Prinzip der “Kognitiven Dissonanz” und das “Re-Framing” (Umdeuten) wird genutzt, um die Möglichkeiten einer produktiven Krisen-Nutzung zu untermauern. Dabei unterscheidet er (offene) Visionen von (eher blockierenden) Konstrukten.

Dann lädt HORX seine Leser doch noch ein in eine neugierig-tastende Annäherung an die Zukunft im Sinne einer Pro-Gnose; natürlich in einer “holistisch-systemischen” Betrachtungsweise:
– Aus einer Globalisierung wird eine GloKALisierung
– Effektivität wird wichtiger als Effizienz
– Es entwickelt sich eine “Donut-Ökonomie” (in der es einen Ausgleich zwischen öffentlichen und privaten Interessen gibt)
– Demokratien gewinnen an Wertschätzung und Bedeutung
– Die Arbeitswelt wird flexibler
– Die Digitalisierung wird sinnvoller eingebunden
– Kulturelle Werte und Umgangsformen passen sich an
– Bösartigkeit verliert an Attraktivität
– Der Umgang mit (körperlicher) Nähe verändert sich durch neue “Ekel-Schwellen”
– Die Kreuzfahrt-Industrie verschwindet für immer
– Das Gesundheitssystem und seine Arbeitskräfte werden aufgewertet
– Der Trend zur Nachhaltigkeit wird verstärkt

HORX beendet seine Ausführungen mit einer vergleichenden Betrachtung von “alter” und “neuer” Normalität und einem letzten Glaubensbekenntnis zur Macht der “selbstkonstruierten” Zukunft.

Und was halte ich nun von dem Ganzen?
Je länger ich darüber nachdenke (und das Schreiben dieser Rezension hat mich schon einige Stunden gekostet), desto skeptischer werde ich bzgl. des Gewinns, den man durch das Lesen dieses Büchleins mitnehmen kann.
Ich will meine Kritikpunkte mal so zusammenfassen:
– HORX überbewertet die Bedeutung und die Auswirkungen von Corona; ich glaube eher nicht an einen epochalen Einfluss dieses Ereignisses
– Er betrachtet (einseitig) die möglichen positiven Folgen (vielleicht weil er in einer Umgebung lebt/e, in der es eher um Verlangsamung und Besinnlichkeit ging, nicht um Stress und Existenzangst)
– Sein “Trick” mit dem Perspektivwechsel (aus der Zukunft zurückschauen) ist ja als Idee ganz nett; ob er ein tragendes Gerüst für so ein solches Buch darstellt, ist mir etwas zweifelhaft

HORX wollte schnell sein, schneller als andere. Das ist ihm ohne Zweifel gelungen.
Das Buch ist auch weder schlecht noch überflüssig; es ist ein Beitrag zur Diskussion.
Es ist nur – meiner bescheidenen Meinung nach – kein großer Wurf.

Corona-Paket

Es hätte schlimmer kommen können!
Man muss sich freuen, dass die Koalition sich letztlich nicht getraut hat, all die Menschen restlos zu enttäuschen, die auf ein Nachhaltigkeits-Zeichen gehofft haben.
Das Symbol war die Auto-Prämie (für Verbrenner); das Symbol wurde vermieden.
Und sonst?

Die Mehrwertsteuer-Kürzung ist echt teuer für den Staat, bringt aber dem Einzelnen nicht wirklich etwas Spürbares ein. Ich verstehe die Logik nicht wirklich. Und ich verstehe es ebenfalls nicht, warum nicht irgendeine Lenkung eingebaut wurde: Für bestimmte Ziele, Produkte oder Wirtschaftsbereiche. Warum die Gießkanne?
Vermutlich weil die Auto-Ministerpräsidenten jetzt sagen können: “So bekommt auch das Dinosaurier-Modell von Daimler, Porsche, BMW oder Audi noch seine Prämie” (bei 70.000 € immer hin noch 2100 €).

Über die restlichen Punkte kann man sicher lange diskutieren.
Eine Diskussion darüber, dass uns mehr Konsum und Wachstum langfristig nicht schützt sondern massiv gefährdet, steht sowieso noch an.
Was wohl passieren muss, um diese in gang zu setzen?

Echter Aufbruch sieht jedenfalls anders aus.

“Soziale Arbeit als Dienstleistung?” von Silvia

Dies ist ein sehr grundsätzliches Statement zur Ausgestaltung von Sozialer Arbeit (vor allem in der Jugendhilfe). Er basiert auf den jahrzehntelangen Erfahrungen von Silvia und wurde aktuell motiviert durch einen Artikel über die Jugendhilfe in der ZEIT (Nr. 23/2020).

Vor mehr als 45 Jahren wünschten sich meine Eltern, dass ich doch bitte eine Banklehre machen sollte. Sie sorgten sich um mein Seelenheil und hatten ebenfalls im Blick, dass ich mit meiner Berufswahl sehr geringe Chancen haben würde, Reichtum anzuhäufen. Aber mein Entschluss stand fest. Ich wollte etwas bewegen in dieser Welt und die Erwachsenen erschienen mir nicht sehr geeignet dafür, ihre Komfortzone zu verlassen und neue Wege zu beschreiten.

Mein Weg durch unterschiedlichste soziale Bereiche begann und ließ mich wachsen und reifen. Ich war eine „Überzeugungstäterin“ und bin es bis heute, nach über 45 Jahren sozialer Arbeit. Neue Konzepte kamen und gingen, wiederholten sich, widersprachen sich und der Kern meiner, unserer Arbeit blieb doch immer gleich. Es galt und gilt, Menschen jeglichen Alters neue Wege aufzuzeigen und ihnen Mut zu machen, diese auch zu beschreiten.

Ja, es veränderte sich vieles, auch zum Guten. Während ich zu Beginn in einer katholischen Einrichtung erleben musste, dass Kinder gedemütigt und geschlagen wurden, dass es Schlafräume mit 20 Betten gab, auf denen morgens Kuscheltiere drapiert wurden, um die Armseligkeit des alltäglichen Umgangs mit den Kindern zu verschleiern, wandelten sich in einem doch bemerkenswerten Tempo die äußeren Bedingungen in der Heimerziehung und auch in anderen sozialen Einrichtungen. Viele differenzierte Angebote wurden ins Leben gerufen. Sie sollten die Chancen der Kinder, der Jugendlichen und der Eltern verbessern. Mehr und mehr wandelte sich auch die Haltung gegenüber der Arbeit, gegenüber den Kindern und Jugendlichen.

Zwei Ereignisse ließen mich aufhorchen, sensibilisierten mich für das große Ganze und läuteten eine Zeit ein, in der ich einen schleichenden, aber gravierenden Wandel in der sozialen Arbeit erlebte.
Eines Abends saß ich mit Freunden am Tresen meiner Lieblingskneipe, da tickte mir jemand von hinten auf die Schulter und sagte leicht süffisant: “ Na, hallo Mutter Theresa!“
Kurz darauf erlebte ich, wie mir morgens bei meiner Ankunft im Büro ein Ordner zum Qualitätsmanagement überreicht wurde. Ich war in der freien Wirtschaft angekommen. Die Arbeit sollte überprüfbarer werden, strukturierter, effektiver. Das alles mit Blick auf den einzelnen Sozialarbeiter, Betreuer, Erzieher, im Heim, im Amt, in der offenen Jugendarbeit. Diese Entwicklung erlebte ich als fatal. Leidenschaft und Liebe zu dem Beruf, Gefühle, Empathie und Hilfsbereitschaft wurden Kriterien untergeordnet, die datenmäßig erfasst werden konnten. Ziele für die Betroffenen, die unsere Hilfe suchten, konnten teilweise mit Zahlencodes wiedergegeben werden. Wer sich dem nicht unterordnete, erschien schnell unprofessionell.

Mit der Zeit konnte ich feststellen, dass sich der Krankenstand erhöhte, Burnout und Kündigungen gehörten mehr und mehr zum Alltag in Ämtern und sozialen Einrichtungen. Jugendamtsleitungen kamen aus dem Verwaltungsbereich und Stechuhren wurden angeschafft, um die Kontrolle der Sozialarbeiter zu verbessern.
Ungesagt möchte ich nicht lassen, dass ich in all diesen Jahren immer wieder auf Ämter, Teams und Einzelne gestoßen bin, die sich diesem gesellschaftlichen Trend erfolgreich widersetzten. Erfolgreich heißt für mich, dass ihr eigenes Wohlbefinden in der Arbeit spürbar war, dass sie mit ihren Möglichkeiten der Kommunikation und der Selbstfürsorge den Hilfesuchenden eine Plattform bieten konnten, auf der diese langsam ihr Misstrauen ablegen und Hilfe annehmen konnten.

Die Geschichte der sozialen Arbeit hat eine lange Tradition und spiegelt in allen Zeiten die Haltung der Gesellschaft wieder. In der heutigen Zeit, die in unseren Breitengraden geprägt ist von den Göttern des Konsums und der schnellen Befriedigung aller sich ständig verändernden Bedürfnisse, werden die Handlungen der Menschen, die im sozialen Bereich arbeiten, auch immer deutlicher daran gemessen, wie effektiv sie dies eigentlich tun. Und der Maßstab dafür ist weit entfernt von den Bedürfnissen, die eigentlich das Miteinander von Hilfesuchenden und Helfern prägen sollte.

Gerade in den letzten Tagen steht mal wieder das Jugendamt in der öffentlichen Kritik. Anerkennend muss ich sagen, dass auch die Überbelastung der Mitarbeiter zum Thema wird, aber das ist meiner Meinung nach nicht der Kern des Problems. Der Kern ist, dass Kreativität, Phantasie, Intuition, menschliche Wärme, Empathie und der Mut, Grenzen benennen und durchsetzen zu dürfen und zu können, erstmal keine Voraussetzungen sind, die statistisch überprüfbar scheinen. Aber diese Fähigkeiten gehören dazu, wenn man erfolgreich sein will in unserem Beruf.

Ich hätte schon einige sehr klare Veränderungswünsche und Vorschläge. Sie betreffen zum Beispiel die Ausbildungssituation, die Einsatzorte, die Haltung gegenüber Menschen, die sich für Menschen engagieren, Gesetze, die die Eigenverantwortung der Menschen stärken und, und, und. Es ist ein weites Feld, so differenziert und vielschichtig, wie jeder Einzelne.

Warum ich nach all den Jahren noch immer aus Überzeugung im sozialen Bereich arbeite, werde ich manchmal gefragt. Es ist ganz einfach. Es ist eine Aufgabe, die meinen Fähigkeiten entspricht, in der ich ständig lernen kann, die mich mit Freude erfüllt und mich mit mir selber konfrontiert. Und wie bei jedem anderen Beruf kann ich sagen, dass Leidenschaft die Voraussetzung dafür ist, dass man etwas Gutes bewirken oder erschaffen kann. Fachlichkeit ist mit Sicherheit eine unentbehrliche Grundlage, aber sie muss eingebettet sein in eine Struktur, die die Lebendigkeit menschlicher Begegnungen zur Grundlage hat.

Und von dem „Mutter Theresa Quatsch“ lass ich mich bis heute nicht beirren.