“Und die Vögel werden singen” von Aeham AHMAD

Bewertung: 4.5 von 5.

Da war doch mal was mit Syrien…
War das nicht auch sowas wie ein Krieg? Oder nur ein Bürgerkrieg? Haben da nicht auch Putins Truppen Schulen und Krankenhäuser zu Schutt und Asche bombardiert, in Aleppo?

Es wirkt tatsächlich etwas verstörend, nach einem Jahr Dauer-Information über Hintergründe und Folgen des Ukraine-Krieges mit solcher unmittelbaren Wucht in einen anderen Schauplatz von Machtmissbrauch, Menschenverachtung und unvorstellbarem Leid geworfen zu werden.
Genau das tut aber der Musiker Aeham AHMAD in diesem eindrücklichen autobiografischen Erlebnisbericht (der schon 2019 veröffentlicht wurde).

Seine Geschichte beginnt aber früher, in den späten 1980iger Jahren. Wir lernen den kleinen Aeham als Schuljungen im Großraum Damaskus kennen. Er stammt aus den ärmlichen Verhältnissen einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie und es bedarf eines enormen Einsatzes seiner Familie und sehr früh auch von ihm selbst, um sich – trotz der widrigen Umstände – zu einem vielversprechenden jungen Pianisten und Musiklehrer zu entwickeln. Zusammen mit seinem blinden Vater baut der Junge Mann – buchstäblich aus dem Nichts – in seinem Stadtteil einen florierendes Musikgeschäft auf.

Mit der Abriegelung und dem folgenden systematischen Aushungern des Stadtviertels “Yarmourk” beginnt eine mehrjährige Leidensgeschichte für Tausende von Familien, für die – eingeklemmt zwischen den verfeindeten bewaffneten Gruppierungen – bald der Alltag zu einem immerwährenden Überlebenskampf wird.
Inmitten dieser menschenfeindlichen Umgebung, in der Hunger, Gewalt und Tod nicht Ausnahme, sondern Regel sind, beginnt eine geradezu märchenhafte Geschichte: Zusammen mit ein paar Freunden (und später auch Kindern aus der Nachbarschaft) beginnt AHMAD, sein (auf Rollen montiertes) Klavier durch die Straßen zu schieben und vor Trümmerhäusern zu musizieren. Es sind Texte und Gedichte, in denen die Menschen ihre aktuelle Situation thematisieren, so dass die Musik ein emotionaler Befreiungsakt und eine Anklage zugleich ist.
Dass einige seiner “Auftritte” über YouTube den Weg zu einer internationalen Öffentlichkeit finden, wird sich langfristig positiv auswirken. Doch liegen zwischen den “Trümmerkonzerten” und dem sicheren Leben in Deutschland noch unfassbare Herausforderungen…

AHMAD ist offenbar gleich mit zwei Begabungen gesegnet: Er ist nicht nur als Musiker erfolgreich, sondern hat auch mit diesem Buch eine bemerkenswerte literarische Leistung vollbracht. Man kann sich der Unmittelbarkeit seines Schreibstils kaum entziehen, übliche Distanzierungsmechanismen werden schnell löchrig.
Aber letztlich sind es die Ereignisse und Umstände selbst, die unter die Haut gehen. Die Willkürlichkeit, Sinnlosigkeit und Perversion der Unterdrückung und Gewalt wird immer wieder durch die Todesschüsse von Heckenschützen und die Selbstherrlichkeit der verschiedenen Milizen an ihren Check-Points vor Augen geführt. Es erscheint fast wie ein Wunder, dass es unter diesen Bedingungen noch so etwas wie Nachbarschaft, Freundschaft und Solidarität überleben kann.

Der Krieg in der Ukraine hat uns wegen der räumlichen und kulturellen Nähe sehr schockiert. Mit seinem Buch richtet AHMAD einen Spot auf die Hintergründe der Flüchtlingswelle von 2015. Das ist auch aus heutiger Perspektive sehr aufschlussreich.
Es wird eindrücklich deutlich, wie hoffnungslos desolat die politische und moralische Situation in diesem Land war (und ist); in dem wüsten Durcheinander von ideologischen und mafiösen Gruppierungen geht die Vernunft und Humanität letztlich auf allen Seiten verloren.
Man kann die existentielle Erleichterung des Autors nachempfinden, was es nach Krieg und lebensgefährlicher Flucht bedeutet, plötzlich in einem “zivilisierten” Land leben zu dürfen, in dem die Regeln des Zusammenlebens geachtet und “sogar” von den staatlichen Institutionen (einschließlich der Polizei) geschützt werden. Wir vergessen allzu oft, welches unglaubliche Glück wir haben, in einem demokratischen Rechtsstaat mit gesicherten Grundrechten leben zu dürfen.

Wer beim Lesen dieses Buches nicht- spätestens im Schlussteil – zu Tränen gerührt ist, muss wohl über einen guten Schutzpanzer gegen Emotionen verfügen. Ich kann dieses zutiefst menschliche Buch nur sehr empfehlen.

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