“Von der Pflicht” von Richard David PRECHT

Bewertung: 4.5 von 5.

Es gibt mit Sicherheit reißerische Titel für ein Buch über aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen; es ist geradezu provozierend “altmodisch” gewählt. Gerade deshalb bietet er eine gute Entscheidungsgrundlage hinsichtlich der Beschäftigung mit diesem Buch.
Wie seit vielen Jahren gewohnt darf sich der Medien-Star unter deutschen Philosophen auch bei diesem Statement der Aufmerksamkeit und des Verkaufserfolges sicher sein. Er braucht daher weder hinsichtlich der Vermarktung noch in Bezug auf den Inhalt große Kompromisse einzugehen. Genau das strahlt diese Publikation auch aus.

Die Covid-Pandemie ist der zentrale Ausgangspunkt für die Betrachtungen über das Verhältnis von Rechten und Pflichten zwischen den beiden “Vertragspartnern” Bürger und Staat. PRECHT analysiert mit scharfem Blick die Gemengelage zwischen staatlicher Vorsorge und Diktatur-Panik. Vieles davon wurde im Laufe des letzten Jahres schon geschrieben und gesagt, doch der Autor fokussiert auf diesen einen Aspekt: Was darf oder muss der Staat tun und was kann oder muss der Einzelne erwarten, erdulden bzw. beitragen.

Leicht fällt PRECHT dann der Übergang von dem konkreten Pandemie-Geschehen zu einer umfassenden Analyse der zeitgeschichtlichen Trends, die – so einer seiner Grundthesen – aus dem autoritätshörigen Untertan eine Art “Kunden” gemacht hat, der den Staat als einen Dienstleister betrachtet, dem gegenüber er keinerlei Verpflichtungen spürt bzw. akzeptiert.

PRECHT wäre nicht PRECHT, wenn seine Durchdringung der Thematik nicht eine Zusammenschau von historischen, wirtschaftlichen, juristischen und philosophischen Aspekten böte. Dabei bleibt er durchaus nicht auf der gefälligen und leicht verdaulichen Oberfläche; er mutet seinen Leser/innen vielmehr einigen Tiefgang zu.
Immer wieder lauern in dem Text pointierte Formulierungen, denen Gewicht und Erkenntnisinhalt man sich erst durch kurzes Innehalten bewusst machen muss; bei einem kurzen Querlesen (oder -hören) würde solche Köstlichkeiten verloren gehen.

Die meisten Käufer/innen dieses Buches werden soweit vorinformiert sein, dass Sie schon vorher wissen, was PRECHT am Ende vorschlägt. Seine Idee, durch zwei “Pflichtjahre” (nach Ausbildung bzw. beim Renteneintritt) das Verhältnis von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten wieder auf eine gedeihlichere Grundlage zu stellen, trägt er nicht zum ersten Mal vor.
Aber er legt nach: Nicht nur durch die vorangehende Analyse der Ausgangslage (s.o.), sondern auch durch eine konkretere Ausgestaltung dieses “Dienstes am Gemeinwohl” und eine ausführliche Auseinandersetzung mit möglichen Kritikpunkten bzw. Einwänden.
Er argumentiert dabei weder besserwisserisch noch ideologisch – und lädt die Gegner seines Modells ausdrücklich ein, sich Gedanken über eine “bessere” Alternative zu machen.

Wer sollte dieses Buch lesen (hören) und wem reicht vielleicht die Quintessenz aus Rezensionen, YouTube-Beiträgen und Talkshow-Auftritten?
Ich schlage zwei Kriterien vor: Wie groß ist das Interesse an einer vertiefenden und eingebetteten Betrachtung gesellschaftlicher Entwicklungen? Welches Vergnügen empfindet man dabei, knackige und originelle Formulierungen serviert zu bekommen – selbst wenn die Inhalte nicht völlig neu sein sollten?

Das Hörbuch wird vom Autor selbst vorgelesen. Das ist angenehm und hat keinen Nachteil gegenüber einer Produktion mit einem professionellen Sprecher. Da PRECHT seinen Text – vielleicht weil er ihn so gut kennt – recht schnell liest, empfehle ich eine leichte Reduzierung der Wiedergabegeschwindigkeit (auf ca. 80-95%). Das hat dann auch den Vorteil, dass man nicht schon nach 03:06 Stunden durch ist…

Warum ich jetzt ein GRÜNER bin

Ich bin zum ersten mal in meinem Leben Mitglied einer Partei.
Das bedarf einer kurzen Begründung. Warum jetzt noch, in dieser eher fortgeschrittenen Lebensphase?
Politisch interessiert und (ganz gut) informiert war ich mein gesamtes erwachsenes Leben. Mit einem nächsten Schritt, des Bekenntnisses, der Zugehörigkeit oder des aktiven Engagements habe ich mich immer schwer getan. Es gab ja immer irgendetwas, was dagegen sprach. Neben den Allroundern (Zeit, Geld, Bequemlichkeit) spielte sicher auch die Frage eine Rolle, in welchem Umfang ich mich denn von einer bestimmten Gruppierung tatsächlich vertreten fühlte. Gerade in diesem Punkt bin ich mir im Moment sehr sicher.
Doch der Reihe nach:

  1. Klima und Nachhaltigkeit
    Der Schutz von Umwelt und Klima ist für mich seit einiger Zeit das zentrale Thema.
    Die Nachdrücklichkeit, wie die GRÜNEN diese Zielsetzungen verfolgen hebt sie von allen anderen Parteien deutlich ab. Die Kritik an einem “zu wenig radikalen” Kurs halte ich für unberechtigt, solange die Forderungen deutlich über das hinausgehen, was in irgendwelchen Koalitionen umsetzbar wäre.
  2. Gesellschaftspolitische Ziele
    Mir sind die Vorstellungen von einer solidarischen und gemeinwohlorientierten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sehr sympathisch. Auch mit dem neuen Wahlprogramm verbinde ich das Gefühl, dass ich in einer solchen Gesellschaft gerne leben würde.
  3. Politikstil / Parteiführung
    Ich finde es sehr angenehm und vertrauensbildend, dass das Führungsduo Baerbock/Habeck eine politische und kommunikative Kultur vorlebt, die im Einklang mit den gesellschaftlichen Zielen liegt. Es ist für mich ein Gegenprogramm zum ideologischen Eifer oder zur Ellbogenkonkurrenz.
  4. Außenpolitik/Europa
    Die GRÜNEN verfolgen aus meiner Sicht alle für mich wichtigen Ziele. Europäische Themen haben für sie eine hohe Wertigkeit; sie vertreten einen verantwortungsvollen Umgang mit globalen Fragestellungen (einschließlich Abrüstung und ziviler Sicherheitspolitik).

Insgesamt ist es wohl der “werteorientierte Pragmatismus” der aktuellen Parteilinie, der mich zunehmend überzeugt hat. Ich sehe das echte Bemühen, einen Aufbruch zu wagen, der einen großen Teil von wohlmeinenden und aufgeklärten Menschen mitnehmen kann und will.

Und die Kröten?
Erstaunlich wenige! Ein paar Gender- und Antidiskriminierungsinitiativen gehen mir persönlich zu weit. Manchmal sehe ich die Gefahr, dass vor lauter Minderheitenschutz die brave und leise Mehrheitsgesellschaft ein wenig aus dem Blick gerät.
Aber auch das sehe ich bei der aktuellen Parteiführung in guten Händen.

Warum sollte ich also einer Partei, mit der ich so viel Übereinstimmung empfinde, nicht beitreten?

Mein Ziel für die Bundestagswahl: Lasst uns aus “Schwarz/Grün” “Grün/Schwarz” machen (oder eine andere von den GRÜNEN geführte Koalition)!

“CO2 – Welt ohne Morgen” von Tom ROTH

Bewertung: 3 von 5.

Man wird reichlich durchgeschüttelt auf diesem kurvenreichen Parcours durch die Hintergründe eines spektakulären Falls von Öko-Terrorismus. In welchem Zustand man sich als Leser/in am Ende dieses Trips befindet, hängt wohl stark von den eigenen Ansprüchen und Erwartungen ab.

Eine recht verwickelte Story mit unerwarteten Wendungen – da kann man sich schnell des Spoilens schuldig machen. Deshalb nur ein paar Worte zum Inhalt: Eine Gruppe jugendlicher Klima-Aktivisten wird bei ihrem Aufenthalt in einem australischen Camp gekidnappt. Von den Entführern geht die eindeutige Botschaft an die Welt: Sollte es nicht zu den geforderten radikalen Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe kommen, werden im Wochenabstand alle 13 Kids vor laufenden Webcams getötet.
Natürlich ist die Welt in Aufruhr, insbesondere natürlich die Medien, die betroffenen Regierungen und die Sicherheitskräfte.

Im Fokus des Romans steht das Schicksal der 15-jährigen Hannah und ihrer Angehörigen in Deutschland; aber auch die deutsche Kanzlerin bekommt ihren Auftritt. Insbesondere Hannahs Onkel, ein bekannter Kriegsreporter, wird zum zentralen Protagonisten bei der Aufklärung des Geschehens.
Schnell stellt sich heraus: Das Ganze ist doch ziemlich verworren und komplex. Spuren führen u.a. nach Schweden und nach Uganda.

Dass der Autor versucht, den (oder die) Spannungsbogen bis zum Ende reichen zu lassen, ist bei einem Thriller sicherlich keine Überraschung; ebenso wenig die Erkenntnis, dass manchmal der Schein trügt.
Aber macht das schon ein gutes Buch aus? Und vor allem einen gelungenen Öko-Thriller?

Sicher darf man einem Thriller erstmal nicht vorwerfen, dass seine Story ziemlich konstruiert wirkt. Schließlich geht es um Unterhaltung. Für mein Empfinden leidet aber die Qualität eines Romans doch irgendwann, wenn es auf der Plausibilitätsskala mit Karacho abwärts geht. Für meinen Geschmack gibt es einfach ein paar “zufällige” Querverbindungen und Zusammentreffen zu viel, um sie noch als dichterische Freiheit gelten zu lassen: Da ist dann die Begleiterin passender Weise auch eine Pilotin und der Böse hat ein vollgetanktes Flugzeug zur gefälligen Benutzung bereitgestellt. Und wer da mit wem alles zufällig bekannt und verwandt ist, unglaublich…
Auch mit gängigen Klischees und Emotions-Schablonen hält sich ROTH nicht gerade vornehm zurück; da beschleicht mich zwischendurch das Gefühl, eine Mustersammlung für “anrührende” Situationen zu lesen.

Kommen wir zum Öko-Aspekt. Es werden Motive junger Menschen dargestellt, die Dramatik der Ausgangslage beschrieben und die Hintergründe der Forderungen an die Weltgemeinschaft mit Fakten hinterlegt. So weit, so öko.
Trotzdem gelingt es – meiner Meinung nach – dem Autor nicht, der Klima- und Umweltthema den ersten Platz einzuräumen. Dazu ist er zu verliebt in seine verschachtelte Story.
Natürlich darf das so sein; man darf auch einen Thriller schreiben, der vielleicht eher “zufällig” vor dem Hintergrund des Klimawandels spielt. Mich überzeugt eher der umgekehrte Ansatz – dass man seine ökologische Botschaft in die Form eines Romans oder Thrillers packt. Beispiele dafür bieten “Der neunte Arm des Octopus“, “Klima” oder “Das Meer“.

Insgesamt ist hat mich dieses Buch nicht wirklich erreicht. Für mich hatte die Achterbahnfahrt ein paar Kurven zu viel (aber ich steh auch nicht so auf die Fliehkraft-Extreme).

“Die Zukunft ist smart. Du auch?” von Holger VOLLAND

Bewertung: 5 von 5.

Der Titel des Buches lässt viele Interpretationen zu. So könnte man durchaus vermuten, dass hier ein unkritischer Lobgesang auf die Segnungen der digitalen Welt angestimmt wird.
Das wäre eine grobe Fehleinschätzung!

Der Internetpionier VOLLAND schafft mit seinem Buch eine – meiner Einschätzung nach – geradezu perfekte Synthese zwischen einer pragmatischen Offenheit gegenüber der digitalen Welt und einer aufklärenden Bewusstmachung ihrer Risiken. Toll!

Der Autor nimmt sich die wesentlichen Lebensbereiche vor: das eigene Zuhause, Mobilität, Bildung, Gesundheit, Wirtschaft. Arbeitsleben, Recht und Politik. Die Breite und Tiefe der Information ist auf die Bedürfnisse des interessierten Normalbürgers ausgerichtet. Dieses Buch richtet sich weder an Technik-Verweigerer noch an Nerds; es hat das Ziel, aufgeklärte Bürger, Konsumenten und User zu hinterlassen.
Es schließt damit eine riesige Lücke – denn für die meisten Menschen über ca. 50 gab es im Rahmen der eigenen (Aus-)Bildung noch keine systematische Vorbereitung auf die wichtigste gesellschaftliche Umwälzung seit Erfindung der Dampfmaschine. Und selbst technikaffine Normales haben Mühe, mit den Innovationen der letzten 20 Jahre und ihren Konsequenzen auch nur halbwegs Schritt zu halten.

VOLLAND schafft es mit diesem Buch nichts weniger als die Grundlage für eine Art digitale Allgemeinbildung. Was hier drin steht, sollte eigentlich jede/r wissen.
Das klingt übertrieben, ist es aber nicht. Weil nahezu jede/r buchstäblich täglich mit den angesprochenen Fragen konfrontiert ist, z.B.:
– Was bedeutet es, in einer total vernetzten Welt zu leben?
– Habe ich die Chance, Kontrolle über meine Daten und damit über meine Privatheit zu behalten (bzw. zurückzuerlangen)?
– Was sind die wichtigsten Gefahren im eigenen täglichen Umfeld, was müsste eigentlich jede/r beachten?
– Warum werden noch nicht alle Chancen der Digitalisierung genutzt (z.B. in der Medizin)?
– Sind wir dauerhaft den Monopolisten des Silicon-Valleys ausgeliefert?
– Wie wird sich die Arbeitswelt bzw. die Wirtschaft entwickeln – und wie kann sich die Gesellschaft darauf vorbereiten?
– Brauchen wir endlich ein Digital-Ministerium?
– Droht uns allen die Big-Data-Überwachung nach dem Chinesischen Modell?

Der Autor schreibt locker und gut lesbar, verzichtet aber – glücklicherweise – auf eine übertriebene Anhäufung von persönlichen Anekdoten. Es ist schlichtweg eine angenehme Mischung, bei der man sich wie ein erwachsener Mensch angesprochen fühlt. Der Schwerpunkt ist Information, nicht Unterhaltung. Aber gleichzeitig handelt es nicht um ein Fachbuch, sondern um gut gemachten Sach-Journalismus.

Gibt es überhaupt eine Schwachstelle in diesem durchweg gelungen Buch?
Auf zwei Ebenen wird man wirklich ziemlich perfekt bedient: Man erhält alltagsbezogene Hinweise auf die Schwachstellen, Risiken und Einflussmöglichkeiten für sein ganz normales digitalen Leben. Und es gibt eine Menge Aufklärung hinsichtlich technischer, wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge.
Natürlich gäbe es noch eine dritte Ebene: nämlich die konkrete (technische) Anleitung für die Umsetzung der vorgeschlagenen Schutz- und Sicherungsschritte. Das würde dann bedeuten, das man ins Eingemachte gehen müsste (z.B. in die Einstellungen von Smartphone-Menüs oder Browser). Fairerweise muss man wohl zugestehen, dass dies den Rahmen eines solchen Buches sehr schnell sprengen würde – angesichts der Differenziertheit der Varianten und Versionen.

So bleibt eine wirklich guter Gesamteindruck: Hier wird ein lebenspraktisches Standardwerk vorgelegt. Digitales Grundwissen sollte inzwischen einen ähnlichen Stellenwert haben wie Basiswissen über gesunde Ernährung oder soziale Kompetenzen.
Das Buch von VOLLAND macht einen großen Schritt in diese Richtung!

“Klima” von David KLASS

Bewertung: 4 von 5.

Umwelt- und Klimathriller werden sich wohl zu einem eigenen Genre entwickeln: Das Thema ist brandaktuell, wird uns lange Zeit erhalten bleiben und birgt jede Menge Stoff für Konflikte auf allen Ebenen – technologisch, politisch, emotional, moralisch, psychologisch.
Und die üblichen Zutaten – Spannung, Liebe, Sex, Loyalitäts- bzw. Gewissenskonflikte und Action – lassen sich immer einbauen.
KLASS kennt offensichtlich die Regeln des Thriller-Handwerks.

Der Held seiner Geschichte ist ein Öko-Terrorist mit keinem geringeren moralischen Anspruch, als die Welt vor dem ökologischen Untergang zu retten. Er ist der legendäre “Green Man”, der mit seinen Anschlägen die Welt aufrüttelt, obwohl dabei immer wieder Menschen sterben.
Die Story nimmt uns mit in die Endphase des Kampfes zwischen dem genialen Umwelt-Aktivisten und dem FBI, für den Green Man zum Staatsfeind Nr. 1 geworden ist.

Wir lernen auf der einen Seite nach und nach die persönlichen Hintergründe des Helden kennen, während die anderen Seite durch einen jungen Spezialisten personalisiert wird, der plötzlich in die vorderste Front des Sicherheitsapparates gerät.
Ab da heißt es: “Genie gegen Genie.”

KLASS bietet eine anregende Mischung aus Öko-Aufklärung, technischer Raffinesse, moralischen Dilemmata, Generationskonflikten und Beziehungsgeschichten.
Es gibt ausreichend Spannung und erfreulich wenig Gewaltschilderung.
Das ein oder andere Klischee (nach dem Motto: “das musste ja so kommen”) wird ebenfalls nicht ausgespart.

Es gibt ein ernst zu nehmendes Grundthema: Wie weit darf der Widerstand gegen die Umweltzerstörung gehen? Welche Opfer (Kollateralschäden) dürfen in Kauf genommen werden, um das ganz große Desaster doch noch abwenden zu können? Wie spektakulär müssen die Methoden sein, damit die Welt wach wird und handelt? Ist Öko-Terrorismus irgendwann nicht nur nachvollziehbar, sondern eine moralische Pflicht?
Aus meiner Sicht wird nicht restlos nachvollziehbar, dass es wirklich diese gravierenden Anschläge auf die Symbole der Umweltzerstörung sein könnten, die den entscheidenden “wake-up-call” schaffen.

Solange es die Klima-Thriller schaffen, spannungssuchende Leser/innen auf die Thematik aufmerksam zu machen, finde ich das Ganze sinnvoll und richtig.
Dieses Buch kann ich jedenfalls empfehlen, wenn man damit leben kann, dass einiges doch ein wenig vorhersehbar und in bekannten Schemata verläuft.
Es ist solide gemacht, nicht experimentell, sondern nach den Regeln der Thriller-Kunst.

“Komisch, alles chemisch” von Mai Thi NGUYEN-KIM”

Bewertung: 4 von 5.

Dieses Buch scheint selbst eine Art Experiment zu sein – kein chemisches, aber ein pädagogisch-psychologisches. Die Ausgangsfrage: Wie weit kann man die Schwelle senken, die “normale” (eher junge) Menschen davon abhält, sich freiwillig mit der Wissenschaft Chemie zu befassen?
Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalisten NGUYEN-KIM stellt mit ihrem Buch einen ernsthaften Rekordversuch auf die Beine.

Die Autorin verpackt ihre “Einführung in die Chemie” in die Darstellung ihres Alltagslebens. Man erfährt eine Menge über ihren Tagesablauf, ihre Vorlieben und ihr soziales Umfeld. All das braucht man nicht, wenn man ausschließlich an der Sache interessiert ist.
Doch es geht hier um eine Mission: Wissenschaft soll trendy werden, konkret erfahrbar im täglichen Umfeld, positiv besetzt, mit einem Wort: cool!

Abgeholt werden die Lesenden dort, wo ihnen – oft nicht bewusst – Chemie jeden Tag begegnet: bei ihren emotionalen Reaktionen, beim Handy-Akku, beim Kochen bzw. Backen, bei Kaffee und Alkohol. Die Message: “Alles ist Chemie!”
Zwischendurch verliert NGUYEN-KIM gerne mal ihre Spezialgebiert ganz aus den Augen und wirbt engagiert für das wissenschaftliche Denken und Forschen ganz allgemein.

Locker und wie selbstverständlich wechselt die Autorin zwischen den Banalitäten und Tücken der alltäglichen privaten Routinen und einer – dann doch plötzlich recht handfesten – Faktenvermittlung. Plötzlich tauchen typisch-chemische Fachbegriffe und Struktur-Zeichnungen auf; einige Grundprinzipien des Periodensystems oder z.B. des “Bindungsverhaltens” von bestimmten Molekülen (und ihren Außenelektronen) werden erläutert. Wenn man davon profitieren will, muss man den Lese-Stil eindeutig anpassen (also abbremsen).
Aber die nächste Erholungspause ist nicht weit – und wenn es das Lästern über einen neuen Nerd-Kollegen der Freundin ist.

Man muss also wissen, was man will. Das Buch richtet sich vom Stil der Ansprache ganz eindeutig an ein junges Publikum, dem die angebotenen Motivationshilfen den Weg zum Schnuppern an der Chemie eröffnen könnten. Erwartet werden kann am Ende eher eine Einstellungsveränderung als ein echter “Grundkurs”; aber auch das wäre ja ein Erfolg.
Für etwas ältere oder gezielt an Wissensvermittlung interessierte Menschen wäre das Buch wohl eher ein Fehlkauf. Da wäre die Schwelle dann doch ein bisschen zu niedrig…

Das aktuelle Nachfolge-Buch (“Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“) geht vom Anspruch und von der Ansprache deutlich über das hier besprochene Buch hinaus.

“Die Mitternachtsbibliothek” von Matt HAIG

Bewertung: 3.5 von 5.

Matt HAIG ist ein wahrer Menschenfreund. Er schenkt uns Geschichten, die ans Herz gehen, die Mut zum Leben machen. Aber er kennt und beschreibt auch die dunklen Seiten und macht literarische Angebote, die einen Weg aus ihnen heraus zeigen könnten.
Genau dies ist das Ziel des hier besprochenen Buches.

Die Schattenseite der Protagonistin, einer jungen Frau (Nora) mit einer ziemlichen Pechsträhne, ist sehr konkret: Sie sieht keinen rechten Sinn mehr darin, weiterzuleben. Ja, im Grunde hat sie schon abgeschlossen und sich auf den Weg zu einer Art “Bilanz-Selbstmord” zu machen.
Doch – und das ist die Fantasy-Rahmenhandlung – sie gerät in einen Transitbereich zwischen Leben und Tod. Die Mitternachtsbibliothek ist ein Ort, in der die Zeit angehalten wird und so ein Raum entsteht, in beliebig viele Alternativ-Leben zu schlüpfen. Betreut wird dieses Unterfangen durch eine weise Bibliothekarin, die dafür sorgt, dass alle gewünschten Varianten zur Verfügung stehen – denn sie kennt sich in den unendlichen Regalen mit unterschiedlichen Lebensbüchern aus. Natürlich stellt sie nicht nur technische Hilfe, sondern auch ihren Rat zur Verfügung.
Der Roman begleitet die junge Frau durch all die Leben, die sich ihr als attraktiver und lohnender als ihr “verpfuschtes” eigenes vorkommen.

HAIG lehnt sein Gedankenspiel an ein Modell der theoretischen Physik an: Eine Reihe von klugen Köpfen hält es für wahrscheinlich, dass in einer unendlichen Zahl von Paralleluniversen jede denkbare Variante von Ereignissen und Verläufen tatsächlich stattfindet. Für die meisten Menschen ist das eine extrem unplausible Vorstellung – aber das spielt für die Metapher von der Mitternachtsbibliothek natürlich keine Rolle.

Wir begleiten also alternative Lebensgeschichten, die ganz unterschiedlich eng an das bisherige Leben von Nora angelehnt sind. Auch ist die Verweildauer in dem jeweiligen Setting verschieden lang (von Minuten bis zu gefühlten Jahren).
Dabei spielt eine Besonderheit der Konstruktion eine Rolle: Nora gerät jeweils ganz plötzlich in einen Kontext, deren Spielregeln sie gar nicht beherrscht – weil sie Personen, Orte und Vorgeschichte meist gar nicht kennt. Das schafft zwar spannende und originelle Situationen – passt aber (finde ich) nicht so gut zu dem Konzept, dass ja eigentlich die “Qualität” der unterschiedlichen Leben verglichen werden sollen (und nicht das Beherrschen von unbekannten Konstellationen).
Egal – das ist nur ein Nebenaspekt.

Es geht HAIG natürlich um die Botschaft, um die “Moral von der Geschichte”. Einige werden an dieser Stelle schon recht konkret ahnen, worauf es hinausläuft. Ich spare mir das Spoilen. Nur soweit: Das Buch soll – natürlich – Mut zum Leben machen!

HAIG spinnt ohne Zweifel eine kreative Idee aus und bastelt daraus eine unterhaltsame Erzählung. Er setzt Humor und auch ein wenig Spannung ein, spielt gekonnt mit Emotionen. Nora, die alles andere als perfekt ist, bietet sich als Identifikations-Figur an, man kann mitfühlen und mitleiden. Und natürlich regt die Story dazu an, mal selbst die eigenen ungelebten Aspekte und Optionen durchzuspielen.
Das ist alles nett und anregend.

Die Frage ist, bis zu welchem Punkt ein gut gemeintes Buch voller Lebensweisheit und pädagogisch-therapeutischer Wegweisung noch als Bereicherung erlebt wird – und ab welcher Stelle es ein bisschen zu dick aufgetragen, zu vorhersehbar-optimistisch erlebt wird. Mir war der pädagogische Holzhammer am Ende deutlich zu stark ausgeprägt; die Botschaft wurde wirklich geradezu eingehämmert.
Ich verstehe die Motivation von HAIG, denn er hat dieses Buch sicher vorrangig für Menschen geschrieben, die sich die Frage, wie “lebenswert” ihr Dasein ist, tatsächlich (hin und wieder) stellen. Er wollte ganz sicher sein, dass diese Menschen die Botschaft hören.

Es ist wie so oft: Die Bewertung eines Buches hängt davon ab, wer es zu welchem Zeitpunkt und in welcher Lebenssituation liest.
Für die Zielgruppe mag es ein geradezu “rettendes” Buch sein; für den einen etwas distanzierten Leser ist es stellenweise grenzwertig.

(vom gleichen Autor: “Wie man die Zeit anhält“, “Ich und die Menschen“)

“why we matter” von Emilia Roig

Bewertung: 3 von 5.

Wenn man sich kritisch mit einem Buch auseinandersetzt, das ein zweifellos relevantes und für viele Menschen auch unmittelbar (schmerzlich) spürbares Thema betrifft, kann man leicht unter Verdacht geraten: man könnte den Betroffenen ihr Leid absprechen oder relativieren, das ganze Problem wegdiskutieren oder sich sogar auf die Seite der Täter stellen wollen. Man wäre also letztendlich unempathisch, ignorant oder gar böse.
Was ich hier als Rezensent aber ganz sicher nicht tun möchte, ist das Streben nach einer Welt ohne Unterdrückung und Diskriminierung in Frage zu stellen. Ich bewerte – aus einer ganz bestimmten subjektiven Sicht – ein konkretes Buch; so wie ich es sonst auch bei vielen Sachbüchern oder Romanen tue.
Wer denkt, man könne oder dürfe über einen Text, der sich – aus der Perspektive einer Betroffenen – engagiert gegen systematisches Unrecht wendet, nicht aus einer Position einer „kritischen Distanz“ betrachten (weil es sich nur um eine Anmaßung handeln könne), der oder die kann sich an dieser Stelle gegen das Weiterlesen entscheiden.

Emilia ROIG schöpft für ihre umfassende Darstellung von Unterdrückungs- und Diskriminierungsprozessen aus zwei Quellen: Sie beschreibt anschaulich eigene Erfahrungen aus ihrer eigenen multikulturellen Biografie sowie aus ihrem persönlichen Umfeld und sie bezieht sich auf – sowohl zeitlich als auch geografisch weit gefächerte – historische, gesellschaftliche und politische Analysen.

Die Autorin versucht an keiner Stelle den Eindruck zu erwecken, dass sie einen irgendwie “neutralen” oder gar “objektiven” wissenschaftlichen Text vorlegt. Sie hat ein Ziel, folgt einer Berufung, ist selbstbewusst parteilich und stützt sich – naheliegender Weise – ausschließlich auf Autor:innen, die sich dem Feminismus, dem Antirassismus, der Kapitalismuskritik und dem konsequenten Schutz aller Minderheiten gegen Unterdrückung und Diskriminierung verschrieben haben. Dabei spielen neben people of colour natürlich auch nicht-binäre sexuelle Identitäten bzw. Orientierungen eine Rolle, ebenso wie behinderte Menschen und Person(gruppen), die in Armut und/oder unter unfreien bzw. abhängigen Bedingungen leben müssen (z.B. auch als Folge von Polizeigewalt oder unfairer Rechtssysteme).

ROIGs Hauptargumentationslinie besteht darin zu verdeutlichen, dass die Unterdrückungs- und Diskriminierungsmechanismen sich durchweg auf bestimmte grundlegende Machtstrukturen zurückführen lassen. Genannt werden immer wieder:
– die historisch (u.a. durch Kolonialismus und Sklavenwirtschaft) gewachsene Vorherrschaft von Menschen (Nationen) mit weißer Hautfarbe,
–  die patriarchalische Einschränkung der Rechte und Teilhabe von Frauen (einschließlich der Unterdrückung ihrer Sexualität),
– die Ausbeutung durch eine (weitgehend menschenverachtende) kapitalistische Wirtschaftsordnung (mit ihrem rein rational-technischem Naturverständnis),
– gesellschaftliche Institutionen (Bildungssystem, Polizei, Justiz), die für die Absicherung der Privilegien eingesetzt wurden und werden (und so auch eine wirksamen Gegenwehr verhindern).
Wer wollte diese grundsätzlichen Zusammenhänge ernsthaft bestreiten?!

Die Autorin geht aber über eine Zustandsbeschreibung und dessen historischer Einordnung weit hinaus. Sie entwirft ein – stellenweise geradezu utopisches – Bild einer alternativen Welt- und Gesellschaftsordnung (die so sozial gerecht, ökologisch, naturnah, divers und menschenfreundlich ist, dass der Zwang zur Lohnarbeit, aber z.B. auch Polizei und Gefängnisse irgendwann überflüssig werden).

Für die gegenwärtige Auseinandersetzung um Diskriminierungen aller Art wird der Blick nicht auf individuelles Verhalten bestimmter Menschen – z.B. weißer Männer oder Cis-Frauen (also Frauen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt) gelenkt, sondern auf deren historisch gewachsenen und verfestigten Privilegiertheits-Status. Diese „strukturelle Diskriminierung“ anzuerkennen, ist – aus Sicht des Buches – die Eintrittskarte in jeden ernstzunehmenden Diskurs.

Auch wenn ich mir natürlich nicht anmaßen würde, in die Erlebniswelt einer/eines Betroffenen eintauchen zu können, würde ich doch vermuten, dass sich ein großer Teil der Menschen mit eigenen Diskriminierungserfahrungen sich von ROIG sehr gut gesehen und verstanden fühlen. Eine große Gruppe wird sicher mit dem Angebot sympathisieren, persönliche Erfahrungen in den dargebotenen größeren (politischen und historischen) Zusammenhang einzuordnen. Für viele wird damit sicher ein bedeutsamer Erkenntnisgewinn verbunden sein. Das bedeutet natürlich nicht, dass jede Person mit solchen Erfahrungen alle Schlussfolgerungen und politischen Ziele der Autorin teilen würde (das zu unterstellen verbietet der Respekt vor den individuellen Erfahrungen und Überzeugungen).

Wo könnten bei einem solch engagierten Manifest nun überhaupt Kritikpunkte lauern?
Nun, für mich hat sich die Frage gestellt, ob nicht einige Pauschalisierungen und Übertreibungen die Aussagekraft des Buches eher schwächen. Bei Menschen wie mir ist das so.
Wenn man Gegner (Unterdrücker) wahrnimmt und sich von ihnen (und ihrer Macht) befreien will, dann ist es wichtig, dass die Fronten klar sind: Es gibt Täter und Opfer, Privilegierte und Diskriminierte, Gut und Böse. Wenn man aber historische Zusammenhänge quer über die Jahrhunderte und Kontinente darstellen und für Begründen nutzen will, schlagen solche einfachen Schemata leider irgendwann in monokausale Erklärungen um.

Was ich damit meine, möchte ich an ein paar Beispielen erläutern:
– Ich glaube einfach nicht ganz, dass alles Leid und Unrecht der Welt auf den Überlegenheitswahn der weißen “Rasse” und deren patriarchalen, kolonialistischen und kapitalistischen Ideologien zurückzuführen sind. Ich glaube, dass es auch zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen Machtmissbrauch und Unterdrückung gab (und gibt), dass Menschenrechte auch unter ganz anderen gesellschaftlichen und religiösen Bedingungen missachtet wurden.
– Auch glaube ich, dass die westliche Epoche der Aufklärung (und die darauf aufbauende Wissenschaft und Technologie) nicht nur zu einer seelenlosen Ausbeutung von Menschen (Sklaven) und Plünderung natürlicher Ressourcen geführt hat, sondern letztlich auch positive Aspekte der Zivilisation und nicht zuletzt die Grundlage der Prinzipien geschaffen hat, auf die sich auch ROIG in ihrem Buch zu Recht beruft.
– Mir ist nicht bekannt, dass es so unendlich viele Staaten auf diesem Planeten gäbe, in denen Institutionen wie Polizei und Justiz in einem größeren Ausmaß als bei uns auch zur Verteidigung von individuellen Rechten Nichtprivilegierter tätig sind. Nicht alles was der “weiße, kapitalistische” Staat macht, dient unmittelbar der Machterhaltung einer mächtigen Clique von Unterdrückern.
– Ich bin nicht ganz sicher, ob die starre (und etwas provokante) Einteilung in diskriminierte Minderheiten und strukturell Privilegierte (und damit auch potentielle “Täter”) wirklich die Form von Solidarisierung und Gemeinschaftsgefühl schafft, die letztlich angestrebt wird.
Natürlich kann man das alles so sehen; man muss es aber nicht (selbst wenn man sich für einen aufgeklärten und fortschrittlichen Menschen hält).

Wie kommt es zu solchen – meiner Einschätzung nach – überschießenden Aussagen in diesem engagierten Buch? Ein Muster, was sich immer wiederholt, lässt sich so beschreiben: Es werden extreme Beispiele für Unterdrückung und Diskriminierung aus oft weit zurückliegenden historischen Epochen angeführt (schlimm genug, dass es sie gab), dann aktuelle Fehlentwicklungen aus anderen Ländern (z.B. der USA) angeführt, um dann aus der Analyse, dass ja die gleichen strukturellen Rahmenbedingungen auch in Europa wirken, ein extrem einseitig-negatives Bild unserer Realität abgeleitet.

Ich will es nochmal klarstellen: Es geht nicht um falsch oder richtig. Viele Aussagen von ROIG sind zweifellos nachvollziehbar und richtig. Ich frage mich nur, ob man/frau wirklich so dick auftragen muss, um für die eigenen Anliegen und letztlich für eine bessere Gesellschaft zu werben.
Vielleicht stehe ich ja schon auf der “anderen” Seite, weil mir dieser hier vorgelegte Rundumschlag an einigen Stellen ganz eindeutig zu weit geht. Aber ich bin sicher, dass dieses Buch sich sowieso an andere Zielgruppen wendet.

“befreit” von Tara WESTOVER

Bewertung: 3 von 5.

Diesem Buch und seiner Bewertung kann man sich auf ganz verschiedenen Wegen nähern: durch empathisches Mitfühlen hinsichtlich des geschilderten Schicksals, durch Analyse der erzählerischen Qualitäten, durch Beurteilung der psychologischen Stimmigkeit der Figuren und durch Beschäftigung mit der Verbindung zwischen religiösem Fanatismus und individueller Psychopathologie. Man könnte auch die Spur der Autorin aufnehmen und nachspüren, wie Bildung die Chance beinhaltet, sich von frühgeprägten Mustern und Beschädigungen zu befreien.
Ich werde eine – sicher sehr subjektive – Mischung dieser Perspektiven anbieten.

Die Handlung: Ein Mädchen wächst in einer ziemlich abgeschotteten Welt im ländlichen Amerika auf. Diese Erfahrungswelt wird geprägt durch einen Vater, dessen religiöser Eifer (es geht um Mormonen) sich mit einem psychischen Störungsbild kombiniert und so ein Wahnsystem produziert, in dem alle weltlichen (staatlichen) Einflüsse dem Teufel zugeschrieben werden. Den Lebensunterhalt der kinderreichen Familie bestreitet er als Schrotthändler und kleiner Bauunternehmer; natürlich müssen alle Kinder von klein auf mitarbeiten. Neben sich hat er eine Ehefrau, die sich seinem Regime unterordnet – zunächst aus Angst, später aus Überzeugung bzw. Loyalität. Sie startet als eine Art “Kräuterfrau” und illegale Hebamme, entwickelt später daraus ein einträgliches Unternehmen.
Das Familienleben wird durch Tyrannei und Rohheit bestimmt; die Ablehnung alles
Weltlichen bezieht sich auch auf die Systeme Schule und (offizielle) Medizin.
Man begleitet die Ich-Erzählerin durch die Schrecken ihrer Kindheit und hofft auf den Moment, in dem die – durch den Titel versprochene – Befreiung beginnt.

Als Leser/in ist man einem emotionalem Wechselbad ausgeliefert. Man leidet mit der Protagonistin und ihren Geschwistern, ist fassungslos angesichts des Umgangs mit Bedürfnissen, Krankheit und Schmerz und kann nur mit großer Mühe (zumindest eine Zeitlang) nachvollziehen, warum dem Ganzen nicht irgendwann von innen oder außen ein Ende gesetzt wird.
Irgendwann melden sich dann Unverständnis, wachsende Ungeduld, später sogar Ärger, weil die – doch so offensichtlich erscheinenden – Zusammenhänge auch von den zu Jugendlichen heranwachsenden Opfern dieser Tyrannei einfach nicht erkannt und die notwendigen Konsequenzen nicht gezogen werden.

Zwei Seiten einer Medaille liegen ganz nah zusammen:
Es wird sehr eindrücklich verdeutlicht, wie stark die Kräfte einer frühen, geradezu gehirnwäschenmäßigen Prägung, kombiniert mit traumatischen Erfahrungen, wirken können – bis zu einer unzweifelhaft pathologischen Verstrickung. Loyalität wird so grenzenlos und selbstzerstörerisch – in einer Situation, in der sich der Missbrauch elterlicher Autorität mit dem Anspruch einer unerbittlichen religiösen Unterwerfung vermischt.
Gleichzeitig ist es nur schwer auszuhalten (und manchmal auch wirklich nicht zu glauben), dass eine – inzwischen intellektuell geförderte und entwickelte – Persönlichkeit so viele Durchgänge und schmerzhafte Wiederholungsschleifen benötigt, bevor (endlich) Erkenntnisse reifen und Schlussfolgerungen möglich werden (bis zum Ende nicht frei von Ambivalenzen).
Mir waren es tatsächlich ein paar Runden zu viel.

Letztlich stimmt die Aussage des Untertitels nicht. Bildung hat diese junge Frau nicht wirklich befreit – sonst wäre sie nicht als Studierende und Doktorandin, belesen mit Werken aus Geschichte, Politik und Philosophie, immer noch unfähig gewesen, die tatsächlichen Beschädigungen und destruktiven Kräfte ihrer Herkunftsfamilie zu durchschauen.
Der Lösung kam sie schließlich eher durch eine Art therapeutischen Prozess näher, eben nicht durch Wissen allein.

Insgesamt hat mich das Buch ein wenig ratlos hinterlassen. Habe ich mehr erfahren, als dass es solche bemitleidenswerten Einzelschicksale gibt?
Völlig vermisste habe ich z.B. eine kritische Auseinandersetzung mit einem religiösen System, dass mit seinem Absolutheitsanspruch eben auch den Boden bereitet für eine solche Familiendiktatur. Im Gegenteil: Die Autorin ist bis zum Schluss stolz darauf, dass sie in ihrer Dissertation Aspekte der mormonischen Kultur mit anderen gesellschaftlichen Einflüssen harmonisiert hat.
Da fehlt mir das Verständnis. Nicht gegenüber dem Umstand, dass die religiöse Prägung trotz allem Leid ein Teil der Identität geblieben ist, sondern weil mir eine Auseinandersetzung damit fehlt, eine Meta-Betrachtung.

Die – sicher anrührende – Schilderung dieser Kindheits-Hölle macht diesen Text für mich noch nicht zu einem wirklich empfehlenswerten Buch.


“Immer auf Sendung – Nie auf Empfang” von Kate MURPHY

Bewertung: 4 von 5.

Das Buch der amerikanischen Wissenschaftsjournalistin hat keine “Liebe auf den ersten Blick” ausgelöst. Ein bisschen plauderhaft-episodisch empfand ich den Einstieg, die etwas zu erwartbaren kulturkritischen Ausführungen zum Verlust des Zuhörens in der Moderne haben mich nicht gerade schwungvoll hinterm Ofen hervorgezogen.
Aber: Der Text entfaltet eine Steigerungsdynamik und hält dann doch eine Reihe von gehaltvollen Überraschungen bereit.

Die Autorin hat ein echtes Anliegen: Sie will das persönliche Zuhören schmackhaft machen, will auf die besondere Qualität und Funktion der unmittelbaren Begegnung im Gespräch hinweisen. Sie will deutlich machen, was alles verlorengeht, wenn wir uns allein einer elektronisch-digitalen Kommunikation überlassen.

Zum Glück bleibt es nicht bei einer Bestandsaufnahme des Niedergangs und entsprechenden Apellen zur Umkehr. MURPHY macht einen echten Rundumschlag und wendet sich wirklich sehr vielen Bereichen des privaten und beruflichen Lebens zu, in denen die Fähigkeit (Kunst?) des Zuhörens eine Rolle spielt (oder stärker spielen sollte).
Sie schaut sich Partnerschaften bzw. Ehen an, streift die Bereiche Medizin und Psychotherapie, betrachtet kritisch Politik und Medien.
Immer wieder kann sie sich für einzelne Könner (z.B. Journalisten oder Verkäufer) begeistern, die durch ihre Art des Zuhörens bei ihrem Gegenüber erstaunliche Wirkungen erzielen.

Fast unauffällig streut die Autorin Sachinformationen ein, indem sie über z.B. über die Bedeutung frühkindliche Bindungserfahrungen, über den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken oder über die physiologische Basis des Hörens aufklärt.
Es werden Untersuchungen angeführt, kognitive Verzerrungen erklärt und Beispiele für Kommunikationstrainings angeführt.
Da sich das Ganze in einem eher journalistischen Schreibstil abspielt und – auf typisch amerikanische Weise – mit episodenhaften (auch abschreckenden) Fallbespielen angereichert ist, merkt man kaum, dass man tatsächlich ein Sachbuch liest.

Es geht MURPHY bei ihrem Plädoyer für ein besseres Zuhören nicht um eine rein technische Fertigkeit. Für sie ist Zuhören kein Manipulations-Trick, sondern beruht auf einer bestimmten Haltung: es geht ihr um Neugier, Authentizität, Zuwendung, Empathie. Wer wirklich zuhört, der will auch verstehen und bringt sich auch selbst als Person ein.
Insofern ist das angestrebte Verhalten schon sehr nahe an dem, was man “aktives Zuhören”, “klientenzentrierte Gesprächsführung” oder “Gesprächspsychotherapie” nennt.
Sie nennt diesen Bezug auch, macht ihn aber nicht so groß, wie das möglich und passend gewesen wäre. Ein bisschen entsteht dabei der Eindruck, dass sich dadurch vielleicht zu viel anderes erübrigt hätte; tatsächlich wären bei einer ausführlicheren Darstellung dieses therapeutischen Vorgehens manch anderes Beispiel überflüssig gewesen.
Aber vielleicht zieht dieses Buch seinen Reiz ja gerade aus seinem breiten, facettenreichen Zugang.

Insgesamt ein sympathisches und informatives Buch zu einem wichtigen Thema. Für manchen vielleicht ein wenig zu pädagogisch-missionarisch im Ton, andere werden möglicherweise eine noch stringentere Strukturierung vermissen.
Wer journalistische Pupulärwissenschaft zu schätzen weiß, bekommt sie in diesem Buch.