“Zeitreise” von Stefan AUST

Bewertung: 3.5 von 5.

Der Star-Journalist AUST kleckert nicht gerne; seine zeitgeschichtlichen Bücher (z.B. über die RAF) sind zu üppigen Standardwerken geworden. Es war daher nicht zu erwarten, dass diese Autobiografie ein bescheidenes Büchlein wird.
Ohne Zweifel: AUST ist so etwas wie eine eigene journalistische Institution; die bundesdeutsche Presselandschaft der letzten Jahrzehnte ist ohne ihn kaum vorstellbar: Konkret, Panorama, SPIEGEL-TV, SPIEGEL-Chefredaktion, WELT-Herausgeber – um nur die wichtigsten Stationen zu nennen. So jemand hat etwas zu erzählen – und an einem mangelnden Selbstbewusstsein leidet er ganz sicher auch nicht.

Wir begleiten AUST durch die (west-)deutsche Geschichte der letzten 50 Jahre. Dabei erfahren wir anfangs ein wenig über seine Herkunftsfamilie und später über seine privaten Hobbies: das Reisen und die Pferdezucht (wobei beides auf einem hohen Niveau betrieben wird).
Solche persönlichen Aspekte verblassen allerdings angesichts des Übergewichts der beruflichen und politischen Themen. Dieses Buch verschafft einen intensiven und faszinierend hautnahen Einblick sowohl in die Brennpunkte des Zeitgeschehens als auch in die Innenansicht des deutschen Journalismus bzw. der Presse- und Medienwelt ganz allgemein.
Man könnte auch sagen: AUST war immer irgendwie dabei, oft an vorderster Front; manchmal sogar mehr Akteur als nur Beobachter. AUST kannte und kennt sie alle: egal, ob Terrorist oder Präsident, egal ob Putin oder Trump. Es ist wirklich teilweise atemberaubend…
Manchmal kam mir mein eigenes bescheidenes Durchschnittsleben im Vergleich zu diesem Tausendsassa geradezu erbärmlich vor. Oder, um es positiver auszudrücken: Man kann nur staunen, was in ein Journalistenleben so alles hineinpasst…

Natürlich ist es eine sehr persönliche Auswahl, die uns geboten wird. Es handelt sich schließlich um eine Autobiografie und nicht um ein Geschichtsbuch.
Die Kernthemen sind:
– die Anfänge bei dem linken Blatt “KONKRET”
– die linke studentische Protest-Szene
– die Entwicklung des linken terroristischen Untergrunds
– die Mitarbeit bei TV-Politmagazinen
– der Aufbau des privaten Nachrichtenkanals “SPIEGEL-TV”
– die SPIEGEL-Chefredaktion (mit allen Höhen und Tiefen)
– das Ende der DDR und das Stasi-Spitzelsystem
– die Arbeit am Buch und Film über die RAF
– die Suche nach dem Bernstein-Zimmer
– die Entmachtung beim SPIEGEL
– die Tätigkeit bei der WELT
Wir erfahren jeweils recht genau, mit wem jeweils diese Projekte angegangen bzw. durchgeführt werden; wir erfahren auch etwas über Gegenspieler (insbesondere beim SPIEGEL). Es ist ein beeindruckendes Netzwerk, in dem sich AUST da bewegt – kein Wunder, dass zu einem runden Geburtstag dann mal 900 Leute vorbeikommen…

Um dieses Buch mit Genuss so lesen, sollte man (mindestens) zwei Voraussetzungen mitbringen: eigene Bezüge zu den beschriebenen Ereignissen und Interesse für den Journalismus als Handwerk (okay – eine gewisse Ausdauer wäre auch angesagt).
Damit einem der Genuss am Ende aber nicht ganz vergeht, bedarf es noch einer weiteren Qualität: Toleranz!
Was sich nämlich AUST da im letzten Teil seines Buches zum Thema “Klimawandel” und “Nachhaltigkeit” zusammenschreibt, kann man eigentlich nur ertragen, wenn man diesem hochintelligenten Menschen auf diesem Gebiet so etwas wie “Altersstarrsinn” zubilligt.
Oder besser: Dieser erfolgsverwöhnte Mensch ist offensichtlich inzwischen so überzeugt von sich und seiner Urteilskraft, dass es ihn nicht anficht, dass er nahezu allen Klimawissenschaftlern der Welt widerspricht.

Davon abgesehen: AUST bietet wahrlich eine Zeitreise an. Wer heute als politisch interessierter Mensch so zwischen 55 und 80 ist, der wird sich in den beschriebenen Etappen wiederfinden (“das haben wir alles erlebt”). Für jüngere Leute stellt das Buch eine persönlich gefärbte Geschichte der bundesdeutschen Medienwelt dar: jede Menge (inzwischen) alter weißer Männer…

Die Hörbuch-Version wird vom Autor gelesen. Das wirkt sehr stimmig und angenehm – auch über 20 Stunden.

Maja Göpel bedankt sich für den Erich-Fromm-Preis

Ich möchte mit diesem Beitrag dazu motivieren, ein YouTube-Video von 46 Minuten Dauer anzuschauen. Das ist eine Menge Zeit für Menschen, die in einen strukturierten Alltag eingebunden sind. Andererseits ist es nur ziemlich genau die Dauer einer Halbzeit eines EM-Fußballspiels…

Statt einen durchformulierten Text anzubieten (der euch nur wieder kostbare Zeit klaut), zähle ich nur ein paar Gründe auf, warum ich diese Rede von Maja Göpel so sehenswert finde:
– Es ist faszinierend, wie nah die Gedanken von Fromm (Stichwort “Haben oder Sein”) den aktuellen Fragestellungen um die Nachhaltigkeits-Transformation sind (wobei sich Göpel in ihrer Rede auf ein anderes Buch von Fromm bezieht).
– Es wird in einer – kaum zu übertreffenden Weise – deutlich, wie emotionale Präsenz mit analytischem Verstand und klaren Zielsetzungen verbunden sein kann.
– Um es anders auszudrücken: Göpel präsentiert hier eine Form von lebendiger Weiblichkeit, die ein Gefühl dafür entstehen lässt, warum es doch einen bedeutsamen Unterschied machen kann, ob Frauen auf allen Ebenen der Gesellschaft präsent sind. (Ja, ich weiß: Nicht alle Frauen sind toll und nicht alle Männer sind verkopfte Fachidioten).
– Die Rede motiviert – gerade weil sie so emotional und persönlich ist – zu einer eigenen Innenschau: “Wo stehe ich eigentlich in diesen Grundfragen? In welcher Welt möchte ich tatsächlich leben? Was für einen Mensch möchte ich sehen, wenn ich in den sprichwörtlichen Spiegel schaue?”

Ich persönlich finde es nach einer solchen Darbietung geradezu unmöglich, sich nicht angesprochen zu fühlen.

“Jahre wie Schnee” von Volker FERKAU

Bewertung: 2.5 von 5.

Wäre ich in einer Buchhandlung auf dieses Cover gestoßen, hätte ich es ganz sicher keines zweiten Blickes gewürdigt. Doch wenn eine gute Freundin mich darauf hinweist, dass ein Jugend-Idol (Pete Townshend von The Who) in diesem Buch eine Rolle spielt, dann gibt es kein Halten mehr. Trotz ihrer fürsorglichen Warnung.

FERKAU hat eine Familiensaga vorgelegt, in dessen Handlungsverlauf die flügge werdende Tochter einer Verlegerfamilie ein paar Wochen im Hippieland Kalifornien verbringt. Sie lernt dort die Alternativkultur, das Leben und die Liebe kennen – und kann all diese Erfahrungen nutzen, um eine Reifesprung zur erwachsenen Frau zu vollziehen.

Die eigentliche Handlung vollzieht sich allerdings in Deutschland, ebenfalls in den 60iger bzw. 70iger Jahren. Es geht um verdrängte Kriegsfolgen, um Familiengeheimnisse, um die Welt der Nachrichten-Magazine und um Generationskonflikte. Ein bisschen Krimi gehört dazu, ein bisschen Politik und überhaupt von allem etwas.
Der Autor lässt nichts unversucht, möglichst viele zeitgeisttypische Themen und Ereignisse in seinem Plot unterzubringen. Genau das will er wohl seinen Lerser/innen bieten: wohlige Erinnerungen an die Zeit der eigenen Jugend.

Viellicht steckt darin auch eine große Schwäche des Romans: Er will es irgendwie allen recht machen. Er spielt mit allen Genres, will den Mainstream genauso bedienen wie die aufbegehrende Protestkultur. Das führt dann allerdings dazu, dass sich wohl niemand so richtig zu Hause fühlt, in dieser Romanwelt der Familie Mayberg. Den Who-Fans ist die Geschichte mit Sicherheit irgendwann viel zu kitschig; die Freunde einer seichten Liebesgeschichte werden mit Pete nicht viel anfangen können und die Krimifans werden dann doch Spannung und Action vermissen.

Vielleicht kommen noch am ehesten die Freunde von familiären Konfliktlagen und den begleitenden ambivalenten Emotionen auf ihre Kosten. Allerdings muss man schon eine gewisse Immunität gegenüber Klischees und vorhersagbaren Dynamiken mitbringen.

Also: Im besten Fall leichte Unterhaltung. Um mich für den Nachfolge-Roman (den gibt es wirklich) zu motivieren, müsste schon ein bekannter Rockstar zur Hauptfigur avancieren.
Ich glaube allerdings kaum, dass Herr Townshend (oder ein gleichwertiger Ersatz) dazu bereit wäre…

Alles GRÜN?

(Vorbemerkung: Dieser Beitrag bemüht sich ganz eindeutig nicht um sachliche und ausgewogene Formulierungen. Er lässt auch einen Einblick in die emotionale Beteiligung des Autors zu).

Nun liegen sie vor – die Programme der Mitbewerber.
Außer den Klima-Ignoranten von der AfD reklamieren alle Parteien für sich, eine irgendwie bessere, intelligentere und bequemere Klimapolitik anzubieten, als es die GRÜNEN tun.
Das, was tatsächlich von der sog. bürgerlichen Parteienseite geliefert wird (SPD und LINKE nehme ich hier mal aus), ist allerdings so katastrophal und peinlich, dass es einem fast die Sprache verschlägt.

Zunächst zum Allgemeinen:
Das größte politische Ziel und damit die Ausgangsbasis für alle anderen Überlegungen von FDP und CDU/CSU ist ganz eindeutig die Vermeidung von Steuererhöhungen!
Man mache sich das wirklich einmal bewusst: Nach einer dramatischen Ausnahmesituation (Corona-Krise) und angesichts einer globalen existentiellen Herausforderung (Klimawandel) fällt zweien unser „staatstragenden“ Parteien nichts Wichtigeres ein, als die Wohlhabenden und Reichen in diesem Land davor zu schützen, einen etwas größeren Beitrag zur Bewältigung dieser (und anderer) gesellschaftlichen Aufgaben zu leisten.
Ist das nicht wirklich armselig und schockierend zugleich?

Jetzt zur Klimapolitik:
Da traut man sich, dem transparenten und durchgerechneten Vorschlag der GRÜNEN alles Mögliche vorzuwerfen (von Beliebigkeit bis Öko-Diktatur), um dann selbst nur heiße Luft zu liefern.

Aber konkret: Die FDP sagt letztlich, dass alles über die Deckelung des CO2-Ausstoßes funktionieren könnte. Eine entsprechende Bepreisung würde allein über marktwirtschaftliche Mechanismen dafür sorgen, dass man weder den Ingenieuren noch der Wirtschaft irgendetwas vorschreiben, noch den Bürgern etwas Unbequemes zumuten müsse. Lindner und Konsorten lassen aber die spannende Frage offen, wie hoch denn der Preis dann getrieben würde, wenn die Emissionsgrenze langsam näher rückt. Damit bleibt die Sache eine (mit Sicherheit extrem unsoziale) Luftnummer!

Auch die Union hat eine Universal-Antwort parat. Achtung, bitte festhalten (sonst haut einen die Überraschung um): WIRTSCHAFTSWACHSTUM! Ja, es ist ernst gemeint; Laschet hat es gestern im Fernsehen erklärt! Wenn die Wirtschaft nur munter genug wächst, dann geht alles wie von selbst: Steuereinnahmen sprudeln und die Verschuldung kann gleichzeitig abgebaut werden. Wie praktisch, dass ja Wachstum durch eine möglichst geringe Steuerlast begünstigt wird: So wird die Schonung von Vermögenden und Spitzenverdienern zur willkommenen Rettungsmaßnahme für die gesamte Gesellschaft, geradezu zur Notwendigkeit. Wer wollte gegen so viel Vernunft und Logik etwas sagen?
By the way: Wie war das nochmal mit dem Zusammenhang zwischen (grenzenlosem) Wirtschaftswachstum und so kleinen Problemchen wie Umweltzerstörung, Artensterben, Ressourcenverbrauch, Vermüllung der Weltmeere, usw.?

Es dreht sich alles um zwei Punkte: Man will die eigene Klientel nicht belasten und man will ganz bewusst die Stimmung erzeugen, auf die man sich dann als fürsorgliche Politiker beruft. Das Motto heißt: „Man darf die Menschen nicht überfordern, man muss sie mitnehmen, die Leute wollen keine Vorschriften und Verbote.“ Indem man dieses Mantra unaufhörlich wiederholt, vergrößert und verfestigt man eben genau dieses Gefühl, dass da (angeblich) finstere Mächte drohen könnten. Statt Verantwortung und Führung zu übernehmen, redet man den Ängsten und Bequemlichkeiten der Menschen nach dem Munde – weil es Stimmen verspricht!

Man merkt: Es ist wirklich alles solide GRÜN, hier im Lande – wir brauchen die GRÜNE Partei gar nicht mehr! Frohes Erwachen im September 2021!

“Die große Angst” von Roland PAULSEN

Bewertung: 3.5 von 5.

Dieses Buch stellt Leser/innen und Rezensenten (auch hier sind die weiblichen mitgemeint) vor gewisse Herausforderungen. Das hat nichts damit zu tun, dass dieses Sachbuch unverständlich geschrieben wäre. Es entzieht sich ein wenig den gängigen Kategorien.
PAULSEN, von Haus aus Soziologe, holt weit aus und bedient sich auch der Nachbardisziplinen: Er greift auf psychologische, psychiatrische, philosophische und politische Erkenntnisse zurück – und relativiert diese manchmal in einem erstaunlichen Umfang.
Insgesamt ist so eine sehr persönliche Betrachtung entstanden, fast so etwas wie ein (sehr umfangreicher) Essay, in dem eine recht eigenwillige Meinung sehr engagiert vertreten wird. Der Autor traut sich, einen sehr weiten Bogen zu spannen, um seine Grundthesen zu untermauern und nimmt dabei in Kauf, in vielen Bereichen wissenschaftlichen Mehrheitsmeinungen in die Quere zu kommen.
Hier wird kein Thema zusammenfassend und aus mehreren Perspektiven behandelt. Dieses Buch ist ganz bewusst ein pointierter Diskussionsbeitrag, der eine mögliche Facette des Gegenstands ausleuchtet.
Soweit die Meta-Ebene.

PAULSEN betrachtet die bedeutsamsten psychischen Störungen als eine Art Einheit: Für ihn liegen den Ängsten, den Depressionen und den Zwängen gemeinsame Dynamiken zugrunde. Sein großes Thema ist, dass diese Entstehungs- und Versursachungsfaktoren viel weniger individuell (und damit innerpsychisch bzw. hirnorganisch) sind – und stattdessen viel stärker gesellschaftlich determiniert werden.

Wir lernen im Laufe des Buches eine Reihe von Personen kennen, die unter Zwängen, Ängsten und/oder Depressionen leiden; ihre gelegentlich skurrilen Symptomatiken werden anschaulich beschrieben. Es geht viel um deren innere Gedankenkreisläufe, um Selbstbetrachtung und Selbstbewertungen. Der Autor will zeigen, dass die Basis dieser leidvollen kognitiven Muster in einem engen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Grundbedingungen stehen, unter denen wir all heute leben müssen.
Vielleicht ein bisschen konkreter: Auch mithilfe historischer und kultureller Vergleiche macht PAULSEN deutlich, dass wir nicht nur Prozessen der “Überindividualisierung” (mein Begriff), der permanenten (zukunftsbezogenen) Selbstreflexion und der naturfernen künstlichen Zeit-Taktung ausgeliefert sind, sondern dass sich als hervorstechendste Merkmal der Moderne eine geradezu pathologische Risikofurcht und Risikovermeidung ausgebildet hat.
Der Autor ist überzeugt davon, dass der der verzweifelte innere Kampf um Sicherheit und Kontrolle nicht nur aussichtslos ist, sondern die Nichtakzeptanz von (kleinen und großen) unvermeidlichen Lebensrisken uns erst wirklich krank macht. Dass wir bei der realistischen Einschätzung von Risiken auch noch grandios scheitern, macht die Sache nicht einfacher.

Gibt es eine Lösung?
PAULSEN plädiert für Gelassenheit und Akzeptanz. Statt wie das berühmte Kaninchen auf auf die überall lauernden Risiken zu starren, sollten wir uns lieber mutig auf die Ziele hinbewegen, die uns erstrebenswert erscheinen; nicht nur als Individuen, sondern auch als Gesellschaft. Eine Aussicht auf Seelenfrieden, Glück und Erfolg gibt es nicht; die Fixierung auf Gefahren lähmt uns und macht uns handlungsunfähig.

Dass der Autor der klassischen Psychiatrie mit ihren Psychopharmaka, der Psychoanalyse, der kognitiven Verhaltenstherapie und der Hirnforschung ihre Erklärungs- und Therapiemodelle streitig macht, wird ihm sicherlich wenig Freunde einbringen.
Die Konsequenz, mit der er alle anderen wissenschaftlichen Zugänge zu den beschriebenen psychischen Störungen relativiert, hat sicher etwas bewusst Provokatives.
Er wird über Gegenwind nicht überrascht sein.

PAULSENs Perspektiven sind erhellend und anregend; einen in sich schlüssigen und überzeugenden Gegenentwurf hat er aber letztlich nicht zu bieten.
Empfehlen kann ich dieses Buch für Menschen, die sich mit psychischen Störungsbildern schon ein wenig auskennen und sich daran erfreuen können, mal eine erfrischend andere (soziologische) Sichtweise auf sich wirken zu lassen.
Als Einführung in das Thema Angst (bzw. Zwang/Depression) ist der Text ganz sicher nicht geeignet.

“Noise” von Daniel KAHNEMANN u.a.

Bewertung: 3 von 5.

Das Wichtigste vorweg: “Noise” ist keine Aktualisierung, Vertiefung oder Fortsetzung des – inzwischen als Klassiker bewerteten – Welterfolgs (über die zwei grundsätzlich verschiedenen Denkmuster). Die aktuelle Veröffentlichung KAHNEMANNS (die Mit-Autoren sind jeweils auch gemeint) richtet sich an ein spezielleres Publikum: Es werden gezielt Entscheider aus Wirtschaft, Verwaltung und Justiz angesprochen; es geht weniger um die Erkundung allgemeiner psychologischer Grundprozesse, sondern um die reale und konkrete Verbesserung von Urteilen und Entscheidungen.
Das große Ziel dieses Buches liegt darin, bestimmte Sorten von Fehlern zu erkennen und zu eliminieren – Fehler, die zu wirtschaftlichen Verlusten, Ungerechtigkeiten oder zu sonstigen (z.B. gesundheitlichen) Nachteilen führen.
Der Praxisbezug dieser Abhandlung macht sich schon an der Auswahl der Bereiche fest, die einer näheren Analyse unterzogen werden: es geht um die Festlegung angemessener Versicherungspolicen, um die (skandalöse) Uneinheitlichkeit von Gerichtsurteilen, um Personalauswahl, um die Bewertung von Unternehmen oder Produktplänen und um Beurteilungen von Leistungen auf verschiedenen Gebieten.

Dieses Buch – und das ist sicher KAHNEMANN-typisch – geht extrem strukturiert und didaktisch vor. Es beginnt also damit, unterschiedliche Fehlertypen zu differenzieren bzw. zu definieren. Die wichtigste Weichenstellung wird zwischen den BIAS- und NOISE-Fehlern vorgenommen: Während ein Bias durch eine systematische Urteils- oder Entscheidungsverzerrung (z.B. durch stabile Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen) zustande kommt, entsteht Noise durch Zufallsabweichungen (die natürlich im Laufe des Buches noch genauer analysiert und kategorisiert werden).
Ein Hauptanliegen der Autoren liegt darin, nicht nur das (erstaunlich große) Problem des Noise (also der Zufallsfehler) zu benennen, sondern sich auch mit der (ebenfalls bemerkenswerten) Tendenz zu befassen, die Existenz bzw. Bedeutung dieser Fehler zu übersehen, zu leugnen oder herunterzuspielen. Das hat offensichtlich auch eine Menge psychologischer Gründe: Vorgesetzte und Experten überschätzen die Güte Ihrer Urteilskraft und empfinden oft Entwicklungen in Richtung “Objektivität und Standardisierung” als eine Art Selbstwertbedrohung.
Im letzten Teil des Buches konzentriert sich das Autoren-Team dann tatsächlich ganz auf die systematische Bekämpfung von Noise in Unternehmen und Verwaltungen und schlägt dazu auch standardisierte Verfahren vor. In diesem Zusammenhang spielen besonders Regeln und Algorithmen eine Rolle, die als Gegengewicht zu subjektiven und intuitiven Entscheidungsmustern eingebracht werden.
(Die Vermutung, dass solche Beratungsangebote auch gutes Geld einbringen, ist sicher nicht weit hergeholt).

Als Leser/in dieses Buches braucht man sich keine Sorgen zu machen, unterwegs den Anschluss zu verlieren. Das ist die freundliche Formulierung. Man könnte auch sagen: Es wäre hilfreich, eine hohe Redundanz-Immunität zu besitzen!
Nach einigen Stunden, kann man bestimmte Begriffe oder Formulieren tatsächlich kaum noch hören (ich konsumierte Noise per Audio). Dieses Buch ist ein Beispiel dafür, dass amerikanische Sach- bzw. Fachbücher oft sehr gut verständlich geschrieben sind, dies aber häufig einen recht hohen Preis hat: Wiederholungen bis zum Gehtnichtmehr.

Bei der Gesamtbewertung kann die Nutzergruppe nicht außen vor bleiben:
Für Entscheider/innen und ihre Berater/innen könnte sich Noise zu einem Standardwerk der angewandten Wirtschaftspsychologie entwickeln. Die zahlreichen Praxisbeispiele stellen eine Fundgrube für diejenigen dar, die Abläufe standardisieren und den Output weniger anfällig für subjektive Ausreißer machen wollen. Vermutlich wird die “Noise-Reduzierung” schnell zu einem festen Bestandteil von Unternehmensberatung werden.
Spannend wird in dem Zusammenhang sein, ob auch die – durchaus vorhandenen – Warnhinweise hinsichtlich möglicher ungewünschter Effekte einer “Noise-Vernichtungs-Kultur” berücksichtigt werden.
Für den interessierten Laien, der auf den Spuren des Vorgängerwerkes weiterwandeln möchte, ist Noise nur sehr bedingt zu empfehlen. Es geht einfach zu sehr in Details, die man außerhalb der beschriebenen Systeme nicht wirklich braucht. In diesem Fall reicht es völlig aus, sich mit dem Grundgedanken des Buches vertraut zu machen (vielleicht in einer etwas inhaltsreicheren Rezension als dieser).

Meine Konsequenz: Ich lese gerade mit großem Vergnügen “Schnelles Denken, Langsames Denken”! (Das hätte ich gleich tun sollen).

“Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen” von John GREEN

Bewertung: 4 von 5.

John GREEN ist ein sensibler Mensch, der bereits in seiner Kindheit mit Krankheit und Leid konfrontiert war. Sicher haben auch die Erfahrungen, die er als studentischer Seelsorger in einem Kinderkrankenhaus gemacht hat, dazu beigetragen, dass er einen sehr emotionalen Zugang zur Welt hat. Seine bisherigen Bücher waren insbesondere bei jungen Lesern/Leserinnen außerordentlich erfolgreich.

Der Autor setzt seine Kompetenzen – eine scharfe Beobachtungsgabe, ein feines Gefühl für die “kleinen Wunder” des Alltagslebens und eine sehr gefühlvolle und direkte Sprache – diesmal für eine Art persönliche Zwischenbilanz seines Lebens ein.
Er macht sich das internet-typische 5-Sterne-Bewertungssystem zu eigen, um ein breites Spektrum von Phänomenen zu bewerten, die nur eine Gemeinsamkeit haben: Sie waren zu irgendeinem Zeitpunkt so bedeutsam für den Autor, dass er sie auch aktuell noch als einen Teil seiner Lebensgeschichte und meist auch seiner Identität betrachtet.
In diesem bunten Strauß von Themen finden sich Ereignisse, Gegenstände, Orte, Traditionen, Musikstücke, usw.

Natürlich enthalten die vielen kurzen Geschichten außer ihrem spezifischen Inhalt immer auch eine Portion der grundsätzlichen Botschaften, für die GREEN geschätzt und verehrt wird. Es geht immer irgendwie um zutiefst emotionale Facetten, die etwas mit intensivem Erleben, mit Empathie, mit Begeisterung, Leid oder Absurditäten zu tun haben.

Der Autor ist ein wahrer Menschenfreund und reflektiert gerne und viel über die den Platz, die Aufgabe und den Sinn des Menschen in diesem unendlichen Kosmos. Dabei ist er angenehm bescheiden und motiviert durch seine Betrachtungen auch seine Leser/innen dazu, eine Sensibilität für die Schätze des Alltags zu entwickeln.
Doch er redet die Welt und das Leben auch nicht schön: Der Realität von Leid und Sinnlosigkeit weicht er nicht aus – und findet doch immer wieder Zuversicht und Lebensmut.
Wir sind zwar – kosmisch betrachtet – nur kurzlebige Staubkörner, aber unsere Empfindungsfähigkeit macht uns doch zu etwas Besonderem.
Seine Empfindungsfähigkeit macht John GREEN zu einem lesenswerten Schriftsteller!

“Der Astronaut” von Andy WEIR

Bewertung: 4.5 von 5.

Nein, es handelt sich nicht um eine Fortsetzung des Marsianers! Der Astronaut ist eine ganz neue, selbstständige Geschichte. Aber die Fans des Marsianers werden sie lieben! Und um die Filmrechte wird vermutlich schon gepokert…

Diesmal bleibt der Held der Geschichte nicht allein auf einem Planeten unseres Sonnensystems zurück; die Dimensionen sind hier ganz andere.
Der Astronaut, den WEIR uns diesmal als Identifikationsfigur anbietet, befindet sich räumlich, zeitlich und technologisch ziemlich weit entfernt. Doch das betrifft nur seine Mission, nicht den sozialen und kulturellen Hintergrund hier auf der Erde. Der Roman wird so geschrieben, als ob er in wenigen Jahren in unserer bekannten Welt stattfinden könnte: Die Muster kulturellen des privaten Zusammenlebens, der wissenschaftlichen Kooperation und der politischen Systeme erscheinen vom Prinzip her vertraut.
Das hat den Vorteil, dass die Leser/innen sich ganz auf die Ereignisse im Weltall konzentrieren können.

Wir entschlüsseln die Ausgangssituation des Protagonisten schrittweise, sozusagen in Echtzeit zusammen mit dem Ich-Erzähler. Das liegt daran, dass der Wissenschaftler und Lehrer sich selbst erst nach und nach sein Gedächtnis zurückerkämpft und sich dann zu sich und der Welt orientieren kann.
So lernen wir auch die Hintergründe dieser besonderen Mission und die sehr ungewöhnliche Rolle des Astronauten in dieser für das Weiterbestehen der Menschheit entscheidenden Reise kennen.
Gut gemacht!

Neben der Rettung der Welt (ein eher vertrautes Thema) steht aber noch die Begegnung mit einem Alien auf dem Stundenplan; diese interplenare Interaktion bildet den Kern dieses Science-Fiktion-Abenteuers.
Hier verbietet sich – natürlich – jede Spur von Spoilen.
Nur so viel: Es ist ein Lese- (bzw. Hör-)Vergnügen!

Der einzige für mich vorstellbare Kritikpunkt an diesem meisterlichen Unterhaltungsangebot wäre eine Abneigung gegen zu viel Wissenschaft. Wer nur auf das Fortschreiten des Plots (der mit spannenden Wendungen nicht geizt) wartet und sich auf die soziale und emotionale Beziehungsgestaltung zwischen den Welten fixiert, den wird die ein oder andere Detailbeschreibung von physikalischen bzw. biologischen Problemen und deren (immer wieder erstaunlich kreativen) Lösungen möglicherweise überfordern (oder langweilen).
Doch das ist ein eher abwegiger Gedanke! Es ist eher zu vermuten, dass die WEIR-Fans genau auf diese Mischung der Zutaten scharf sind.

Bei diesem Buch kann man getrost dem Gefühl folgen, dass von dem Vorgänger-Werk ausging: Man vertraut einfach auf den guten Namen und genießt einige Stunden beste Unterhaltung für Hirn und Herz.
Und vielleicht ist am Ende dann doch alles anders als erwartet…

“Das Werden des Menschen und Coronas Beitrag” von Gernot BERNHOFER

Bewertung: 3 von 5.

Der österreichische “Berater und Gesprächsmentor” hat in diesem Buch seine Lebensweisheiten zusammengetragen und bietet sie mit der Hoffnung bzw. Erwartung an, dass sie auch den geneigten Leser/innen nützen können.
Das schauen wir uns hier etwas genauer an.

Das vorgelegte handliche Werk ist kein Sachbuch im engeren Sinne. Der Blick auf die großen Fragen des Lebens wird ganz überwiegend aus einer persönlichen Perspektive vorgenommen. Zwar bezieht sich BERNHOFER immer wieder auf (wissenschaftliche) Befunde bzw. Erkenntnisse und zitiert einige namhafte Autoren (z.B. Erich FROMM oder Markus GABRIEL), sein roter Faden entsteht aber durch seinen individuellen – manchmal recht assoziativen – Gedankengang.
Im Zentrum des Buches stehen somit eher Überzeugungen (die dann unterfüttert werden) als die Darstellung einer Sachlage (aus der dann persönliche Schlussfolgerungen abgeleitet werden).

Worin besteht nun das Welt- und Menschenbild des Gernot BERNHOFER? Als Antwort versuche ich einmal, den – aus Sicht des Autors – “perfekten” Leser (ich meine beide Geschlechter) zu skizzieren – also eine Person, die alle Anregungen und Ratschläge dieses Buches vollständig beherzigen würde:
Dies wäre ein Mensch, der seine wahren (inneren) Prioritäten (Bedürfnisse und Ziele) erkannt hat, der diese optimistisch, mutig, risikobereit und eigenverantwortlich angeht und dabei mehr seinem Bauchgefühl als gesellschaftlichen Normen oder vorgegebenen Leitlinien traut. Die Liebe (das Sein) würde im Leben eine größere Rolle spielen als materieller Konsum (das Haben), inneres Gleichgewicht und Gelassenheit wären erstrebenswerter als ein gieriges Streben nach “Mehr”, Neugier, Unabhängigkeit und Offenheit würden gegenüber ängstlichem Festhalten bis zum Lebensende dominieren.

An dieser Stelle holen wir die Corona-Szenerie ins Spiel (die es ja sogar in den Buchtitel geschafft hat): Die skizzierte Person würde sich nicht durch Ängste lähmen lassen, sondern in dieser Krise reifen, da sie die innewohnende Chance zum Innehalten, zum Infragestellen und zur Neuausrichtung nutzen könnte.
Der Corona-Erfahrung könnte so – um den Autor zu zitieren – “das Sprungbrett zu einem globalen Bewusstseinssprung” darstellen. Allerdings zweifelt er bereits zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung (2020) daran, ob die Corona-Schockwellen wirklich stark und nachhaltig genug sein werden.

BERNHOFER betrachtet den Menschen keineswegs als isoliertes Individuum, sondern als sozial eingebundenes Wesen. In Bezug auf die gesellschaftliche Situation tut sich da ein gewisser Widerspruch auf: Er weist einerseits auf die Gefahren eines überbordenden Sozialstaates hin (schädigt angeblich die Eigenverantwortlichkeit), plädiert später im Buch aber für ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Der Autor wünscht sich ganz sicher nicht die Abschaffung des Kapitalismus, wohl aber kritische Verbraucher, die mit ihren Konsumentscheidungen zu einer nachhaltigen und gerechten Welt beitragen können.

Kommen wir zu einer zusammenfassenden Beurteilung:
Die dargebotenen Inhalte und Meinungen sind überwiegend nachvollziehbar und sympathisch; den meisten Zielen und Methoden kann man recht spontan zustimmen. Man kann sich gut vorstellen, in der skizzierten “Idealwelt” (meine Formulierung) mit den Menschen, die das alles beherzigen, gut zurechtzukommen.
Ein wenig schwierig empfinde ich die Fülle und die oft eher zufällig wirkende Verknüpfung der angesprochenen Themen. Im Laufe des Buches verstärkt sich der Eindruck, dass der Autor wirklich alles, was ihm jemals bedeutsam erschien, unbedingt in diesem Text unterbringen wollte.
Das führt dann dazu, dass BERNHOFER z.B. mal eben zwischendurch auch sie Sache mit der “Willensfreiheit”, dem “Glauben” und der “Moral” klärt (und sich dabei doch ein wenig verhebt). Ein bisschen zu selbstgewiss sind – für meinen Geschmack – manche seiner “Wahrheiten” und Urteile. Man spürt, dass sich hier ein Mensch äußert, der nicht gerade an einem schwachen Selbstbewusstsein leidet.

Sein Ziel ist es, dass auch möglichst viele andere Sinn und Kraft aus der eigenen Persönlichkeit zu schöpfen lernen. Ich bin nicht ganz sicher, ob ihm im vollen Umfang bewusst ist, dass dazu (je nach persönlichen Ressourcen und individueller Biografie) mehr notwendig ist als Anregungen und Apelle in einem Buch (und das Vorbild eines Autors, der es offensichtlich geschafft hat).

Letztlich kommt es auf den angelegten Maßstab an:
Für mich stellt dieses Buch durchaus einen gelungenen und anregenden Versuch dar, die eigenen Erfahrungen und Gedanken aus dem privaten Bereich hinaus einem größeren Publikum zu präsentieren. Grundlage dafür ist ohne Zweifel ein wacher, neugieriger und belesener Geist, zusätzlich auch ein gewisses missionarisches Anliegen (das keineswegs unsympathisch oder eifernd rüberkommt).
Für ein klassisches Sachbuch oder einen Selbsthilfe-Ratgeber wäre mir der Stil etwas zu persönlich und selbstüberzeugt.



“Roboterland” von Jenny KLEEMAN

Bewertung: 5 von 5.

Die englische Journalistin KLEEMAN befasst sich auf eine besondere Art mit unserer gesellschaftlichen Zukunft. Statt ein breites Spektrum von Trends zu analysieren (wie das z.B. HARARI in seinem letzten Buch tut) oder sich ganz dem dominanten Klimathema zu widmen (wie das fast alle irgendwann tun), betrachtet sie vier Bereiche sehr ausführlich:
– maschinelle Liebespartner (mit und ohne KI-Innenleben)
– die Erzeugung von Fleisch aus Zellkulturen
– Schwangerschaften außerhalb des mütterlichen Körpers
– Selbsttötungs-Apparate
Da sie den jeweiligen Kapiteln jeweils ca. 100 Seiten widmet, könnte man ohne große Übertreibung sagen, dass man hier gleich vier Bücher auf einmal bekommt. Aber natürlich geht es der Autorin auch um das Gemeinsame, um den gesellschaftlichen und moralischen Überbau. So interessant die vier Einzelkapitel auch sein mögen: Die gewählten Themen stehen ganz allgemein für eine bestimmte Haltung gegenüber all den Entwicklungen, die hauptsächlich aus einem Grund auf uns zukommen werden, weil sie machbar sind.

Wer das erste lange Kapitel (über Sexpuppen) zu lesen beginnt, kann sich vielleicht noch nicht so recht vorstellen, wie man sich 100 Seiten lang über so eine “abgedrehte” Facette der Zukunftstechnologie beschäftigen kann. Am Ende weiß man, dass das sehr gut geht:
KLEEMAN bietet nämlich Sachbuch-Journalismus auf höchstem Niveau!
Die Autorin ist nicht nur sehr neugierig und beobachtet mit scharfen Blick – sie analysiert auch mit einem wachen und kritischen Verstand. Sie beschreibt nicht einfach Produkte oder Technologien, sondern sie besucht und befragt die konkreten Menschen, die dahinter stehen (als Entwickler und Verkäufer) und schildert den Kontext, in dem ihre Ideen entstanden sind bzw. umgesetzt werden.
Was KLEEMAN auf diesem Wege ans Tageslicht bringt, unterscheidet sich diametral von vielen anderen, mehr oder weniger unkritischen, staunenden oder pauschal ablehnenden Schilderungen technischer Innovationen. Immer wieder gelingt es ihr, durch ihre hartnäckig aufsuchende Recherche Marketing-Märchen zu entlarven und Sensations-Meldungen zu entzaubern.
Diese Form von Aufklärung durch den Blick hinter die Kulissen ist extrem informativ und wahrlich vorbildlich!

Da die Autorin die Leser/innen an ihren Erkundungsreisen hautnah teilnehmen lässt, wird es nie langweilig. Es geht ja nicht nur um die Inhalte, sondern auch um den Prozess journalistischer Arbeit. KLEEMAN ist dabei als Person auch mit ihren Werthaltungen spürbar – aber nicht mit dem pädagogischen Zeigefinger oder dem ideologischen Holzhammer. Sie nimmt immer mal wieder in kurzen zusammenfassenden Abschnitten Stellung; man weiß, wo sie steht. An keiner Stelle entsteht der Eindruck, als sei das ganze Buch nur geschrieben worden, um vorgefasste Meinungen zu bestätigen.

Es werden nicht nur eine Unmenge Detailinformationen über die vier Bereiche angeboten; es werden auch Verbindungen und Zusammenhänge deutlich. So etwas bekäme man durch eine eigene Internet-Recherche niemals hin.
Manchmal staunt man auch einfach: Ich wusste schon ein wenig über Sexpuppen und Laborfleisch-Erzeugung; Brutbeutel für Embryos und diverse Selbsttötungs-Automaten waren mir noch ziemlich fremd.

Im (kurzen) Schlusskapitel stellt die Autorin entscheidenden politischen und gesellschaftlichen Grundsatzbetrachtungen an. Sie bezweifelt sehr nachvollziehbar, dass die eingeschlagenen technologischen Pfade auf die “richtige” Antwort bzgl. der jeweiligen Herausforderungen weisen. KLEEMAN ist überzeugt, dass es eher um soziale Fragen, ethische Haltungen und grundsätzliche Menschen- bzw. Weltbilder gehen muss (Stichwort “Machbarkeitswahn”).
Sie vermutet hinter den (vermeintlich) wertfreien Innovationen durchaus handfeste (politische und wirtschaftliche) Interessen. Sicher nicht zufällig hat die Autorin zwei Themen gewählt, die speziell die zukünftige Rolle der Frau und die damit vielleicht verbundenen männlichen Machtfantasien fokussieren.

Für mich steht dieses extrem informative und anregende Buch ganz oben in der Hitliste der Sachbücher des Jahres 2021. Wenn mir die gleiche Autorin demnächst vier weitere Bereiche näherbringen wollte, würde ich sofort zugreifen.