“Zur See” von Dörte HANSEN

Bewertung: 5 von 5.

Manchmal entscheidet sich auf den ersten Seiten eines Romans, ob man sich durch die Sprache oder Erzählweise angesprochen fühlt. In diesem Fall wurde ich geradezu angesprungen durch ein ganzes Feuerwerk ungewohnter Formulierungen, die mir sofort signalisierten, dass ich da gerade ein Ausnahme-Buch in der Hand hielt.

Thematisch werden wir von HANSEN eingeladen, uns auf das Leben auf einer Nordseeinsel einzulassen. Der Blick ist scharf auf den Übergang zwischen traditioneller Seefahrt bzw. Fischerei und modernem Tourismus zentriert. Sichtbar und erzählbar wird dieser Epochen- und Kulturwandel am Beispiel einer alteingesessenen Familie, deren Mitglieder bestimmte Rollenmuster in sehr pointierter Ausprägung darstellen.
Um dieses Zentrum herum agieren eine Handvoll weiterer Protagonisten, die ebenfalls – auf jeweils spezifische Weise – in die Zeitenwende verwickelt sind.

Die Figuren sind letztlich alles echte “Originale”, was der Autorin natürlich entsprechend viel erzählerischen Stoff liefert. Die Sonderbarkeiten dieser – durch das raue Klima und das naturnahe Leben geprägte – Insulaner macht es HANSEN recht leicht, ihre offensichtliche Leidenschaft für sehr individuelle Sprach-Schöpfungen hemmungslos auszuleben. Es gelingt ihr dabei, die Charaktere der Figuren und die Lust an ausgefallenen Sprachbildern zu einer geradezu perfekten Einheit zu verschmelzen.
Letztlich gewinnt man den Eindruck, dass man die Eigenarten dieses Menschenschlages entweder so oder gar nicht einfangen könnte.

Geschickt nutzt HANSEN den Kontrast, der sich zwischen den wettergegerbten Naturmenschen und den Touris bzw. wohlhabenden Neuansiedlern ergibt. Die Beobachtungen, wie sich das Insel-Leben im Takt mit den Saison-Wechseln verändert (bis in die Kinderzimmer hinein), gehören zu den amüsantesten Stellen.

Eine ganze Reihe von menschlichen bzw. beziehungsmäßigen Grundkonflikten finden in dem Roman ihren Platz: Die Suche nach Bindung und Liebe durchzieht letztlich ja alle Bereiche der Gesellschaft. Es ist sicher Geschmackssache, ob die zur Illustration benutzten Figuren so extrem konturiert werden müssen, wie dies HANSEN in ihrer Milieustudie mit großer Hingabe macht.
Was sie erreicht ist mit Sicherheit ein großes Lesevergnügen – auf der Basis eines Eintauchens in eine eher unbekannte Welt (die sicher nicht immer so skurril war, wie in dieser speziellen Ausgestaltung).

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