“Psychologie für den Schulalltag” von Gustav KELLER

Bewertung: 3.5 von 5.

Vorweg sei angemerkt, dass diese Rezension aus Sicht eines Psychologen geschrieben wurde – und nicht aus der Zielgruppen-Perspektive. KELLER will mit seinem handlichen Büchlein nämlich die Lehrkräfte selbst psychologisch aufrüsten – ihnen also schulpsychologisches Wissen zukommen lassen (nach dem Motto: “der KELLER in der Tasche erspart den Anruf beim Schulpsychologischen Dienst”).
Was er in welcher Form vermittelt, ist aber sicher auch für schulpsychogische Fachkräfte ganz interessant: Hier wird ja auch ihr eigenes Zuständigkeits- und Kompetenzfeld beschrieben – und vor allem auch das breite Spektrum an Erwartungen an die Psychologie als Unterstützungsinstanz im Schulalltag.

Im ersten und größten Teil des Buches geht es – sortiert nach klassischen Problemfeldern – um unmittelbare Interventionen auf Belastungen bzw. Störquellen, die sich im Sozial- oder Lernverhalten von Schülern (Schülerinnen sind auch immer gemeint) zeigen. Auf jeweils ca. vier Seiten geht um 16 Probleme wie Ängste, Gewalt, Schuleschwänzen und Suizidalität.
KELLERs Methode ist die Strukturierung: In seinen zahlreichen Aufzählungen findet man so ziemlich alle relevanten Aspekte der jeweiligen Problematik wieder: Art und Häufigkeit des Auftretens, mögliche Ursachen, mögliche Maßnahmen (auf den Ebenen Schüler, Lehrer, Klasse, Eltern, System Schule).
Das hilft sehr dabei, alles im Blick zu haben und nichts zu übersehen. Sicher lassen sich in vielen Situationen auch erste Klärungs- und Handlungsschritte ableiten. Aber leider können solche (wunderbar systematischen) Listen von Ursachen und Lösungsansätzen auch eine gewisse Ratlosigkeit hinterlassen: “Wie kriege ich denn jetzt heraus, welche spezielle Kombination von Verursachungs-Faktoren in meinem Fall zusammenspielen? Und welche Interventionen sind denn unter meinen konkreten Bedingungen möglich, gewünscht, erfolgversprechend und erlaubt?”

Im 2. Kapitel wendet sich KELLER den pädagogischen Möglichkeiten zu, Lern- und Sozialverhalten grundsätzlich zu fördern (er nennt das elegant “Primäre Prävention”).
Hier werden (auf knapp 30 Seiten) praxisbezogene und sehr heterogene Anregungen gegeben: von der Lernkartei bis zum Streitschlichter-Programm.
Auch das geht letztlich über eine (sicherlich nützliche) Übersicht nicht hinaus.

Im folgende Kapitel steht die Methodik von Gesprächsführung und Beratung im Zentrum (der “pädagogisch-psychologische Werkzeugkasten”).
Spätestens hier gerät der Ansatz von KELLER (“Kompetenzerweiterung durch Überblick und Anregungen” – meine Formulierung) endgültig an seine Grenzen: Natürlich kann man 20 Tipps für gute Gesprächsführung auflisten – aber der Hinweis darauf, dass einige der Zielsetzungen vielleicht doch ein gewisses Training erfordern könnten, dürfte eigentlich an dieser Stelle nicht fehlen.

Nachdem auf wenigen Seiten die wichtigsten psychosozialen Dienste genannt werden (so oberflächlich, dass man es sich vielleicht auch hätte sparen können), geht es im Abschlusskapitel um die Selbstfürsorge (Psychohygiene) der Lehrkräfte selbst: man solle seine Grenzen im Auge behalten, Stress erkennen und (durch Entspannungsmethoden) abbauen, sich Unterstützung holen.

Nun kann man einem schmalen Büchlein nicht vorwerfen, die meisten Themen nur anzureißen. Deshalb solle es hier nur um ein paar inhaltliche Schwächen gehen:
– In einem so stark von gesellschaftlichen und juristischen Veränderungen bestimmten Feld wie Schule wäre eine regelmäßige Aktualisierung eines solchen breit angelegten Überblickswerkes notwendig und auch zu erwarten. In dem 2011 erschienenen Buch spiegeln sich weder die konkreten Verantwortlichkeiten beim Thema “Kindeswohlgefährdung” noch die Auswirkungen von Migration, Pandemie, Klimabedrohung und Social Media wieder.
– In weiten Bereichen vermittelt der Autor den Eindruck, dass es für jedes Problem die “passende” (und auch funktionierende) Antwort gäbe: “Man nehme die richtigen Zutaten und wende sie an – und alles wird gut!” Im richtigen Leben haben es Lehrkräfte aber eben meist nicht mit motivierten, gutwilligen, veränderungsfähigen und kompetenten Akteuren zu tun. Die meisten Eltern warten nicht dankbar darauf, dass man sie auf ihre “Erziehungsfehler” aufmerksam macht; die meisten Lehrerteams arbeiten an der Belastungsgrenze; viele Schulleitungen ersticken in bürokratischen Anforderungen; die meisten psychosozialen Institutionen (auch die nicht erwähnten psychotherapeutischen Praxen) verwalten eher eine chronische Mangelsituation (als dass sie sich voller Eifer auf die nächste Kontaktaufnahme freuen).
– Vernetztes Arbeiten (mit Jugendämtern und Beratungsdiensten) ist nicht immer ein Quell der Freude; hier warten auch Missverständnisse, Verantwortungsdiffusion und Konflikte um Zuständigkeiten.

Natürlich kann man von einer Einführung in die fachlichen Angebote der Schulpsychologie nicht erwarten, all diese Fragen zu thematisieren (oder gar zu klären).
Es könnte nur sein, dass KELLER insgesamt doch eine etwas zu geordnete und heile Schul-Welt vermittelt, die mit dem Erleben von Lehrkräften in akuter Bedrängnis nicht sehr gut übereinstimmt. Das im Auge zu haben, hätte dem Buch sicher sehr gut getan.
Auch fehlen ein paar Hinweise darauf, wo die Abgrenzungen zwischen eigenständigen Maßnahmen und der Einbeziehung anderer Dienste liegen sollten – nicht zuletzt auch aus juristischer Perspektive.

Vielleicht profitieren ja tatsächlich eher die PsychologInnen selbst (insbesondere Berufseinsteiger/innen) von diesem Buch: Sie finden dort jede Menge Checklisten für den Arbeitsalltag. Und sie müssen ganz sicher nicht befürchten, dass sie durch Lehrkräfte überflüssig werden, die dieses Buch schon selbst gelesen haben.

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