“6 Grad mehr” von Mark LYNAS

Bewertung: 3.5 von 5.

Immer stärker hängt die Beurteilung von Klima-Büchern auch davon ab, welche und wie viele Publikationen man schon gelesen hat. Von mal zu mal wird es immer schwerer zu entscheiden, ob das Gefühl der Redundanz aus dem Buch selber stammt oder das eigene Vorwissen widerspiegelt.
Auf das Buch von LYNAS trafen bei mir beiden Faktoren zu.

Der Grundgedanke und Rote Faden des Buches ist schnell erklärt: Der Autor führt die Leser/innen in übersichtlichen Schritten von der Gegenwart (1 Grad mehr) bis in die Apokalypse (6 Grad und mehr). Dabei geht er in einer Gründlichkeit vor, die eine schon ziemlich einzigartige Informationstiefe schafft.
LYAN wertet eine Unzahl von Studien aus und bezieht alle denkbaren Schauplätze des Klimawandels ein: die Eisschmelze an den Polen (Erhöhung des Meeresspiegels und Überflutung von Küsten), die Erwärmung der Meerestemperatur (Zunahme schwerer Stürme), die Veränderung der Meeresströmungen, das Artensterben in und außerhalb der Meere (u.a. das Korallensterben), die Veränderung der Klimazonen (und deren Auswirkung auf die Landwirtschaft), die gesundheitlichen Folgen der häufiger werdenden Hitzeperioden, die bevorstehenden Klima-Migrationswellen, usw, usw…

Bei der Darstellung führt diese umfassende Darstellungsform zu einer gewünschten und einer eher lästigen Konsequenz: Wirklich erhellend ist, dass einem am laufenden Meter das Ineinandergreifen und das gegenseitige Aufschaukeln der verschiedenen Entwicklungen vor Augen geführt wird. Als echt schwierig erweist sich im Verlauf des Buches, dass alle diese Faktoren und Wechselwirkungen für jede neue Gradzahl neu durchgespielt werden. Irgendwann steigert sich dadurch nicht nur die Temperatur, sondern auch der Wiederholungseffekt und dieser mündet schließlich irgendwann in einem Informations-Overkill.
Ein wenig gesteigert wird dieses Gefühl von “Zuviel des Schlechten” noch dadurch, dass der Autor auch immer wieder Bezug nimmt zu den Aussagen seiner früheren Klimabücher. Das ist zwar auch erhellend (weil alles noch schlimmer gekommen ist), macht aber die Faktenflut noch ein bissen unübersichtlicher.

Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Das Buch ist eine unglaublich faktenreiche und eindrückliche Schilderung der Szenarien, die auf die Menschheit der nächsten 100 Jahre zukommen werden – je nachdem, an welchem Punkt sie den Klimawandel schließlich stoppen. Absolut beeindruckend sind auch die Vergleiche mit früheren, natürlichen erdgeschichtlichen Klimaphänomenen: Sie haben sich allesamt über sehr viel längere Zeiträume erstreckt!
Wer auf dieser Faktenlage noch behauptet, dass wir uns in einem “ganz normalen” geologischen Prozess befänden, auf den wir Menschen kaum einen Einfluss hätten, ist entweder strohdumm oder hat immer noch Aktien von Ölkonzernen.

So bleibt als Quintessenz: Wer auf der Suche nach einem soliden, extrem differenzierten und gut aufgearbeiteten Informations- und Faktenpool ist, der/die sollte bei “6 Grad” beherzt zugreifen. Insbesondere, wenn es auch um die wirklich langfristigen Folgen eines extremen Klimawandels gehen soll.
Für Menschen, deren Interesse nicht so extrem in die Tiefe geht, gibt es jede Menge leichter (und schneller) lesbare Quellen.

“Orfeo” von Richard POWERS

Bewertung: 3 von 5.

Manchmal ist man von einem oder zwei Büchern eines Autors zu begeistert, dass man unbedingt alles lesen möchte, was dieser Mensch jemals veröffentlicht hat.
So ging es mir zuletzt mit Richard POWERS – und deshalb komme ich in die Verlegenheit, den Roman “Orfeo” hier zu besprechen.

POWERS hat es sich zu einem Markenzeichen gemacht, für seine Romane mit einer ungeheuren Energie und Intensität in Lebens- bzw. Themenbereiche einzutauchen. Das Ergebnis sind dann Erzählungen, die eine Oberflächenbetrachtung weit hinter sich lassen und immer wieder tiefe Einblicke in die jeweilige Materie ermöglichen. Dabei überschreitet er sicher hin und wieder die Grenzen auch interessierter Leser/innen.
Der Roman “Orfeo” hat bei mir solche Grenzen von Neugier und Geduld eindeutig durchbrochen.

POWERS schreibt einen Roman über einen von (avantgardistischer) Musik besessenen Menschen, der sein gesamtes bürgerliches Leben dem Streben nach der “perfekten” Musik opfert.
Der Autor stellt sich unerschütterlich der – sicherlich riesigen – Herausforderung, diese lebenslange Sehnsucht nach den absoluten Klangerfahrungen in geschriebene Sprache zu übersetzen. Denn es wird tatsächlich auf vielen, vielen Seiten über (fantasierte, geplante, erinnerte) Musik geschrieben. Und da es sich nicht um etablierte, gängige oder gefällige Musik handelt, sondern um verschiedene Aspekte experimenteller klanglicher Ausdrucksformen, ist auch die sprachliche Umsetzung umso schwieriger (besser gesagt: eigentlich unvorstellbar).

POWERS erzählt also eine Geschichte und lotet parallel aus, wie weit das Medium der Sprache die Welt der Musik einfangen und ausdrücken kann.
Die Geschichte handelt von einem Mann, der letztlich an seiner Besessenheit scheitert. Auf diesem Weg begleiten ihn vor allem zwei bedeutsame Beziehungspartnerinnen, eine Tochter und ein Freund (der ebenfalls dem musikalischen “Wahn” verfallen ist). Er trägt zwei berufliche Identitäten in sich (Musiker und Chemiker), die sich später auf eine so besondere Art miteinander verschränken, dass ihm dadurch die Grundlage seiner bürgerlichen Existenz endgültig entzogen wird.
Die Totalität, mit der POWERS die musikalische Welt versprachlicht, ist wirklich atemberaubend – mutet allerdings auch Leseerfahrungen zu, die wohl nur einem relativ kleinem und spezialisierten Publikum auf Dauer Vergnügen bereiten wird. Es sind zwei große Stufen, die der Autor zumutet: die grundsätzliche Schwelle zwischen Sprache und Musik – und die zusätzliche Hürde zu einer fremden Musikwelt der Avantgarde (weit weg von üblichen Harmonie- und Melodieerwartungen). Das ist tatsächlich Hardcore!

Empfehlen würde ich dieses Werk von POWERS nur Leser/innen, die entweder selbst einen Bezug zu modernen Musikformen haben oder die sich gerne mit den Grenzen literarischer Kunst und ihrer Möglichkeiten befassen.
Wen in erster Linie das (wechselhafte) Schicksal des Protagonisten interessieren sollte (wie man z.B. plötzlich in die Fänge der Terroristen-Abwehr geraten kann), dem/der sollte bewusst sein, dass lange Phasen echter Lesearbeit bevorstehen, die ohne Disziplin kaum zu bewältigen sind.

“Das Fluchholz” von Johann De BOOSE

Bewertung: 3.5 von 5.

Das ist schon eine ziemlich pfiffige Idee: Der niederländische Autor begleitet ein Stück Holz zwei Jahrtausende lang durch die Menschheitsgeschichte. Erzählt wird in der “Ich-Perspektive”, also aus Sicht des Holzes, das seinem Weg als Teil eines einsamen Olivenbaums beginnt, dann – auf einen Holzklotz zusammengeschrumpft – Jahrhunderte in Vergessenheit gerät, um schließlich – veredelt als Ikone – einen erlebnisreichen Parforceritt durch Mittelalter und Neuzeit unternimmt.

Das Stilmittel des Autors ist also eine Form von Externalisierung: Die Geschichte der Menschen und ihrer jeweiligen Epochen wird durch eine Außenperspektive gebrochen und fokussiert.
Entscheidend für die inhaltliche Schwerpunktsetzung des Romans ist dabei von Beginn an der religiöse Bezug: So bekommt der ursprüngliche Baum direkten Kontakt zu der “Gottesmutter” Maria und Jesus selbst; beide nutzen seinen Schatten. Aber es wird noch dramatischer: Das Kreuz, an dem Jesus zu Tode kommt, ist aus genau diesem Baum hergestellt worden (Einzelheiten seien dem Lesen vorbehalten). Als eine Art Reliquie bekommt ein Stück des Kreuzes später in den Genuss einer Bemalung, die Maria mit geschlossenen Lidern zeigt. Dem Status als offizielle Ikone entsprechend, geht natürlich eine besondere Wirkung von dieser Darstellung aus (sowohl visuell als auch beim Berühren).

So verschlungen und chaotisch wie die Geschichte der Menschen ist auch das Schicksal der Reliquie bzw. Ikone, wobei ganz eindeutig die Schattenseiten (also Krieg, Grausamkeit, Machtgier) im Zentrum des Geschehens stehen. Der Autor spart dabei nicht mit Details und lässt durchaus durchblicken, dass der Weg von religiöser Inbrunst zu sadistischen Praktiken oft nicht weit war.
Schlaglichtartig wird der Fokus des Geschehens auf ausgesuchte historische Zeiten und Plätze gerichtet. Das “Fluchholz” beobachtet immer und leidet häufig selbst unter den Rahmenbedingungen. Gelegentlich kommuniziert es auch mit anderen (meist heiligen) Gegenständen, die z.T. mehrfach seinen Weg kreuzen.
Wird jemals ein heilsuchender Mensch die Chance haben, die Augen von Maria geöffnet zu sehen (so wie der Baum es damals konnte)?

BOOSE legt einen besonderen historischen Roman vor, sowohl bzgl. der gewählten Perspektive als auch hinsichtlich der zeitlichen Ausdehnung. Das ist erstmal literarisch interessant und auch anregend.
Im Großen und Ganzen wird die Geschichte des Christentums (ausschnittsweise) begleitet, die Grundbotschaften des Autors (so wie ich sie verstehe) gehen aber sicher darüber hinaus: Der Zeitenlauf hat etwas Willkürliches, Zufälliges; Menschen (insbesondere, wenn sie über Macht verfügen) sind machtgeil und grausam; Lehren aus der Geschichte werden kaum gezogen; es fällt schwer, dem Ganzen einen “höheren” Sinn zu geben; im Grunde ist alles beliebig und vergänglich.
Das bedeutet nicht, dass BOOSE ein schwermütiges Buch geschrieben hätte. Es gibt auch Raum für das “Allzu-Menschliche”, auch ein Augenzwinkern ist dem Autor nicht fern.

Als Leser/in muss man wohl selbst entscheiden, ob die spürbare Neigung BOOSEs zur Schilderung von (oft auch sexuell gefärbter) sadistischer Gewalt als Versuch einer authentischen Schilderung der schreckensreichen Realität – oder doch als ein gewisses Schwelgen in (vermeidbaren) Details einzuordnen ist. Ich habe zwischendurch zu zweiten Möglichkeit tendiert.

Unbedingt zu empfehlen ist das Buch für eine (religions-)historisch interessierte Zielgruppe, die sich an ungewöhnlichen Erzählweisen erfreuen kann und keine Abneigung gegen drastische Schilderungen hat.
(3,5 von 5 Sternen)


“Kopf frei” von Volker BUSCH

Bewertung: 4.5 von 5.

Die Bekämpfung des “digitalen Overflows” hat durchaus Konjunktur. Entsprechende Publikationen fahren z.T. apokalyptischen Szenarien auf, so dass ca. 80% der Menschheit in Angst und Schrecken verfallen müsste – angesichts der eigenen doch sehr regelmäßigen Bildschirm-Nutzung (von den Kids gar nicht erst zu sprechen…).

BUSCH unterscheidet sich von solchen Holzhammer-Methoden sehr wohltuend. Der Psychiater lässt die Kirche im Dorf und droht nicht gleich mit dem Untergang des Abendlandes bzw. mit der totalen Verblödung durch Smartphone & Co.
Der Autor kommt sozusagen von der anderen Seite: Er definiert erstrebenswerte Ziele und zeigt – realistische – Wege zu deren Erreichung auf.
BUSCH führt keinen Kulturkampf gegen die Digitaltechnik, sondern er lädt ein zu einer systematischen Pflege unseres Gehirns, seiner Funktionen, Kapazitäten und Ressourcen.
Sehr sympathisch ist es auch, dass der Autor keineswegs auf der Selbstoptimierungs-Welle surft, sondern ganz “normale” Dinge auf seiner Agenda hat: Es geht um so (scheinbar) banale Dinge wie Aufmerksamkeit, Konzentration und Kreativität.

BUSCH möchte, dass wir die Kontrolle zurückgewinnen – insbesondere über unsere Aufmerksamkeit (“unser wertvollstes Gut”). Sein Buch möchte zwar auch Wissen (über die Arbeitsweise unseres Gehirns) vermitteln, im Vordergrund steht aber eine möglichst große Autonomie. Wir sollen selbst bestimmen können, was mit den (begrenzten) Ressourcen unserer Geisteskräfte passiert. Und das ist natürlich deshalb wichtiger als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte, weil eine ganze (digitale) Industrie darauf aus ist, unsere Aufmerksamkeit systematisch zu besetzen.

Die Vorschlage von BUSCH sind alle nicht spektakulär: Es geht um Selbst-Management, um Pausen, um Aus- und Entspannungszeiten (“tiefe Stunden”). Aber der Autor hat eine gut Strategie: Er bezieht sich auf einschlägige Untersuchungen, schlägt realistische Alltagsstrategien vor und hat Verständnis für Ambivalenzen und Disziplinschwächen.

Insgesamt legt BUSCH einen seriösen und pragmatischen Ratgeber vor, der allen Menschen nützen könnte, die sich – ob beruflich oder privat – häufiger in den Untiefen der digitalen Informationsflut verlieren. Voraussetzung ist: Man will nicht höher, schneller, weiter – sondern intensiver, ausgewählter, kritischer.
Auch BUSCH will letztlich die digitale Flut begrenzen – aber er bietet dafür eine verlockende Alternative!

Die ersten Tage

In erster Linie dient mein politischer Blog wohl als eine Art Tagebuch. Die paar Menschen, die meine Gedanken lesen, sind dabei eine – sehr willkommene und sehr geschätzte – Zugabe. Jedenfalls ist mir gerade klargeworden, dass es Zeit wird, etwas zur neuen Regierung zu schreiben – sonst würde im Rückblick wirklich etwas fehlen.

Ich war sehr angerührt von der Atmosphäre am Tag der Kanzlerwahl und der Minister-Vereidigung. Einmal, weil ich dankbar dafür war, in einem Land leben zu dürfen, in dem ein “Machtwechsel” so gesittet, zivilisiert und geradezu harmonisch ablaufen kann. Wir haben funktionierende Institutionen, es gibt einen demokratischen Grundkonsens (mit einer ärgerlichen Ausnahme) und eine zweifelsfreie Akzeptanz der verfassungsmäßigen Spielregeln. Dass diese an einem solchen Tag auch etwas Steifes, Formelles beinhalten, hat mich nicht gestört. Es darf auch mal pathetisch sein.

Noch wichtiger war aber ein anderer Aspekt: In diesen (vielen) Stunden meiner medialen Begleitung (ich bin mir des Zeit-Privilegs bewusst) habe ich unfassbar viele Szenen beobachten können, in denen sich sympathisch und freundlich wirkende Menschen auf eine herzliche, offene und zugewandte Art begegnet sind. Das waren alles Potitiker/innen, viele davon erstaunlich jung, sehr viele davon weiblichen Geschlechts. Das waren ganz überwiegend Menschen, die ich mir problemlos in meinem privaten Umfeld vorstellen könnte.
Ist es nicht ein tolles Gefühl, von solchen Menschen “regiert” zu werden – die so gar nicht in das Schema von “denen da oben” passen, die so gar nicht eine “abgeschottete Welt für sich” repräsentieren?! Für mich sind das (überwiegend) Menschen guten Willens – und keine abgezockten Macht-Zyniker.

Ich habe mir die Frage gestellt, ob ich mich schon einmal in den letzten (politisch bewussten) 50 Jahren so gut repräsentiert gefühlt habe, mich so weitgehend identifizieren konnte? Nur zwei vergleichbare Momente fielen mir ein: Das “Willy wählen” von 1972 und den Regierungsbeginn von Rot/Grün im Jahre 1998.

Komischer Weise fühle ich mich aktuell tatsächlich eher von etwas und deutlich jüngeren Parlamentariern und Funktionsträgern vertreten. Es freut mich, diese noch weitgehend unverbrauchten Gesichter zu sehen. Ich habe das Gefühl, dass Politik in diesem Moment wirklich (endlich wieder) etwas mit Zukunft zu tun hat. Das stimmt mich optimistisch. Ja, ich spüre sogar etwas wie Stolz auf unser Land.

Es erscheint fast unwirklich, mit welcher atemberaubenden Geschwindigkeit sich einige dieser neuen Minister/innen in ihre Rollen und Funktionen gestürzt haben.
Es erscheint geradezu surreal, dass Annalena Baerbock seit drei Tagen wie selbstverständlich als Außenministerin agiert. Man wundert sich, dass man sich gar nicht die Augen reibt…

Keine Sorge: Ich bin nicht naiv geworden und werde auch ab jetzt keine Schönfärberei betreiben. Natürlich ist nicht alles gut; natürlich sind nicht alle Interessensgegensätze verschwunden.
Aber: Ein Großteil der Welt beneidet uns sicherlich im Moment für diesen Regierungsstart. Es ist gut zu wissen, dass wir ein Teil der Stabilität in dieser von Problemen und Herausforderungen durchgeschüttelten Welt sein können.

Lasst uns alle die Daumen drücken und vielleicht mit dazu betragen, dass nicht gleich alle Hoffnungen und jede Aufbruchstimmung zerredet und vermiest wird – von den Dauer-Nörglern und Zuspitzern.

Und ja: Annalena ist nicht mit dem Fahrrad nach Paris, Brüssel und Polen gefahren. Eine Außenministerin muss nicht wie eine Greta handeln. Auch ihr wünsche ich viel Erfolg!

“Schluss mit der Meinungsfreiheit” von Florian SCHRÖDER

Bewertung: 3.5 von 5.

SCHROEDER ist der Schnelldenker und Schnellsprecher unter den Kabarettisten. Die volle Dröhnung liefert deshalb das von ihm eingesprochene Hörbuch.

Es handelt sich hier nicht um ein Buch, das “mal eben” ein hippes Thema abgrast, um den “schnellen Euro” zu machen. Normal gelesen würden die ca. 370 Seiten nicht neun, sondern eher 13 Stunden in Anspruch nehmen.
Der Autor legt eine umfassende und brandaktuelle Analyse vor, in dem alle denkbaren Facetten des Themas ausgeleuchtet werden – einschließlich der Meinungsfreiheit in Wissenschaft und Kunst. Nicht überraschend ist, dass der Schwerpunkt bei Medien und im Internet liegt und dass Querdenker und Verschwörungstheorien ihren Raum bekommen.

Als eine Art Rahmenhandlung dient die Aktion von SCHROEDER auf einer Querdenker-Demo: Er hatte sich zuvor eine passende Identitätswandlung erarbeitet und war auf dieser Basis als vermeintlicher “Freund” eingeladen worden – um sich dann dort (als eine Art Trojanisches Pferd) als Mahner der Vernunft zu outen. Es bleibt nicht verborgen, dass SCHROEDER ziemlich stolz auf diesen Coup ist.

Das Buch appelliert an Vernunft, Toleranz und Maßhalten. Exemplarisch für die aktuellen Überreaktionen werden zwei Figuren eingeführt, die sich gegenseitig in ihrer Aufgeregtheit in die Extreme drängen: Die hypersensible “Helen” ist permanent auf der Suche nach “Inkorrektheiten” in Sprache oder Verhalten; ihr moralischer Zeigefinger ist permanent erigiert und ihre Anklage ist unerbittlich und kompromisslos; das Urteil lautet fast immer “Ausschluss” von Meinung und Person. “Hans-Peter” steht auf der Gegenseite und nimmt seinerseits dankbar-erregt jede kritische Anmerkung und jede gesellschaftliche Entwicklung als untrügbares Zeichen für Meinungszensur und Gesinnungsterror.
Schröder selbst sucht sich einen Platz in der Mitte, von dem aus er beide Überdrehtheiten genussvoll sezieren kann.

Ohne Zweifel: SCHROEDER hört sich gerne formulieren! Er scheint geradezu verliebt in seinen ausgesucht intellektuell-ironischen Stil zu sein. Seine Zielgruppe ist das akademisch-aufgeklärte und sprachgewandte Milieu. Wer so ein Buch liest (oder hört) ist sowieso schon weit weg von den Populisten und Pauschalisten. Wer ihn auf der Bühne (oder im Hörbuch) genießen will, muss schon ein deutlich erhöhtes kognitives Verarbeitungstempo aufbringen.

Der Autor ist klug und ein aufmerksamer Beobachter unserer aufgeregten Zeit. In vielen Analysen und Schlussfolgerungen mag man ihm gerne zustimmen. Ein gewisses Problem ergibt sich dadurch, dass SCHROEDER auch ein meinungsstarker Mensch ist. Und dazu kommt: So ganz sauber werden Beobachtungen und Meinungen nicht auseinandergehalten!
Es zeigt sich da ein Widerspruch: SCHROEDER appelliert zwar auf der Meta-Ebene an sein Publikum, sich mit Statements aller Art kritisch und abwägend auseinanderzusetzen, Fakten und Quellen sorgsam zu prüfen und sich von Einseitigkeiten nicht bedrängen zu lassen. Doch stellt er wenige Sätze später seine persönlichen Überzeugungen mit dem Tenor der selbstverständlichen Gültigkeit dar. Eh man sich versieht, hat man plötzliche eine Meinung abgenickt – weil doch alles vorher so logisch und vernünftig klang…
So muss z.B. nicht jede/r seine Überzeugung teilen, dass immer Vorsicht geboten ist, wenn moralische Argumente in eine Diskussion eingebracht werden (warum sollte man beim Klimaschutz nicht auch moralisch sein dürfen?). Auch bei seinem Entsetzen bzgl. der ursprünglich weniger auf Datenschutz getrimmten Corona-App kann man mit guten Gründen ganz anderer Meinung sein (eine “schärfere” App hätte uns sehr wahrscheinlich zig Milliarden und den ein oder anderen Lockdown erspart).

Das Buch ist intelligent, informativ, aktuell und unterhaltsam. Es liefert extrem viele Denkanstöße, auf deren Basis man das momentane gesellschaftliche Treiben klarer sehen und dessen Thesen man tagelang diskutieren könnte. Die Thematik der “Meinungsfreiheit” wird umfassend beleuchtet – in einer lockeren, aber niveauvollen Weise.
Einschränkend wäre der selbstverliebte und selbstgewisse Stil zu erwähnen – der Autor vermag seine “Bühnen-Persönlichkeit” nicht zu verstecken. Bei einer Empfindlichkeit in diesem Bereich würde vermutlich der gedruckte Text eher akzeptabel sein, weil er sicher mehr kritische Distanz ermöglich als der in schwindelerregendem Tempo dahinrasene Sprachfluss.

“Die Wurzeln des Lebens” – von Richard POWERS

Bewertung: 5 von 5.

Einer der ganz großen amerikanischen Erzähler hat ein Buch geschrieben, dessen Figuren, Inhalte und Botschaften sich um das Thema “Bäume” rankt.
600 Seiten über Bäume? Kann das gutgehen?
Ob und warum das gelingen konnte, will ich im Folgenden darstellen.

Das Buch startet mit einer Serien von (scheinbar abgeschlossenen) Kurzgeschichten: In acht Kapiteln werden neun Personen vorgestellt, deren Leben und Schaffen irgendeinen Bezug zum Thema (Bäume) haben. Diese kurzen Erzählungen verbreiten schon so viel Atmosphäre, dass bei mir einen Moment das Gefühl entstand, es könne einfach so weitergehen: Wenn dieses Buch nur weiter aus solchen dichten und anregenden Szenarien bestehen würde, wäre ich vollauf zufrieden. Nach einer kurzen Vergewisserung war dann klar: Die “Wurzeln” (so ist der erste Teil des Buches benannt) würde zu einem “Stamm” führen, der die Personen zusammenführt, bevor sie sich dann in einer “Krone” verästeln und sich in unterschiedlichen Formen von “Samen” weiterverbreiten.
Das ist schonmal eine geniale Idee: einem Buch über Bäume die Struktur eines Baums geben – so verwachsen Inhalt und Metapher zu einem literarischen Organismus.

Von den geschilderten – ganz verschiedenen – Ausgangslagen aus entwickeln sich alle Protagonisten zu Umwelt-Aktivisten, klar auf das Ziel zentriert, der Vernichtung der Wälder irgendwie Einhalt zu gebieten. Die Wege und Methoden wandeln sich, sie werden zunehmend radikaler.
Warum das so unvermeidlich erscheint und welche dramatischen Folgen das hat, das ist der menschliche Handlungszweig dieses Romans. Das ist ergreifend, emotional, spannend und tiefgründig.

Aber – man kann es nicht anders sagen – die Hauptperson dieser mächtigen Erzählung ist der Baum! Der Baum als Gattung, der Baum als Symbol für die (nicht-menschliche) Natur, der Baum in seiner unendlichen Arten- und Formvielfalt, der Baum als Teil des unfassbar komplexen Systems “Wald”, der Baum als wesentliches Element einer – noch in weiten Teilen unverstandenen – Biosphäre, der Baum als lebendige Spur der Geschichte von Jahrhunderten, der Baum als Zeuge für einen unfassbaren und extrem selbstzerstörerischen Feldzug des Menschen gegen seine natürlichen Lebensgrundlagen.

Nach der Lektüre dieses Romans wird es wohl nahezu allen Leser/innen völlig ausgeschlossen erscheinen, dass irgendjemand in einer vergleichbaren Intensität, Vielschichtigkeit, Sprachgewalt und mit einer solchen unglaublichen Faktenfülle über Bäume schreiben könnte – ihr Aussehen, ihren Stoffwechsel, ihr Eingebundensein, ihre Kommunikationskanäle, ihren Nutzen, ihre Ästhetik, ihre Ausstrahlung, ihre emotionale Wirkung auf Menschen, …
POWERS gelingt dabei geradezu perfekt eine kniffelige Gradwanderung: Er will in seinem ganzheitlichen Ansatz den Baum gleichzeitig mit aller naturwissenschaftlicher Akribie und mit poetischer, geradezu lyrischer Sensibilität erfassen. Methodisch löst er dies auf eine elegante Art, indem seine neun Hauptfiguren unterschiedliche Facetten der “Baum/Mensch-Beziehung” leben – alle auf ihre Art hingebungsvoll.

Natürlich hat POWERS dieses Buch als Appell an die Menschheit geschrieben: “Haltet diesen Wahnsinn der Naturzerstörung auf!” Das Buch bietet unzählig viele Gründe und Argumente für die Notwendigkeit einer radikalen Umkehr.
Doch der Autor ist kein naiver Gutmensch: Sein Roman beschreibt auch, welche Gefahren lauern können, wenn man sich dem Kampf gegen die mächtigen Gegner vorbehaltlos hingibt. Die offene Frage am Ende des Buches hat damit zu tun, wie viel man als einzelner Mensch beitragen kann und ob der Preis auch zu groß sein kann.

POWERS bietet ein ergreifendes, intensives, bewegendes Leseerlebnis. Wenn man sich auf diese Reise einlässt, hat man danach einen anderen Blick auf die Welt, ein anderes Gefühl zur Welt – das geht gar nicht anders!
Wie klein wir doch sind – angesichts der Baumriesen! Wie kurz doch unser Leben ist – angesichts der Lebensspanne vieler Bäume! Wie egoistisch und kurzsichtig wir doch sind – angesichts der komplexen Einbettung der Bäume in den Naturkreislauf! Wie anmaßend und ignorant wir doch sind – angesichts unserer Abhängigkeit von der Biosphäre!
Dieses Buch vermittelt Demut und Ehrfurcht – ohne auf den Holzweg der esoterischen Beliebigkeit zu verfallen. Es verschafft einen wunderschönen und verstörenden Anlass zum Innehalten.
Ein literarisches Juwel!

Es ist erst ein paar Tage her, dass ich das aktuelle Buch von POWERS zu meinem Buch des Jahres erklärt habe. Dabei bleibe ich hinsichtlich des Erscheinungsdatums.
Für mich aus Leserperspektive stehen im Jahre 2021 jetzt zwei POWERS-Bücher auf dem Siegertreppchen ganz oben.