“Lektionen” von Ian McEWAN

Bewertung: 4 von 5.

Man könnte im ersten Viertel dieses 720-Seiten-Werkes (24 Std. als Hörbuch) auf die Idee kommen, diesen Roman zu unterschätzen. McEWAN hetzt seine Leserschaft nicht gerade durch eine Handlung, die sich an der Biografie des Protagonisten (Roland) entlanghangelt.
Der Autor – “zufällig” genauso alt wie die Romanfigur – beschreibt nicht nur sehr detailliert die Lebens- und Beziehungsstationen von Roland, sondern nutzt diesen Roman ausgiebig dazu, eine ganze Reihe von bedeutsamen zeitgeschichtlichen Ereignisse und Stationen einzuweben. Da er uns auch eine familiäre Generation weiter in die Vergangenheit führt, reicht der Bogen von der “Weißen Rose” in den 1940igern bis kurz vor den Ukraine-Krieg.
Da kommt einiges zusammen, das zwar überwiegend aus englischer Perspektive betrachtet und bewertet wird. Aber der deutschen Leserschaft kommt zugute, dass ein Zweig der Familie aus Deutschland stammt und deshalb auch ein beträchtlicher Teil der Geschichte in Deutschland spielt. So spielen dann z.B. die Situation der zwei deutschen Staaten und Maueröffnung in Berlin durchaus eine zentrale Rolle.

In gewisser Weise hat McEWAN also zwei Bücher geschrieben: Eine Lebensgeschichte von ca. 70 und eine Zeitgeschichte von knapp 80 Jahren. Das gibt dem Autor viel Gelegenheit zum Rückblick, zur Aufbereitung und zur Bilanzierung. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich McEWAN in diesem Alterswerk ein literarisches Denkmal setzen wollte.

Die Themen im privaten Teil sind ganz überwiegend Beziehungsthemen: Es geht um einen selbst erlebten sexuellen Missbrauch des Roland (durch eine junge Klavierlehrerin), um eine frühe und intensive erotische Erfahrung (die durchaus sehr freizügig geschildert wird), um eine erste große Liebe, um das Verlassenwerden und das Alleinerziehen eines kleinen Sohnes, um eine späte zweite, tragische Liebe und um das Glück des Eingebundenseins in ein zugewandtes Familiensystem. Es geht gleich in zwei Konstellationen um den Umgang mit Verletzungen und Enttäuschungen, mit dem Ringen um Durchhalten, Aufarbeitung und Verzeihen. Irgendwann geht es dann auch um Krankheit und den verzweifelten Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben.

Neben diesen zentralen zwischenmenschlichen Themen spielt die Musik, das Klavierspielen, eine zentrale Rolle in diesem Roman: Rolands Begabung wird früh entdeckt und gefördert, kann sich dann aber doch nicht voll entfalten – begleitet ihn dann aber doch durch sein ganzes Leben.

Zwischendurch hat der Roman etwas Gemächliches, manchmal Anekdotenhaftes. Manchmal fühlt es sich an wie die ruhigen Erzählungen eines in die Jahre gekommen älteren Herrn. Dann wird auch mal über die englische Parteipolitik geplaudert und sich kritisch an der wirtschaftsfreundlichen “New Labour”-Politik von Tony Blaire abgearbeitet. Es wird von Besuchen und Begegnungen mit Bekannten und Familienmitgliedern erzählt – wie eben das Leben so manchmal dahinfließt.
Aber wenn man durchhält, setzt sich gegen Ende immer stärker das Gefühl durch, dass es lohnend und befriedigend war, sich durch dieses Leben führen zu lassen. Man ist gespannt darauf, ob und wie sich bestimme Kreise schließen. Man merkt so ganz allmählich, dass man nicht nur Roland, sondern auch ein paar Menschen seines sozialen Umfeldes in sein Leser-Herz geschlossen hat.

“Lektionen” ist ein zutiefst menschlicher, ein berührender Roman – nicht immer spektakulär, aber voller emotionaler Tiefen und Untiefen. Man erkennt von Kapitel zu Kapitel stärker, wie doppel- bzw. mehrfachdeutig der Buchtitel gemeint ist – denn dieses geschilderte Leben beinhaltet sehr viel mehr Lektionen als die schicksalsprägenden Klavierstunden der Kindheit und Jugend.

Die Sicht auf die frühe männliche Sexualität und der bilanzierende Rückblick auf ein langes, mit Zeitgeschichte gespicktes Leben sprechen vermutlich am ehesten ein reiferes männliches Publikum an – was natürlich andere Leser/innen nicht ausschließen soll.
Zumindest für diese Gruppe sind die “Lektionen” ein niveauvolles geistiges Futter.

“Und die Vögel werden singen” von Aeham AHMAD

Bewertung: 4.5 von 5.

Da war doch mal was mit Syrien…
War das nicht auch sowas wie ein Krieg? Oder nur ein Bürgerkrieg? Haben da nicht auch Putins Truppen Schulen und Krankenhäuser zu Schutt und Asche bombardiert, in Aleppo?

Es wirkt tatsächlich etwas verstörend, nach einem Jahr Dauer-Information über Hintergründe und Folgen des Ukraine-Krieges mit solcher unmittelbaren Wucht in einen anderen Schauplatz von Machtmissbrauch, Menschenverachtung und unvorstellbarem Leid geworfen zu werden.
Genau das tut aber der Musiker Aeham AHMAD in diesem eindrücklichen autobiografischen Erlebnisbericht (der schon 2019 veröffentlicht wurde).

Seine Geschichte beginnt aber früher, in den späten 1980iger Jahren. Wir lernen den kleinen Aeham als Schuljungen im Großraum Damaskus kennen. Er stammt aus den ärmlichen Verhältnissen einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie und es bedarf eines enormen Einsatzes seiner Familie und sehr früh auch von ihm selbst, um sich – trotz der widrigen Umstände – zu einem vielversprechenden jungen Pianisten und Musiklehrer zu entwickeln. Zusammen mit seinem blinden Vater baut der Junge Mann – buchstäblich aus dem Nichts – in seinem Stadtteil einen florierendes Musikgeschäft auf.

Mit der Abriegelung und dem folgenden systematischen Aushungern des Stadtviertels “Yarmourk” beginnt eine mehrjährige Leidensgeschichte für Tausende von Familien, für die – eingeklemmt zwischen den verfeindeten bewaffneten Gruppierungen – bald der Alltag zu einem immerwährenden Überlebenskampf wird.
Inmitten dieser menschenfeindlichen Umgebung, in der Hunger, Gewalt und Tod nicht Ausnahme, sondern Regel sind, beginnt eine geradezu märchenhafte Geschichte: Zusammen mit ein paar Freunden (und später auch Kindern aus der Nachbarschaft) beginnt AHMAD, sein (auf Rollen montiertes) Klavier durch die Straßen zu schieben und vor Trümmerhäusern zu musizieren. Es sind Texte und Gedichte, in denen die Menschen ihre aktuelle Situation thematisieren, so dass die Musik ein emotionaler Befreiungsakt und eine Anklage zugleich ist.
Dass einige seiner “Auftritte” über YouTube den Weg zu einer internationalen Öffentlichkeit finden, wird sich langfristig positiv auswirken. Doch liegen zwischen den “Trümmerkonzerten” und dem sicheren Leben in Deutschland noch unfassbare Herausforderungen…

AHMAD ist offenbar gleich mit zwei Begabungen gesegnet: Er ist nicht nur als Musiker erfolgreich, sondern hat auch mit diesem Buch eine bemerkenswerte literarische Leistung vollbracht. Man kann sich der Unmittelbarkeit seines Schreibstils kaum entziehen, übliche Distanzierungsmechanismen werden schnell löchrig.
Aber letztlich sind es die Ereignisse und Umstände selbst, die unter die Haut gehen. Die Willkürlichkeit, Sinnlosigkeit und Perversion der Unterdrückung und Gewalt wird immer wieder durch die Todesschüsse von Heckenschützen und die Selbstherrlichkeit der verschiedenen Milizen an ihren Check-Points vor Augen geführt. Es erscheint fast wie ein Wunder, dass es unter diesen Bedingungen noch so etwas wie Nachbarschaft, Freundschaft und Solidarität überleben kann.

Der Krieg in der Ukraine hat uns wegen der räumlichen und kulturellen Nähe sehr schockiert. Mit seinem Buch richtet AHMAD einen Spot auf die Hintergründe der Flüchtlingswelle von 2015. Das ist auch aus heutiger Perspektive sehr aufschlussreich.
Es wird eindrücklich deutlich, wie hoffnungslos desolat die politische und moralische Situation in diesem Land war (und ist); in dem wüsten Durcheinander von ideologischen und mafiösen Gruppierungen geht die Vernunft und Humanität letztlich auf allen Seiten verloren.
Man kann die existentielle Erleichterung des Autors nachempfinden, was es nach Krieg und lebensgefährlicher Flucht bedeutet, plötzlich in einem “zivilisierten” Land leben zu dürfen, in dem die Regeln des Zusammenlebens geachtet und “sogar” von den staatlichen Institutionen (einschließlich der Polizei) geschützt werden. Wir vergessen allzu oft, welches unglaubliche Glück wir haben, in einem demokratischen Rechtsstaat mit gesicherten Grundrechten leben zu dürfen.

Wer beim Lesen dieses Buches nicht- spätestens im Schlussteil – zu Tränen gerührt ist, muss wohl über einen guten Schutzpanzer gegen Emotionen verfügen. Ich kann dieses zutiefst menschliche Buch nur sehr empfehlen.

“Imperium der Schmerzen” von Patrick Radden KEEFE

Bewertung: 4.5 von 5.

Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die in den USA durch die “Opioid-Krise” ausgelöst wurden, sind bei uns nur in einem stark reduzierten Ausmaß ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. In den Staaten waren die gesundheitlichen und finanziellen Auswirkungen dieses Schmerzmittel-Skandals dramatisch und haben in den letzten Jahren zu heftigen juristischen und politischen Konflikten geführt.
Kurz gesagt geht es um einen geradezu epidemischen Missbrauch einer bestimmten Gruppe von Schmerzmitteln (vor allem OxyContin), deren Suchtpotential über viele Jahre hinweg zwar bekannt war, von den Verantwortlichen aber konsequent verheimlicht und geleugnet wurde.

Der preisgekrönte Investigativ-Journalist KEEFE hat in seinem opulenten Buch das Entstehen des Problems exemplarisch in Form einer Familienchronik aufgearbeitet. Das Besondere an seinem Ansatz ist, dass er auf der Ebene der persönlichen Details tief in die Persönlichkeitsprofile und Beziehungsdynamiken der Familie Sackler eindringt, dies aber nicht in die Form eines dokumentarischen Romans zu Papier gebracht hat (was angesichts der Materialfülle sicher möglich gewesen wäre). Stattdessen ist er einem journalistischen Stil treu geblieben, so dass sich das 640-Seiten-Buch (Hörbuch 24 Std.) wie eine geradezu endlose ZEIT- oder SPIEGEL-Titelgeschichte liest.

Im Mittelpunkt der Darstellung steht nicht die Aufarbeitung der Daten über Umfang und Folgen des Arzneimittel-Skandals (diese Informationen bekommt man natürlich auch). Es geht dem Autor um drei große thematische Bereiche:
– Er will aufzeigen, welche persönlichen (psychischen) und innerfamiliären Strukturen dieser konkreten Familie dazu beitragen konnten, dass ein solches Ausmaß an Täuschung und Verantwortungslosigkeit entstehen konnte.
.- Er deckt die Mechanismen eines Wirtschaftssystems auf, in dem Gier und Egoismus sich so ungebremst entfalten können.
– Mit schonungsloser Klarheit zeigt KEEFE die Verstrickung zwischen Wirtschaft, Politik und Justiz auf, in der Vertuschung, Korruption und Untätigkeit entscheidend für die ungebremste Ausweitung der Katastrophe waren.

Wenn man sich diesem Buch mit einem Sachinteresse zuwendet, wird man zunächst auf Hunderten von Seiten von den Psychogrammen der Familiendynastie der Sacklers erwartet. Als Leser/in muss man sich also zunächst darauf einlassen, dass man sich dem eigentlichen Thema mit einem langen Vorlauf nähert.
Die Darstellung der beteiligten Personen, ihrer biografischen Wurzeln und ihrer Beziehungsdynamik ist außerordentlich detailliert und psychologisch nachvollziehbar geschildert. Als Leser/in kann man das Gefühl bekommen, dass man schon eine Art “Familienbiografie” gelesen hat, bevor es so richtig losgeht.
Der geradezu atemberaubende Tiefgang der Analyse beschränkt sich aber nicht auf die Persönlichkeiten; mit gleicher Akribie stellt KEEFE auch die jeweiligen finanziellen und wirtschaftlichen Einzelschritte nach, die aus einem kleinen Familienbetrieb einen Pharma-Großkonzern wachsen ließ.

In allen Facetten der Darstellung beeindruckt das Buch dadurch, dass man durch Fakten und eindeutig belegte Zusammenhänge geradezu “erschlagen ” wird. Zwischendurch erwischt man sich bei der Frage, wie man überhaupt ein solch dichtes und feingewebtes Netz an Fakten und Hintergründen erstellen kann. Man spürt praktisch auf jeder Seite, wie viele Tausend Stunden an Recherche eingeflossen sein müssen.

Natürlich muss kein Mensch das alles wissen, um die Opioid-Krise verstehen und bewerten zu können. Da könnte ein Wikipedia-Artikel reichen.
In diesem Buch passiert aber etwas anderes: KEEFE überzeugt seine Leserschaft dadurch, dass er exemplarisch so in die Tiefe geht, dass einfach kein Raum für Relativierungen oder Ausflüchte mehr übrig bleibt: Alles wird erklärt, alles ist nachvollziehbar, alles wird gründlich belegt.
Genau so wird dann ein vermeintlich “ausgewalzter” Einzelfall zu einem Lehrstück über ein ganzes wirtschaftliches und politisches System. Statt Meinung oder Parolen liefert KEEVE ein solches Paket an Beweisen, dass wohl jede/r Skeptiker irgendwann kapitulieren muss.

Wir haben es also bei diesem Buch mit einem exzellenten Beispiel von Aufklärungs-Journalismus zu tun, dessen Bedeutung und Wirkung über die eigentliche Thematik hinausreicht.
Man sollte sich aber im Klaren darüber sein, dass das Buch ein Ausmaß an Zeit und Konzentration erfordert, das über die Ressourcen durchschnittlicher Sachbuchleser wohl deutlich hinausgeht.

“Erwachen” von Sam HARRIS

Bewertung: 4 von 5.

Der amerikanische Philosoph und Neurowissenschaftler Sam HARRIS hat einige Gemeinsamkeiten mit seinem deutschen Kollegen Thomas Metzinger (s. “Bewussseinskultur“): Wie dieser erforscht auch HARRIS das Bewusstsein von (mindestens) zwei Seiten: von der Hirnforschung aus und durch Beobachtung und Analyse der Eigenerfahrungen bei meditativen Praktiken. Als Erweiterung der Introspektion haben beide auch mit psychedelischen Drogen experimentiert.
HARRIS ist allerdings noch eindeutiger der Szene der meditativen Bewusstseinserweiterung zuzuordnen; er hat in jüngeren Jahren viel Zeit mit bekannten asiatischen “Gurus” verbracht und bietet aktuell u.a. auch eine (englischsprachige) Meditations-App an. Der Autor zieht aber eine deutliche Grenze zwischen intensiven spirituellen Erfahrungen auf der einen, und religiös bzw. esoterisch geprägten, mit irrationalen Dogmen verbundenen Lehren.

Die Ausführungen von HARRIS kreisen immer wieder um einige Grundüberzeugungen des Autors:
– Regelmäßige Praxis in Meditation und Achtsamkeit können zu einem gesunden, erfüllten und ethisch fundierten Leben beitragen. Dabei spielt die Steuerung der Aufmerksamkeit auf das aktuelle Erleben und die gelassene Akzeptanz auch von unangenehmen Realitäten eine Rolle.
– Es möglich und erstrebenswert, den eigenen Geist steuern zu lernen und sich Bewusstseinszuständen anzunähern, die mit geistiger Klarheit und Präsenz im augenblicklichen Erleben verbunden sind.
– Eine besondere Rolle spielt dabei die Fähigkeit, aus dem (nur teilweise bewussten) Kreislauf innerer Gedanken auszusteigen, sich von ihnen zu distanzieren (genauso wie von momentanen Gefühlen und Bewertungen).
– Sich einem “reinen” Bewusstseinszustand zu nähern, bedeutet auch, sich von den üblichen Vorstellungen eines “Ich” oder eines “Selbst” zu lösen; diese Begriffe stellen aus Sicht von HARRIS nur (kognitive) Konzepte dar, die nicht mit der Realität unseres “wahren” Bewusstseins übereinstimmen.

Der Kern dieses Buches ist das Werben für eine säkulare (also von irrationalen Annahmen freien) Spiritualität. Ein direkterer Zugang zu der Basis unseres Bewusstseins und die Zunahme der Kontrolle über die eigenen geistigen Vorgänge schaffen – so HARRIS – nach und nach eine Befreiung von psychischen Belastungen und Beeinträchtigungen; gleichzeitig ermöglicht die Konzentration auf aktuelle Sinneseindrücke ein bewussteres Erleben und Genießen unsers gegenwärtigen Seins – was auch einen engeren Bezug zur Natur und zu den Mitmenschen beinhalte.
HARRIS macht deutlich, dass man bei der Meditation keineswegs irgendwelchen Erleuchtungserfahrungen hinterherjagen muss; auch die kleinen Schritte bei der “Schulung des Geistes” zur Achtsamkeit können das (Er-)Leben entscheidend verändern.

Der Autor zeigt sich aber auch in seiner Rolle als Neurowissenschaftler und gibt faszinierende Einblicke in Befunde, die unser Alltagskonzept vom Selbst und vom Bewusstsein vollkommen in Frage stellen (z.B. durch Forschungen an sog. “split-brain-Patienten”). Er stellt faszinierende Grundsatzüberlegungen an – über die Rolle von Bewusstsein für das ganze Universum und seine Sinnhaftigkeit.
HARRIS verhehlt auch nicht, dass bestimme psychoaktive Substanzen (MDMA, Psilocybin, LSD) sehr rasch und sicher zu “wertvollen” Erfahrungen führen können, die auch vielen langjährigen Meditations-Profis versagt bleiben. Doch dieser Weg – das macht der Autor klar – ist voller Risiken.

Vieles in diesem Buch ist anregend und nachvollziehbar; HARRIS ist sicherlich in der Lage, viele Leser/innen zu einem Einstieg in oder einer Intensivierung von meditativen Übungen zu motivieren. Dies gilt vor allem für die Sinnsuchenden, die sich irrationalen und willkürlichen Glaubensvorschriften (von Sekten, Gurus und Religionen) nicht unterwerfen wollen. Bei HARRIS muss man seinen logischen Verstand nicht an der Garderobe abgeben, um sich auf die Suche nach einen tieferen Einblicken in Sphären zu begeben, die jenseits des Alltagsbewusstseins liegen.

Trotzdem erscheint nicht alles plausibel und widerspruchsfrei. So begründet HARRIS seine Grundthese, dass sich im “wahren” Bewusstsein auch das “Ich” auflöst (und auflösen soll), nicht explizit. Was ist so einschränkend an dem “normalen” Gefühl, eine personelle Einheit zu bilden – selbst wenn dies höchstwahrscheinlich nur eine Illusion ist. Hält es uns ab von dem restlosen Verschmelzen mit dem Kosmos? Muss man soweit kommen (wollen)? Ist das “reine Bewusstsein” wirklich so ein paradiesischer Zustand, dass man Jahre seines Lebens (oder Drogenexperimente) darauf verwenden sollte, ihn zu erreichen? Reicht nicht ein bisschen mehr Achtsamkeit und Gelassenheit?
Was auch irritiert: Wenn es eigentlich so einfach ist, durch regelmäßige Meditation seinen Geist zu schulen – warum hat sich HARRIS als junger Mensch jahrelang in abgelegensten Ecken der Welt von verschiedensten Meistern “ausbilden” lassen? Welche Weisheiten erfährt man von diesen Menschen, die man nicht in ein paar Wochen vermitteln könnte? Braucht man Gurus, um dann doch Atem-Meditation zu machen (was man in weinigen Stunden erlernen kann)?
Das mag für einige banal und ketzerisch klingen. Aber für mich waren und sind das offene Fragen.

Das rätselhafte menschliche Bewusstsein steht im Zentrum von philosophischen, neurowissenschaftlichen, psychologischen und sinnsuchenden Aktivitäten. HARRIS hat mit diesem Buch einen engagierten und anregenden Betrag geliefert.

21.03.2023 Aufklärung zur Ukraine

Bild von Enrique auf Pixabay

ARTE zeigte heute eine zeitgeschichtliche Dokumentation über die Geschehnisse des letzten Jahrzehnts rund um die Ukraine. Sie beleuchtet die Ereignisse, insbesondere das Vorgehen Putins, überwiegend aus französischer, englischer und EU-Sicht – eher weniger aus deutscher Sicht.

Ich finde das sehr informativ und überzeugend!
Der Grund dafür ist, dass hier nicht irgendwelche Experten über Vorgänge und ihre Bewertungen sprechen, sondern dass alle gemachten Aussagen sich auf Original-Bilder beziehen und fast ausschließlich Menschen zu Wort kommen, die an den Abläufen (Verhandlungen) unmittelbar beteiligt waren. Das schließt zwar die Subjektivität von Einschätzungen nicht aus, angesichts der engen Verknüpfung mit den “echten” Bildern und “echten” Aussagen ist aber der Realitätsbezug kaum zu leugnen.

Ich kann nur wärmstens empfehlen, sich auf diesem Wege nochmal historisch “fit” zu machen. Das hilft mit Sicherheit dabei, die aktuelle Situation – insbesondere den Standpunkt der Ukraine – besser zu verstehen.
Selbst wenn man sich an diese Bilder z.B. aus dem Jahr 2014 erinnert – mit dem heutigen Wissen kann man sie ganz anders würdigen.

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

15.03.2023 Kultur-Verbot?

Von Andrés Ibarra – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74416762

Man kann es nicht bestreiten: Roger Waters (früher eine prägende Figur bei PINK FLOYD) fällt schon seit Jahren mit politischen Äußerungen und Aktivitäten auf, die man mit einiger Berechtigung als unangemessen, übertrieben, einseitig oder provokant bewerten kann. Während es in den vergangenen Jahren meist um Israel ging (dessen Politik er extrem kritisch gegenübersteht), hat er sich aktuell auch gegenüber Russland als sehr “einfühlsam” gezeigt.
Roger Waters ist wohl auch insgesamt kein einfacher Mensch. Das Zerwürfnis mit den anderen Bandmitgliedern und die endlosen gerichtlichen Streitigkeiten um das Erbe von PINK FLOYD ist sicher nicht zuletzt auch ein Ergebnis seines streitbaren Charakters.

Aber – und darum geht es: Muss man einen solchen Künstler, der mit seinen multimedialen Bühnenshows unzählige Fans begeistert, mit einem Auftrittsverbot belegen? Um ihn für unliebsame Haltungen und Äußerungen zu “bestrafen”, die er in anderen Kontexten zeigt?

Ich finde: nein!
Angemessen wäre das nur für den Fall, dass er seine Veranstaltungen als Plattform für eine politische Propaganda benutzen würde, die eindeutig gegen rechtliche und ethische Normen verstoßen würde. Allein die Tatsache, dass bei seinen opulenten Video-Projektionen neben vielen anderen Symbolen auch ein Davidstern zu sehen ist, kann wohl kaum dieses Kriterium erfüllen.

Dieser Mann mag als Person unsympathisch und als politischer Mensch mehr oder weniger verpeilt sein: Als Künstler sollte er auftreten dürfen!

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

12.03.2023 Tagesgedanken täglich?

Bild durch KI erzeugt (DALL E)

Ich gebe zu: Das habe ich falsch eingeschätzt!

Es macht mir tatsächlich zu viel Druck, jeden Tag einen Post zu schreiben. Zwar finde ich das Ziel weiter reizvoll, die Umsetzung artet aber in Stress aus.
Das passt nicht zu meinen aktuellen Prioritäten.

Also: Es wird weiter Tagesgedanken geben – an den Tagen, die sich für mich persönlich dafür eignen.

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

“Kompass für die Seele” von Bas KAST

Bewertung: 2.5 von 5.

Was würde wohl auf das sensationelle Erfolgsbuch “Ernährungskompass” folgen?
Das fragte sich wohl mancher Beobachter des Sachbuch-Marktes. Ich selbst habe mich vor einigen Monaten dabei erwischt, gezielt nach einer Neuerscheinung des Autors zu suchen.
Jetzt ist es soweit – und die Spannung war groß.

Ausgehend von einer depressiven Krise, die – ausgerechnet(?) – kurz nach dem kometenhaften Aufstieg zum Bestseller-Autor einsetzte, hat sich KAST (wie auch beim ersten Buch) aus eigener Betroffenheit auf den Weg gemacht. Diesmal mit dem Ziel, ganz verschiedene Verfahren und Methoden zu untersuchen, die das Potential in sich tragen, psychische Beeinträchtigungen zu lindern bzw. das Risiko solchen Belastungen präventiv zu vermindern.
Das Kriterium für Auswahl der geschilderten Ansätze war dabei subjektiv: Zwar hat KAST das Feld wohl wieder mit der ihm eigenen Gründlichkeit beackert (durch Sichtung von zahlreichen Studien); in das Buch geschafft haben es aber nur die 10 Bereiche, von deren Wirksamkeit sich der Autor selbst überzeugen konnte (bzw. wollte).

Schon die Grobgliederung in drei Schwerpunkt-Teile lässt aufhorchen: Da gibt es einmal die körperbasierten Elemente (wie Ernährung, Bewegung, Schlaf, Naturkontakt), dann die psychischen Aspekte (Meditation, stoische Lebenseinstellung, Sozialkontakte) und am Ende – Überraschung! – den Einsatz psychedelischer Substanzen (insbesondere MDMA und Psilocybin).
Wow! Ein bekannter Bestseller-Autor schreibt für ein Millionen-Publikum einen “Kompass für die Seele”, in dem zwar der Begriff “Psychotherapie” mehrfach fällt, diese etablierteste Methode zur Behandlung von psychischen Störungen (wie die von ihm genannten Depressionen und Traumafolgen) selbst aber gar nicht zum Thema wird. Statt dessen bekommen Ecstasy und sog “Zauberpilze” ein ausführliches eigenes Kapitel, gespickt mit geradezu euphorischen Erfahrungsberichten, differenzierten Empfehlungen (und eher zaghaften Warnungen).
Gab es schonmal etwas Vergleichbares? Ich glaube kaum!

Doch fangen wir vorne an.
Mit Ernährung kennt sich KAST aus; das ist keine Überraschung. Doch auch in den anderen Kapiteln im Bereich “Körper und (psychische) Gesundheit” beweist der Autor seine Stärken: Umfassende Recherche des aktuellen Forschungsstandes, gut nachvollziehbare Schlussfolgerungen und eine motivierend-eindeutige Art der Vermittlung. Man will am liebsten schon während des Lesens (oder Hörens) das Olivenöl aus dem Schrank holen , Omega-3-Pillen bestellen, durch den Wald joggen und seine Einschlaf-Routine neu ordnen.

Dann kommt die Psyche und man beginnt sich zu wundern: Wo man als Lesender vordringlich kompetent aufbereitete Informationen (und Erfahrungen) zu unterschiedlichen Ansätzen aus Psychotherapie, Beratung und Coaching (inkl. deren Wirksamkeit und Grenzen) erwartet, fährt KAST genau zwei Möglichkeiten auf, die Psyche aus der Krise zu helfen oder einer solchen vorzubeugen: die Praxis der Meditation und die Prinzipien der philosophischen Stoiker.
Bei allem Respekt vor den Potentialen dieser beiden Ansätze: Diese Betrachtung fällt gegenüber der Darstellung der körperbasierten Faktoren doch ziemlich stark ab.

Überraschend ist dann – wie schon angedeutet – das Gewicht der dritten Perspektive: der Einflussnahme auf psychische Befindlichkeit und Gesundheit durch psychoaktive Substanzen. Hier hat sich KAST offenbar voller Eifer und Experimentierfreude eingelassen und so eindrückliche Erfahrungen gemacht, dass seinen Ausführungen schon fast etwas Missionarisches anhaftet.
Sicher spricht nichts dagegen, über die erstaunlichen therapeutischen Effekte von MMDA und Psilocybin im Bereich von Depression und Traumafolgen zu berichten. Im Gegenteil: Das ist ganz sicher ein hochinteressantes Thema und die Konsequenzen für die zukünftige psychiatrische und psychotherapeutische Arbeit könnten durchaus erheblich sein.
Die Anwendung solcher Substanzen aber zum jetzigen Zeitpunkt einem breiten Publikum quasi als Eigentherapie alternativ zu Meditation, Sauna oder Ernährungsumstellung anzubieten, erscheint doch ein wenig abwegig (um es zurückhaltend auszudrücken).

Sollte jemand, der – wie in einem SPIEGEL-Gespräch bestätigt – keine eigenen Erfahrungen mit Psychotherapie gemacht hat (und sich daher diesem Thema nicht näher widmet), wirklich einen “Kompass” für den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit schreiben? Wirkt das nicht ein wenig so, als ob man über die Unterwasserwelt schreibt, ohne jemals selbst einen Tauchkursus absolviert zu haben?
Es fällt auf, dass KAST (fast) ausschließlich Methoden anführt, die man (auch) ganz für sich alleine durchführen kann. Hier genau liegt der Unterschied zu dialogischen Verfahren, in denen Therapeuten, Beraterinnen oder Coaches eine Prozessbegleitung, eine Außenperspektive, Rückmeldungen und Korrekturen bieten. Warum soll das alles ungenutzt bleiben?

Selbst wenn seine Hinweise und Ratschläge im ersten Teil noch so sinnvoll und gut begründet sind und seine Darstellungsweise überzeugend rüberkommt – in diesem Buch wird ein extrem einseitiges und in keiner Weise repräsentatives Bild der psychosozialen Versorgungslandschaft und ihren Methoden gezeichnet.
Man sollte sich schon entscheiden: Entweder schreibe ich von meinen persönlichen Erfahrungen (und nenne das dann auch so), oder ich offeriere einen “Kompass” – und damit ein halbwegs realitätsgetreues Abbild des untersuchten Bereiches.

Sieht von von dieser schwerwiegenden Einschränkung ab, kann man den ersten Teil des Buches uneingeschränkt empfehlen, ebenso die informativen und motivierenden Ausführungen über den Nutzen von Meditations-Übungen..
(Die Hörbuch-Version dieses Buches ist übrigens sehr gut gelungen; der Sprecher gibt die Intentionen des Autors glaubhaft weiter).

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

10.03.2023 Gesundheit digital

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Seit 20 Jahren wird versucht, unser Gesundheitssystem auf den Stand des digitalen Zeitalters zu bringen: also die elektronischen Speicher und Kommunikationsmöglichkeiten zu nutzen, um medizinische Informationen zu bündeln und jederzeit (auch im Notfall) verfügbar zu machen. Das würde extrem viel Geld (z.B. für Doppel- und Dreifachdiagnostik) und Zeit (für das Abfragen und Zusenden von Vorbefunden) sparen und das System damit effektiver und effizienter machen. Ganz nebenbei könnten auch echte Leben gerettet werden (weil z.B. Arzneiunverträglichkeiten jederzeit berücksichtigt werden können).

Die Frage, warum uns inzwischen fast alle europäischen Länder überholt haben, lässt sich kurz und griffig beantworten: deutscher Datenschutz-Wahn!
Bei uns wird nämlich über jedes noch so kleine theoretisch-denkbare Daten-Leck zehnmal intensiver diskutiert als über die enormen Vorteile der Digitalisierung für Gesundheit und Kosten.

Meine Prognose: Die aktuelle Lauterbach-Initiative wird scheitern. Sie wird zerredet und zerrieben werden von Bedenkenträgern und vermeintlichen Freiheitsschützer auf allen erdenklichen Seiten.
Worum es geht? Unser Minister will die digitale Gesundheits-Akte und -karte als Standard einführen. Wer das nicht will kann und darf widersprechen.
So logisch, so einfach! So notwendig, so überfällig!

Ich bin besonders gespannt, wie sich die “Freiheits-, Fortschritts- und Digital-Partei” FDP in dieser Sache positioniert. Sollte sie sich auf die Bremser-Seite stellen, wäre jede Glaubwürdigkeit bzgl. eines Erneuerungs-Willes dahin.
Ob sich unser Kanzler hinter dieses – sicher nicht allseits beliebte – Projekt stellt?
Mal schauen.

Übrigens: Man kann sich schon längst aus eigener Initiative in das neue System begeben.
Das taten bisher ca. 1 % der Versicherten…

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

“Bewusstseinskultur” von Thomas METZINGER

Bewertung: 4 von 5.

Der stark mit den Neurowissenschaften verbandelte Philosoph METZINGER hat mit seinem “Ego-Tunnel” (2014) ein Standardwerk zum Stand der Bewusstseins- und Kognitionswissenschaften veröffentlicht. Viele später erschienenen Publikationen sind nicht wesentlich über die Erkenntnisse und Interpretationen dieses inspirierenden Buches hinausgegangen.
Entsprechend groß war die Spannung hinsichtlich seines neuen Buches, das ein bereits 2014 gesetztes Thema aufgreift und vertieft.

Der gesellschaftliche Kontext, in den METZINGER seine Ausführungen zur Bewusstseinskultur stellt, ist zunächst überraschend und irritierend: Es ist die unerbittlich heranrückende Klima-Katastrophe, die seiner Analyse nach realistischer Weise nicht mehr aufzuhalten ist. Dies sei zwar möglicherweise rein physikalisch noch möglich, nicht aber bei der Berücksichtigung der psychologischen, politischen und institutionellen Trägheiten.
Genau dies nimmt der Autor zum Anlass, darüber nachzudenken, wie wir als denkende und fühlende Wesen in den bevorstehenden Zeiten psychisch überleben können – und zwar auch dann, wenn demnächst klimatische und gesellschaftliche Kipppunkte (Panikpunkte) überschritten sein sollten.
Da muss man erstmal schlucken.

Doch es geht nicht nur um die Bewältigung des menschlichen Scheiterungs-Prozesses. Natürlich geht METZINGER davon aus, dass wir – solange es eben geht – an der Eindämmung der Klimawandel-Folgen arbeiten. Für uns reiche Länder bedeutet das: ein massives “grünes Schrumpfen” zu bewerkstelligen und zu akzeptieren.
Hier könnte dann eine gelungene Bewusstseinskultur zu eine alternativen Sinngebung beitragen, die den Verlust der gescheiterten Wachstums-Konsum-Spirale auszugleichen versucht.

Was nun “Bewusstseinskultur” genau sein könnte, stellt der Autor im Hauptteil seines Buches dar. Ganz grob gesprochen geht es einerseits darum, durch bestimmte (insbesondere meditative) Praktiken mehr Kontrolle über die eigene (gedankliche) Innenwelt zu erlangen und den Fokus auf grundlegende Erfahrungen des “Seins” zu konzentrieren.
Parallel dazu sollen hinsichtlich der rationalen Erkenntnisversuche bestimmte Maßstäbe gelten, die einen gesellschaftlichen Konsens ermöglichen: Orientierung an Fakten, Empirie, Logik und einer ethischen Grundhaltung gegenüber allen empfindungs- und leidensfähigen Geschöpfen (einschließlich der zukünftigen Generationen).

Das klingt alles ehr abstrakt und es wird Zeit, etwas zum Denk-und Schreibstil von Thomas METZINGER zu sagen. Der Autor ist auf mehreren Ebenen so etwas wie ein “Grenzgänger”. Schon seit Jahrzehnten überschreitet er die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen und hat maßgeblich dazu beigetragen, die Neurowissenschaften in die Philosophie zu holen (oder umgekehrt?). Aber METZINGER kratzt auch an anderen Tabus: Er ist nicht nur an asiatischen philosophischen bzw. spirituellen Traditionen interessiert, sondern meditiert seit langer Zeit intensiv und hat mit einer ganzen Reihe von psychedelischen (psychoaktiven) Substanzen recht nahe Bekanntschaft geschlossen.
Der Hintergrund: METZINGER sucht einerseits nach wünschenswerten alternativen Bewusstseinszuständen (darin sieht er eine potentielle Bereicherung), andererseits ist er dem inneren Kern, der Grunderfahrung des “bewussten Seins” auf der Spur. Und diese ist seiner Erfahrung nach nicht nur sprachfrei, sondern beinhaltet auch eine weitgehende Auflösung des Ich-Bewusstseins.

Dies ist also der Hintergrund für die hier dargelegten Thesen und Vorschläge. Man muss also einkalkulieren, dass METZINGER die normale Alltagssprache schonmal verlässt, eigene Begriffs-Schöpfungen einbringt und insgesamt auf einem recht hohen Abstraktionsgrad argumentiert. Manches mag man sogar ein wenig schräg finden – wie seine Überlegungen zur Leidensfähigkeit von KI-Systemen (wobei die jüngsten Durchbrüche bei den ChatBots hier seine Kritiker vermutlich leiser werden lassen).
Jedenfalls ist das hier kein leicht lesbares Gute-Laune-Buch. Es geht nicht um esoterische Wellness-Angebote oder um Weltausstiegs-Szenarien. Der Autor ringt um eine Möglichkeit, mithilfe von (nicht-religiösen) spirituellen Praktiken die geistige Gesundheit in chaotischen Zeiten zu erhalten.
Kommen wir nochmal zu den Haltungen: METZINGER ist davon überzeugt, dass wir einen klaren Blick auf die Welt und in unseren Geist richten sollten. Wir sollten uns nichts vormachen, uns nicht ablenken oder durch irrationale Heilsversprechen trösten lassen. Für ihn führen sowohl rationales Denken als auch der Blick nach innen zu einer intellektuellen Redlichkeit. Diese mag zwar zu schmerzlichen Erkenntnissen führen, schenkt dafür aber eine weitgehend unverstellte Klarheit und geistige Reinheit.

Für die meisten Leser/innen (soweit sie noch nicht mit der Gedankenwelt des Autors vertraut sind) wird es in dem Buch immer mal wieder Stellen geben, an denen sie “aussteigen”. Metzinger mutet einiges zu, eben auch befremdliche Ideen. Für Menschen, die Meditation für eine esoterische Spinnerei halten, ist z.B. der Text sicher nicht geeignet. Die Suche nach dem innersten, puren Bewusstheitskern gehört sicher für die meisten nicht zu ihren vordringlichen Zielen.
Für alle, die rund um Philosophie, Spiritualität und Naturwissenschaft gerne die Erkenntnis- und Lösungsdimensionen erweitern möchten, bietet dieses Buch eine reich gefüllte Fundgrube.
Allerdings darf man nicht erwarten, dass hier eine Art Fortsetzung des EGO-Tunnels geboten wird: Neurowissenschaften stehen in diesem Buch eindeutig nicht im Mittelpunkt.
Es ist ein eher persönliches Buch eines klugen und tiefsinnigen Menschen, der angesichts des menschlichen Versagens um eine Minimallösung ringt – die selbst auch dann noch Sinn geben könnte, wenn das “große” Scheitern nicht mehr aufzuhalten ist.

(Übrigens: Man kann auch als Einstieg das “Philosophische Radio” vom 27.02.23 hören.)

(Zu weiteren Tages-Gedanken)