“Bevor es zu spät ist” von Karl LAUTERBACH

Bewertung: 4.5 von 5.

Dieses Buch ist in verschiedenerlei Hinsicht eine echte Überraschung. Im Vordergrund steht dabei sein inhaltlicher Schwerpunkt: Wer würde denn ernsthaft erwarten, dass der bekannteste (und wohl auch umstrittenste) Gesundheitspolitiker des Landes nach drei Jahren Pandemie ein ziemlich reinrassiges Klimabuch schreibt?!
Das lässt aufhorchen!

Zwar betrifft das Meta-Thema von LAUTERBACHs Betrachtungen die Bedeutung wissenschaftlicher Expertise für die zukünftige Politik. Betrachtet man aber die tatsächliche Aufteilung des Textes, findet man sich plötzlich in einer recht systematischen Darstellung des Klimawandels – mitsamt seiner Entstehungsgeschichte, seiner aktuellen Ausprägung, seiner konkret drohenden Konsequenzen (u.a. in Bezug auf Verteilungskämpfe, Klima-Migration und Wassermangel) – bis zu den möglichen bzw. notwendigen Gegenmaßnahmen (die wiederum sehr differenziert dargestellt und bewertet werden).

Und da wartet die zweite Überraschung: Diese zusammenfassende Darstellung der Klimakrise ist außerordentlich gut gelungen. Sie wäre geeignet, auch Neueinsteigern in die Thematik (falls es die noch gibt) die grundlegenden Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen – ohne mit einem Wust von Tabellen oder Schaubildern zu verschrecken. Gleichzeitig kann diese Form der Aufarbeitung auch für diejenigen nützlich sein, die schon das ein oder andere Klimabuch gelesen haben – aber vielleicht in bestimmten Teilsaspekten den Überblick verloren haben. Als Argumentationsgrundlage für die Überzeugungsarbeit mit Uninformierten oder Zweiflern kann die hier vorgelegte schlanke Klarheit und Folgerichtigkeit ganz sicher gute Dienste leisten.

Doch soll ja das Thema “Klima” eigentlich nur als Beispiel dienen für die Notwendigkeit, den großen Menschheitsproblemen mit einem größeren Einfluss von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf die Politik zu begegnen.
Gekonnt nutzt LAUTERBACH seine reichlich vorhandene Innenperspektive aus, um die Hindernisse und Widerstände zu beschreiben, die dem Einfließen empirischer Befunde in politisches Handeln entgegenstehen. Dabei verliert er sich nicht in einer radikalen Systemkritik (nach dem Motto: “die parlamentarische Demokratie ist den Herausforderungen nicht gewachsen”), sondern zeigt einiges – wenn auch leicht ungeduldiges – Verständnis für die oft schwerfälligen und mühsamen Abläufe auf dem Weg zu mehrheitsfähigen Kompromissen.
Doch mit vorbildlicher Klarheit zieht LAUTERBACH eine Grenze zwischen den “normalen” gesellschaftlichen Themen und dem Klimawandel: Hier müsse die Politik sehr viel schneller und konsequenter handeln – und zwar ab sofort und mit aller Kraft auf der Basis der Wissenschaft.

Nachdem der Autor verschiedene Varianten durchgespielt hat, plädiert er leidenschaftlich für einen spezifischen Ansatz der Verankerung von Wissenschaft in der Politik: Es ist – sicher nicht ganz zufällig – sein eigener Weg, nämlich die unmittelbare Beteiligung der Wissenschaftler/innen am politischen Entscheidungsprozess, also als Mandatsträger in den Parlamenten.

Ja, die Corona-Pandemie wird dann schließlich doch noch zum Thema gemacht. LAUTERBACH bilanziert die verschiedenen Phasen der Entwicklung und Bekämpfung dieser weltweiten Herausforderung. Für den Autor ist folgerichtig, dass Deutschland im Umgang mit Covid solange ziemlich erfolgreich gewesen sei, wie es einen engen Schulterschluss zwischen Wissenschaft und Politik gegeben habe; dieser sei aber leider in einer späteren Phase verloren gegangen.
LAUTERBACH warnt sehr eindringlich vor zukünftig drohenden pandemischen Heimsuchungen und stellt dabei – was die ganze Argumentation abrundet – besonders die Rolle der klimatischen Einflüsse auf die Einschränkung der Lebensräume für Tier und Mensch dar.

Der Mehrwert dieses Buches liegt vor allem an der besonderen Perspektive: Hier schreibt ein Wissenschaftler, der sich entschieden hat, sich ganz der (mühsamen und oft undankbaren) politische Umsetzung empirischer Erkenntnisse zu widmen. Die Übernahme der Verantwortung im Gesundheitsbereich in Zeiten von Corona hat ihn zu einer Zielscheibe für Häme und Hass gemacht.
Wie dieses Buch deutlich macht, bräuchten wir mehr Menschen mit dieser Doppel-Kompetenz (idealer Weise sollten sie auch noch begabte Kommunikatoren sein…).

Dass ein Gesundheitspolitiker ein solch engagiertes Klimabuch schreibt, kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass wissenschaftliches Denken eine Grundhaltung darstellt, die einen Transfer auf ganz verschiedene Bereiche ermöglicht.
Eine gewisse Tragik liegt vielleicht darin, dass die aufgeladene “Anti-Lauterbach-Stimmung” der Verbreitung dieses Buches bestimmte Grenzen setzen könnte.
Auf alle, die sich dadurch nicht beeinträchtigen lassen, wartet eine sehr informative und anregende Lektüre.
Es wäre allerdings sicher angemessen gewesen, den thematischen Schwerpunkt (Klima) auch schon auf dem (vorderen) Buch-Cover zu nennen.

(Lust auf andere Sachbücher? Hier meine Übersicht.)

“Zur See” von Dörte HANSEN

Bewertung: 5 von 5.

Manchmal entscheidet sich auf den ersten Seiten eines Romans, ob man sich durch die Sprache oder Erzählweise angesprochen fühlt. In diesem Fall wurde ich geradezu angesprungen durch ein ganzes Feuerwerk ungewohnter Formulierungen, die mir sofort signalisierten, dass ich da gerade ein Ausnahme-Buch in der Hand hielt.

Thematisch werden wir von HANSEN eingeladen, uns auf das Leben auf einer Nordseeinsel einzulassen. Der Blick ist scharf auf den Übergang zwischen traditioneller Seefahrt bzw. Fischerei und modernem Tourismus zentriert. Sichtbar und erzählbar wird dieser Epochen- und Kulturwandel am Beispiel einer alteingesessenen Familie, deren Mitglieder bestimmte Rollenmuster in sehr pointierter Ausprägung darstellen.
Um dieses Zentrum herum agieren eine Handvoll weiterer Protagonisten, die ebenfalls – auf jeweils spezifische Weise – in die Zeitenwende verwickelt sind.

Die Figuren sind letztlich alles echte “Originale”, was der Autorin natürlich entsprechend viel erzählerischen Stoff liefert. Die Sonderbarkeiten dieser – durch das raue Klima und das naturnahe Leben geprägte – Insulaner macht es HANSEN recht leicht, ihre offensichtliche Leidenschaft für sehr individuelle Sprach-Schöpfungen hemmungslos auszuleben. Es gelingt ihr dabei, die Charaktere der Figuren und die Lust an ausgefallenen Sprachbildern zu einer geradezu perfekten Einheit zu verschmelzen.
Letztlich gewinnt man den Eindruck, dass man die Eigenarten dieses Menschenschlages entweder so oder gar nicht einfangen könnte.

Geschickt nutzt HANSEN den Kontrast, der sich zwischen den wettergegerbten Naturmenschen und den Touris bzw. wohlhabenden Neuansiedlern ergibt. Die Beobachtungen, wie sich das Insel-Leben im Takt mit den Saison-Wechseln verändert (bis in die Kinderzimmer hinein), gehören zu den amüsantesten Stellen.

Eine ganze Reihe von menschlichen bzw. beziehungsmäßigen Grundkonflikten finden in dem Roman ihren Platz: Die Suche nach Bindung und Liebe durchzieht letztlich ja alle Bereiche der Gesellschaft. Es ist sicher Geschmackssache, ob die zur Illustration benutzten Figuren so extrem konturiert werden müssen, wie dies HANSEN in ihrer Milieustudie mit großer Hingabe macht.
Was sie erreicht ist mit Sicherheit ein großes Lesevergnügen – auf der Basis eines Eintauchens in eine eher unbekannte Welt (die sicher nicht immer so skurril war, wie in dieser speziellen Ausgestaltung).

“Das Unrecht” von Ellen SANDBERG

Bewertung: 3.5 von 5.

Dieser (Kriminal-)Roman enthält einige Zutaten, aus denen sich eine wirklich interessante Geschichte hätte entwickeln können: Ausgangspunkt ist ein düsteres Kapitel in der DDR-Vergangenheit, das dramatische Folgen für den weiteren Lebensweg der Protagonisten dieses Romans hatte – und in der Gegenwart plötzlich noch einmal aktualisiert wird. Diese Hypothek manifestiert sich in der kurz vor der Silberhochzeit stehenden Ehe zwischen Annett und Volker, die sich als Heranwachsende zu DDR-Zeiten schon kannten.
Auf der Gegenwarts-Zeitschiene begleiten wir Annett bei der schrittweisen Aufdeckung der damaligen Ereignisse und Zusammenhänge und erleben die sich daraus ergebenden Erschütterungen ihres gesamten Lebenskonzeptes.

Die eigentliche Thematik des Romans ist die Darstellung der psychologischen Dynamik, die in Annett bei diesem Prozess entsteht. Damit ist die entscheidende Frage hinsichtlich der
Qualität dieses Romans, wie glaubwürdig und nachvollziehbar diese hochambivalente innere Reise geschildert wird.
Mein Urteil: Das ist nur bedingt gelungen.
Dem Lesenden selbst wird kaum ein Spannungsbogen vermittelt, weil die Hinweise auf die wahren Zusammenhänge schon sehr früh sehr eindeutig sind. So ist man dazu verurteilt, der Protagonistin bei ihrer inneren Achterbahnfahrt zwischen Erkenntnis und Verleugnung zuzuschauen. Das ist eine gewisse Weile auch durchaus unterhaltsam, erreicht aber irgendwann den Punkt von Ungeduld und Unverständnis: Man hält es kaum noch für möglich und mag es kaum noch aushalten.

Nun mag man natürlich einwenden, dass bei der Schilderung von Einzelschicksalen durchaus auch eher unwahrscheinliche Verläufe ihre Berechtigung haben. Jede/r Leser/in hat eine eigene Schwelle, ab der bestimmte Reaktionen als unvereinbar mit dem eigenen psychologischen Verständnis erlebt werden – und daran auch die Identifikation mit einer Geschichte (bzw. mit einer Hauptfigur) leidet. Vielleicht kann man es sogar als genussvoll erleben, wenn man jemanden dabei zuschauen kann, wie er/sie den “Wald vor lauter Bäumen” nicht sehen kann.

Außerhalb der Beziehungsdynamik des Ehepaares hat dieser Roman durchaus einen interessanten zeitgeschichtlichen Hintergrund zu bieten. Wer weniger empfindlich bzgl. der psychologischen Stimmigkeit ist, kann sich durch Ellen SANDBERG durchaus anregend unterhalten lassen. Ein paar kurze Thriller-Elemente sind auch dabei; die Suche danach sollte aber nicht die Hauptmotivation für dieses Buch sein.

“Psychologie für den Schulalltag” von Gustav KELLER

Bewertung: 3.5 von 5.

Vorweg sei angemerkt, dass diese Rezension aus Sicht eines Psychologen geschrieben wurde – und nicht aus der Zielgruppen-Perspektive. KELLER will mit seinem handlichen Büchlein nämlich die Lehrkräfte selbst psychologisch aufrüsten – ihnen also schulpsychologisches Wissen zukommen lassen (nach dem Motto: “der KELLER in der Tasche erspart den Anruf beim Schulpsychologischen Dienst”).
Was er in welcher Form vermittelt, ist aber sicher auch für schulpsychogische Fachkräfte ganz interessant: Hier wird ja auch ihr eigenes Zuständigkeits- und Kompetenzfeld beschrieben – und vor allem auch das breite Spektrum an Erwartungen an die Psychologie als Unterstützungsinstanz im Schulalltag.

Im ersten und größten Teil des Buches geht es – sortiert nach klassischen Problemfeldern – um unmittelbare Interventionen auf Belastungen bzw. Störquellen, die sich im Sozial- oder Lernverhalten von Schülern (Schülerinnen sind auch immer gemeint) zeigen. Auf jeweils ca. vier Seiten geht um 16 Probleme wie Ängste, Gewalt, Schuleschwänzen und Suizidalität.
KELLERs Methode ist die Strukturierung: In seinen zahlreichen Aufzählungen findet man so ziemlich alle relevanten Aspekte der jeweiligen Problematik wieder: Art und Häufigkeit des Auftretens, mögliche Ursachen, mögliche Maßnahmen (auf den Ebenen Schüler, Lehrer, Klasse, Eltern, System Schule).
Das hilft sehr dabei, alles im Blick zu haben und nichts zu übersehen. Sicher lassen sich in vielen Situationen auch erste Klärungs- und Handlungsschritte ableiten. Aber leider können solche (wunderbar systematischen) Listen von Ursachen und Lösungsansätzen auch eine gewisse Ratlosigkeit hinterlassen: “Wie kriege ich denn jetzt heraus, welche spezielle Kombination von Verursachungs-Faktoren in meinem Fall zusammenspielen? Und welche Interventionen sind denn unter meinen konkreten Bedingungen möglich, gewünscht, erfolgversprechend und erlaubt?”

Im 2. Kapitel wendet sich KELLER den pädagogischen Möglichkeiten zu, Lern- und Sozialverhalten grundsätzlich zu fördern (er nennt das elegant “Primäre Prävention”).
Hier werden (auf knapp 30 Seiten) praxisbezogene und sehr heterogene Anregungen gegeben: von der Lernkartei bis zum Streitschlichter-Programm.
Auch das geht letztlich über eine (sicherlich nützliche) Übersicht nicht hinaus.

Im folgende Kapitel steht die Methodik von Gesprächsführung und Beratung im Zentrum (der “pädagogisch-psychologische Werkzeugkasten”).
Spätestens hier gerät der Ansatz von KELLER (“Kompetenzerweiterung durch Überblick und Anregungen” – meine Formulierung) endgültig an seine Grenzen: Natürlich kann man 20 Tipps für gute Gesprächsführung auflisten – aber der Hinweis darauf, dass einige der Zielsetzungen vielleicht doch ein gewisses Training erfordern könnten, dürfte eigentlich an dieser Stelle nicht fehlen.

Nachdem auf wenigen Seiten die wichtigsten psychosozialen Dienste genannt werden (so oberflächlich, dass man es sich vielleicht auch hätte sparen können), geht es im Abschlusskapitel um die Selbstfürsorge (Psychohygiene) der Lehrkräfte selbst: man solle seine Grenzen im Auge behalten, Stress erkennen und (durch Entspannungsmethoden) abbauen, sich Unterstützung holen.

Nun kann man einem schmalen Büchlein nicht vorwerfen, die meisten Themen nur anzureißen. Deshalb solle es hier nur um ein paar inhaltliche Schwächen gehen:
– In einem so stark von gesellschaftlichen und juristischen Veränderungen bestimmten Feld wie Schule wäre eine regelmäßige Aktualisierung eines solchen breit angelegten Überblickswerkes notwendig und auch zu erwarten. In dem 2011 erschienenen Buch spiegeln sich weder die konkreten Verantwortlichkeiten beim Thema “Kindeswohlgefährdung” noch die Auswirkungen von Migration, Pandemie, Klimabedrohung und Social Media wieder.
– In weiten Bereichen vermittelt der Autor den Eindruck, dass es für jedes Problem die “passende” (und auch funktionierende) Antwort gäbe: “Man nehme die richtigen Zutaten und wende sie an – und alles wird gut!” Im richtigen Leben haben es Lehrkräfte aber eben meist nicht mit motivierten, gutwilligen, veränderungsfähigen und kompetenten Akteuren zu tun. Die meisten Eltern warten nicht dankbar darauf, dass man sie auf ihre “Erziehungsfehler” aufmerksam macht; die meisten Lehrerteams arbeiten an der Belastungsgrenze; viele Schulleitungen ersticken in bürokratischen Anforderungen; die meisten psychosozialen Institutionen (auch die nicht erwähnten psychotherapeutischen Praxen) verwalten eher eine chronische Mangelsituation (als dass sie sich voller Eifer auf die nächste Kontaktaufnahme freuen).
– Vernetztes Arbeiten (mit Jugendämtern und Beratungsdiensten) ist nicht immer ein Quell der Freude; hier warten auch Missverständnisse, Verantwortungsdiffusion und Konflikte um Zuständigkeiten.

Natürlich kann man von einer Einführung in die fachlichen Angebote der Schulpsychologie nicht erwarten, all diese Fragen zu thematisieren (oder gar zu klären).
Es könnte nur sein, dass KELLER insgesamt doch eine etwas zu geordnete und heile Schul-Welt vermittelt, die mit dem Erleben von Lehrkräften in akuter Bedrängnis nicht sehr gut übereinstimmt. Das im Auge zu haben, hätte dem Buch sicher sehr gut getan.
Auch fehlen ein paar Hinweise darauf, wo die Abgrenzungen zwischen eigenständigen Maßnahmen und der Einbeziehung anderer Dienste liegen sollten – nicht zuletzt auch aus juristischer Perspektive.

Vielleicht profitieren ja tatsächlich eher die PsychologInnen selbst (insbesondere Berufseinsteiger/innen) von diesem Buch: Sie finden dort jede Menge Checklisten für den Arbeitsalltag. Und sie müssen ganz sicher nicht befürchten, dass sie durch Lehrkräfte überflüssig werden, die dieses Buch schon selbst gelesen haben.

“Brain Talk” von Dr. David SCHNARCH

Bewertung: 4 von 5.

Wir haben es hier mit einem Sach-/Fachbuch zu tun, das auf verschiedenen Ebenen sowohl bemerkenswert, als auch herausfordernd ist.
Das fängt schon bei der Zuordnung zu einem Genre an: Der international bekannte Paar- und Sexualtherapeut SCHNARCH verfasst nämlich zwei parallele Bücher unter einem Buchdeckel.
Für interessierte Laien – insbesondere für Betroffene – legt er im Hauptteil ein Selbsthilfe-Text vor, der ein in sich geschlossenes Erklärungs- und Lösungssystem beinhaltet und dabei weitgehend ohne Bezug auf wissenschaftliche Befunde bzw. andere Theorien auskommt. Das wirkt insgesamt übersichtlich und – fast ein wenig zu – einfach.
Zu diesen Kapiteln werden dann im hinteren Teil des Buches jeweils zugeordnete “Anhänge” angeboten, die sich fast durchweg als selbständig lesbare Texte erweisen und hinsichtlich ihrer Unterfütterung durch empirische Befunde und ihrem Bezug zu benachbarten Ansätzen eindeutig wissenschaftlichen Fachbuchcharakter haben. Hier ist die Welt auch einmal ziemlich komplex…

Das Thema “Mindmapping” ist in diesem Buch so zentral (und der Begriff taucht so unglaublich oft auf), dass man sich wirklich nur wundern kann, dass das Buch einen anderen Titel hat (von “Brain-Talk” ist seltsamer Weise innen kaum die Rede).
Die zentrale Botschaft des Autors zum Mindmapping lautet etwa so:
Die Fähigkeit, sich in die Gedanken (den Geist) anderer Menschen hineinzuversetzen (den “Mind” des Gegenübers zu “mappen”) sei eine zentrale menschliche Fähigkeit, die schon Kinder (ab dem 4. Lj) ausbilden würden. Gleichzeitig erwürben wir alle auch eine gewisse Übung darin, uns geben eine solche “Ausspähung” zu schützen (wir “masken” unseren “Mind” = “Mindmasking”). Das alles funktioniere im normalen Alltag eigentlich recht gut und schaffe die Grundlage für ein soziales Miteinander, in dem wir uns mit unterschiedlichem Geschick gegenseitig in die geistigen Karten gucken (und so zum Beispiel die Motive und Ziele des anderen nachzuvollziehen) bzw. uns bei Bedarf auch dagegen wehren könnten (z.B. für eine Notlüge oder um ein Geheimnis zu bewahren).
Werden uns durch andere schlimme (bedrohliche, schädigende, gefährliche, gemeine, ekelhafte) Dinge zugefügt, werde unsere Mindmapping-Fähigkeit gestört (eingeschränkt): Wir fühlen uns verwirrt, überfordert, können nicht mehr klar denken, verstehen die Welt nicht mehr. Passierten solche Dinge häufiger, entstünde eine chronische Einschränkung kognitiver Fähigkeiten.
Für das sog. “Traumatische Mindmapping” sei vor allem Dingen typisch, dass man sich als Opfer nicht vorstellen könne, dass der Täter seine Handlungen vollziehe, obwohl er sich (per Mindmapping) in sein Opfer hineinversetzen könne. Daher “weigere” sich das Opfer-Gehirn geradezu, diese Möglichkeit (“der weiß genau, was er tut und macht es genau deshalb”) in Betracht zu ziehen und erfinde eine – den Täter entlastende – Alternativinterpretation (oder höre ganz auf zu denken).
Auf diesem Hintergrund sei es folgerichtig, dass ein wichtiger Teil der Therapie darin bestehe, durch (wiederholtes) Nacherleben der traumatisierenden Situation das korrekte Mindmapping nachzuholen: also dem Täter nachträglich die richtigen (letztlich “bösartigen”) Motive zuzuschreiben (weil er durchaus in der Lage war, das Opfer korrekt mindzumappen).
Diesem Prozess der individuellen Neuverarbeitung (einschließlich dem Auffüllen von Gedächtnislücken) müsse dann eine Konfrontation mit dem Täter folgen – mit dem Ziel, dass auch dieser die Verantwortung für sein früheres Verhalten übernehme.

Das alles mag in dieser Verkürzung ein wenig skurril klingen. Ein Großteil des Buches ist aber tatsächlich damit befasst, die skizzierten Zusammenhänge zu erklären und zu belegen.
Letztlich macht der Autor selbst eine hilfreiche Einordung: Seine spezifische Trauma-Theorie befasst sich mit Erlebnissen und Belastungen, die (knapp) unterhalb der Schwelle liegen, auf die sich die üblichen Trauma-Diagnosen und Therapien beziehen.

Die Zweiteilung des Buches ist ohne Zweifel ein kreativer Versuch, die gleich Thematik auf zwei unterschiedlichen Ebenen darzustellen. Diese Konstruktion hat allerdings auch ihren Preis: Geht es im Ratgeberteil ein wenig holzschnittartig und scheuklappenmäßig zu (so als stände das Konzept des Autors ganz allein auf weiter Flur), spricht die Differenzierung zwischen den verschiedenen Trauma-Theorien und die Verbindung zwischen Hirnforschungs-Befunden und dem Konzept des Autors tatsächlich nur noch spezialisierte Fachkräfte an; um all das wirklich nachzuvollziehen müsste man sich diesem Buch wirklich sehr gründlich widmen. Der Effekt: Manchmal wünscht man sich als Lesender dann doch lieber die Integration und den Kompromiss zwischen den beiden Dartstellungsformen.
Der sehr selbstüberzeugte Schreibstil des Autors lässt allerdings manchmal den Verdacht aufkommen, dass es SCHNARCH schon reichen würde, wenn FachkollegInnen einfach nur beeindruckt werden durch die Masse der ins Spiel gebrachten Befunde. Auch die meisten Trauma-TherapeutInnen werden kaum in der Lage sein, die jeweiligen Schlussfolgerungen von Hirnscans auf Therapiemethoden nachzuvollziehen.

Doch am meisten wird bei diesem hochinteressanten Buch wohl die Art des Autors irritieren, seine Grundthesen immer und immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen und Formulierungen zu wiederholen. Dieses Phänomen ist in beiden Buchteilen zu beobachten; es gewinnt stellenweise den Charakter einer “Gebetsmühle”. SCHNARCH wirkt dabei wie ein sehr von sich überzeugter Fachmann, der der Welt wirklich eine bahnbrechende und einzigartige Neuigkeit zu verkünden hat. Jedenfalls leidet der Autor ganz sicher nicht unter einem Selbstwertproblem und wirkt schon auch ein wenig selbstverliebt. Zu diesem Eindruck trägt auch bei, dass SCHNARCH seine Standard-Übungen aus der Paartherapie auch für die Thematik dieses Büches für extrem bedeutsam hält. Vielleicht steckten ja in diesem SCHNARCH doch ein paar Guru-Tendenzen…

Nicht ganz auflösen kann der Autor auch den Widerspruch zwischen dem im ersten Teil formulierten Anspruch einer “Selbsthilfe” (“Sie können das auch ohne externe Hilfe mit diesem Buch”) und den dann später sehr differenzierten Hinweisen auf die therapeutische Begleitung solcher Prozesse; hier hätte es einer klareren Abgrenzung bedurft.

Es bleibt der Eindruck eines sehr besonderen, teils faszinierenden, teils auch etwas irritierenden Buches. Es wäre interessant nachzuverfolgen, wie das Buch (auf diesem Hintergrund) in den engeren Fachkreisen aufgenommen wird.