“Was ich nie gesagt habe” von Susanne ABEL

Bewertung: 4 von 5.

Das erste Gretchen-Buch war ohne Zweifel ein Überraschungs-Erfolg. So etwas regt zur Fortsetzung an – die Autorin und sicher auch den Verlag. Natürlich taucht daher der Name “Gretchen” auch unübersehbar auf dem Cover dieses Buches auf.
Man könnte nun befürchten, dass da schnell etwas zusammengeschustert wurde, um den positiven Move noch zu nutzen. Diese Bewertung wäre aber völlig fehl am Platz.

Man hat es wieder mit einem Buch zu tun, das in einer eher konservativen und unaufgeregten Erzählweise eine Familiengeschichte mit bestimmten inhaltlichen und zeitgeschichtlichen Themen bzw. Ereignissen verbindet. Diesmal geht es um die Reproduktionsmedizin (und deren psychische Folgen) im Schatten der medizinischen Verbrechen der Nazi-Zeit.
ABEL verknüpft diese beiden Themen erneut mit Hilfe der Familiengeschichte des bekannten Journalisten Tom und seiner (inzwischen) dementen Mutter Gretchen. Sie wendet sich diesmal der väterlichen Seite zu, also der Perspektive des (in der aktuellen Zeitebene bereits verstorbenen) Ehemannes und seiner persönlichen und beruflichen Biografie (als Gynäkologe).

In dezenten, gut nachvollziehbaren Zeitsprüngen rollt ABEL die Zusammenhänge nach und nach auf, nicht ohne dabei auch immer wieder Spannungsbogen zu schaffen. Der Ablauf des Plots erscheint gut gelungen; man hat nicht den Eindruck einer übertrieben künstlichen Konstruktion.
Überhaupt kann man sich dem Erzählfluss problemlos überlassen und fühlt sich durch die Kombination von Einzelschicksalen und Sachinhalten gut und intelligent unterhalten.
Voraussetzung für dieses positive Leseerlebnis ist allerdings die Bereitschaft, sich auch emotional anrühren zu lassen: ABEL scheut sich nicht, mit starken Worten auch starke Gefühle anzusprechen – wer in solchen Momenten gleich eine interne “Kitsch-Warnung” spürt, ist sicherlich mit diesem Roman-Genre nicht gut bedient.

Nicht unterschätzt werden sollte die Gründlichkeit und der Tiefgang, mit dem die Autorin sich der Thematik der Menschen zuwendet, die erst später in ihrem Leben damit konfrontiert werden, dass sie mithilfe einer (mehr oder weniger anonymen) Samenspende erzeugt wurden. Ebenso wie beim ersten Gretchen-Band (bei dem es um die im oder kurz nach dem Krieg gezeugten Kinder schwarzer GIs ging), hat man bei auch diesmal nicht den Eindruck, dass die Thematik nur als kleine Anreicherung einer Familien-Saga gedient hat.

Gretchen-II ist also ein durchaus niveauvoller Roman, der moderne Fragen mit historischen Aspekten verbindet und dabei den “Herz/Schmerz”-Bereich nicht ausspart.
Der Anspruch einer literarischen Bedeutung wird ganz sicher nicht erhoben.
Bleibt die Frage, ob man mit diesem Buch in die Gretchen-Welt einsteigen sollte. Es ist sicher nicht unmöglich, das aktuelle Buch als eigenständige Einheit zu betrachten und zu nutzen. Trotzdem wäre es irgendwie schade, sich den Kontext des Vorläufer-Werkes nicht zu gönnen. Die beiden Gretchen passen einfach so gut zusammen – ohne dass es zu nervigen Wiederholungen kommt.
Ob da noch ein dritter Band lauert…?

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