“Geister” von Nathan HILL

Bewertung: 4.5 von 5.

Auch das kommt vor: Da ist man von einem aktuellen Buch restlos begeistert (“Wellness“), schaut nach, was der Autor sonst noch geschrieben hat – und merkt plötzlich, dass man auch seinen ersten großen Roman schon gelesen (gehört) hat. Die nur noch schwache Erinnerung war ein Anlass, es nochmal zu tun. Eine gute Entscheidung!
HILLs Erstlingsroman (2016) ist gleich ein “großer” geworden: groß im Umfang, groß in der Themenvielfalt, groß in der erzählerischen Handwerkskunst.

Erzählt wird eine Familiengeschichte (bestimmt von Verlassenwerden und Verlust), die Geschichte einer Protest-Generation (die amerikanischen 68iger), die Geschichte vom aktuellen politischen Populismus (der an Trump erinnert) und ganz viele Geschichten von den Absurditäten und Perversionen des – von Zynismus, Gier, Einsamkeit und Sensationsjournalismus bestimmten – “American Way of Life”.

Das Verbindungsglied all dieser Perspektiven ist der Literatur-Dozent, Schriftsteller und Gamer Samuel, in dessen Lebensgeschichte sich die Handlungsfäden nicht nur kreuzen, sondern auch heftig verwirren. Seine früh aus seiner Kindheit verschollene Mutter (Faye) tritt als eine des Terrorismus angeklagte Mediengestalt wieder in sein Leben und führt ihn zu einer sehr persönlichen Achterbahnfahrt durch ihre Biografie.
Diese Konstruktion erlaubt es dem Autor, die amerikanische Zeitgeschichte über zwei Generationen hinweg facettenreich zu spiegeln – und dabei weder politische, noch persönliche Lebensthemen auszulassen.

Es sind keine makellosen oder kraftstrotzenden Figuren, die uns durch dieses prall gefüllte Universum führen – es sind Menschen mit Schwächen und lebensgeschichtlichen Brüchen, dem Scheitern meist näher als dem Erfolg. Genau das macht diesen bis zum Bersten mit Erfahrungen und Emotionen gefüllten Text zu einem intensiven und niveauvollen Leseerlebnis. HILL nimmt sich die Ruhe, einige Nebenfiguren mit der gleichen Sorgfalt und Sprachgewalt zu zeichnen wie seine Protagonisten. Sein Sprachgefühl lebt von dem Feeling für Details, seine Begrifflichkeiten sind intensiv, seine Formulierungen expressiv.
Nur einmal schwächelt Autor: Bei der Schilderung eines für die Mutter zentralen Ereignisses – der Polizeigewalt gegenüber der großen 68iger Demonstration in Chicago – verliert HILL ein wenig das Maß und verliert sich schwelgerisch in Details.

Wer große, perfekt gewebte und sprachlich ergreifende Erzählungen mag, die ihre Menschenfreundlichkeit in der Empathie für realistische, zwiegespaltene Charaktere beweisen, wird diesen Roman nicht nur mögen, sondern lieben.

“Zeit” von Stefan KLEIN

Bewertung: 4.5 von 5.

KLEIN ist ein bekannter und erfolgreicher Wissenschafts-Autor, der sich schon so interessanten Themen zugewandt hat wie dem Glück, dem Zufall und dem Träumen. Diesmal ist die Zeit dran – und zwar die objektive (physikalische), die biologische (innere Rhythmen) und die subjektive (selbst erlebte). So wird aus dem Sachbuch gleichzeitig eine Art Ratgeber für den Umgang mit der eigenen Lebenszeit.

Es ist bemerkenswert, wie breit und perspektivreich diese Reise zum Phänomen “Zeit” angelegt ist: Vom Entstehen der Zeit im Urknall und ihrer Relativität in der modernen Physik ist genauso die Rede wie von der Entwicklung der Zeitmessung und ihrer gesellschaftlichen Folgen, von den verschiedenen biologischen “Uhren” in unserem Körper, von den Facetten unseres Gedächtnisses und von dem variablen Zeiterleben in unterschiedlichen Situationen.
Und KLEIN leitet aus den dargestellten Erkenntnissen konkrete Tipps ab, mit deren Hilfe er uns einen Ausweg aus der “Zeitfalle” eröffnen möchte.

Geschrieben ist das Buch in einem angenehmen journalistischen Stil, der fachliche Stringenz mit guter Lesbarkeit kombiniert. So bekommt man eine gut verdauliche und nahrhafte Kost, die man aber nicht so zwischendurch wegnaschen kann. Der Autor belegt seine Darstellungen mit zahlreichen Untersuchungen – ohne dass dadurch sein Werk zu einem trockenen Fachbuch mutiert.

Die Erwartungen an die “Gebrauchsanweisung” (s. Untertitel) sollten allerdings nicht zu hoch sein: Die Wissensvermittlung steht in diesem Sachbuch ganz eindeutig im Vordergrund. Zwar führt KLEIN im Schlussteil sechs konkrete Maßnahmen an, die einen souveräneren, achtsameren, stressfreieren und gesünderen Umgang mit der subjektiven “Zeitknappheit” ermöglichen sollen (im Augenblick leben, sich konzentrieren, die eigene biologische Uhr ernst nehmen, …).
Das erscheint auch alles klug und nachvollziehbar – hat aber nicht den gleichen wissenschaftlichen Tiefgang wie die anderen Kapitel dieses ansonsten hervorragenden Buches.

“Ein wenig Leben” von Hanya YANAGIHARA

Bewertung: 3.5 von 5.

Es ist zweifellos ein bewegendes Buch, das die in Hawaii geborene, multikulturell geprägte Autorin bekannt gemacht hat. Es ist wohl kaum ein Text vorstellbar, in dem das Leid eines seelisch, körperlich und sexuell missbrauchten Kindes und dessen Auswirkungen auf ein gesamtes Leben eindringlicher und umfänglicher dargestellt werden könnte.

Die Autorin ist eine Meisterin der Gefühlsintensitäten. Der schon beim Lesen kaum zu ertragenden Pein des Opfers stellt sie – sozusagen am anderen Ende der Dimension – die schier grenzenlose Güte und Liebe einiger Bezugspersonen gegenüber. Auch hier wählt sie ein Ausmaß, das alltägliche Maßstäbe ganz offensichtlich übersteigt.
Als Lesender, der sich nicht konsequent für eine innere Distanzierung entscheidet, fühlt man sich im Laufe des umfangreichen Textes (740 Seiten oder 32 Std. Hörbuch) in eine geradezu endlose emotionale Achterbahnfahrt versetzt, die den Konsum dieses Buches zu einem durchaus anstrengenden Erlebnis macht.

Neben dem, was Menschen Kindern (und später auch Erwachsenen) antun können, geht es in diesem Buch auch um Freundschaft, aus der auch eine große Liebe werden kann. Es geht auch um Zuwendung und Mitmenschlichkeit, aber auch um Schwäche und tiefste Kränkung und Enttäuschung. Es geht um Lust, um Ästhetik, um Luxus, ums Sex, um Kunst. Es geht um das Leben in all seinen – intensiven – Facetten.

Das alles – und noch viel mehr – materialisiert sich rund um den Protogonisten Jude, der nach seinem häppchenweise aufgedecktem Martyrium im Kreise von drei Freunden seine College-Jahre verbringt und später in einer gut-situierten New Yorker Erwachsenen-Welt landet, in der Kultur, Kunst, Architektur und Intellektualität den Alltag bestimmen.
Unter dieser fast perfekten Fassade lauert aber das Grauen, das Jude in Form von körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen als lebenslange Hypothek mit sich schleppt.

Zu den größten Stärken dieses eindringlichen Romans gehört sicherlich die differenzierte und einfühlsame Beschreibung der psychischen Auswirkungen der frühen Misshandlungen. Jude ist nicht nur körperlich für alle Zeiten gezeichnet, er ist auch emotional gebrochen. Sein Selbstbild ist so stark zerstört, der Selbstzweifel und Selbsthass ist so grenzenlos, dass Jude nur der Ausweg in massivste Selbstversetzungen bleibt.
Seine Scham ist so groß, dass er sich selbst seinen engsten Freunde jahrzehntelang nicht anvertrauen kann – und daher Täuschung und Unverständnis diese Beziehungen belasten.
Diesem kaum vorstellbaren Leid stehen einige Beziehungs- und Unterstützungsangebote gegenüber, die zwar zwischenzeitlich Halt geben, angesichts der Schwere der Verletzungen aber immer wieder ins Leere laufen. Gleichzeitig wird (auf brutalste Weise) deutlich, dass Jude für toxische Beziehungsmuster immer noch anfällig ist.

Kein fühlender Mensch wird alldem emotional unbeteiligt gegenüberstehen. Und doch ist es legitim, ein paar distanziert-analytische Anmerkungen zu machen.
Wie schon gesagt: YANAGIHARA beherrscht die Intensitäten. Aber – so kann man sich fragen – muss so ein Buch in diesem Ausmaß die Extrempole bedienen? Muss es (fast) immerzu um unerträgliches Leid, grenzenlose Güte, die größte denkbare Liebe, die schönsten vorstellbaren Häuser, die größten beruflichen Erfolge, die tiefste Trauer gehen?
Als Leser/in könnte einem zwischendurch das Gefühl befallen, dass kaum noch Steigerungsmöglichkeiten bestehen – aber die Autorin versucht (und schafft) es trotzdem.
Es ist wirklich von allem extrem viel! Intensität auf der permanenten Überholspur!

Dieses Buch lässt niemanden unberührt. Das ist zweifellos eine hohes Qualitätsmerkmal für ein literarisches Werk. Wer sich selbst (als mitfühlendes Wesen) spüren möchte, ist mit diesem Buch ganz sicher auf dem richtigen Weg.


“Wellness” von Nathan HILL

Bewertung: 5 von 5.

Sollte Ich das Buch des Jahres 2024 tatsächlich schon im Februar gelesen haben?
Im Moment würde ich darauf wetten!

Der Autor lässt uns am Schicksal zweier Menschen teilhaben, die sich – aus guten Gründen – inhaltlich und räumlich von ihren Herkunftsfamilien losgesagt haben und sich zufällig in der Kulturszene von Chicago begegnen. Jack ist Kunststudent und Fotograf; Elisabeth studiert alles rund um die Psychologie des Menschen.
Wir erleben in mehreren Zeitsprüngen, wie aus der Begegnung zweier Seelen-Verwandter ein desillusioniertes Durchschnitts-Paar wird, das letztlich an sich selbst zu scheitern droht.

HILL ist aber nicht nur an der Beziehungsdynamik der beiden Protogonisten interessiert. Er nutzt das Alltagsleben der Kleinfamilie (Jack und Elisabeth bekommen einen Sohn), um einen bunten Strauß von kleinen und großen Absurditäten des amerikanischen Mittelschicht-Lebens vorzuführen: die Exzesse einer kindzentrierten Erziehung, die Abgründe psychologischer Manipulation, die geheime Verführung durch die Social-Media-Algorithmen, die Ausgrenzungs-Mechanismen einer “besseren” Gesellschaft, die Abzocker-Methoden windiger Investment-Modelle usw.

Besonderes Lesevergnügen verbreitet HILL durch seine kreative und expressive Sprache: Der Autor entlädt immer wieder ganze Kaskaden von Begrifflichkeiten und kreativen Formulierungen. Wo andere ein oder zwei Adjektive benutzen würden, setzt der sieben oder acht ein. Seine Aufzählungen wachsen zu Satzungetümen heran, die sich gelegentlich über ganze Seiten erstrecken. Da ist viel Dynamik, die inhaltlichen Verrücktheiten der amerikanischen Gesellschaft spiegeln sich auch in HILLs extremen Sprachmustern.

Doch der Roman bietet kein plattes Amüsement: Hinter den humoristisch überzeichneten Trends stehen reale Entwicklungen, auf die der Autor mit treffender und beißender Akribie aufmerksam macht.
Während die abstrakte Terminologie der moderne Kunstszene eher persifliert wird, findet im Bereich der psychologischen Forschung durchaus auch inhaltliche Aufklärung statt. So versteckt sich hinter dem Buchtitel (“Wellness”) eine – wiederum exzessive – Anwendung des Placebo-Effektes. So mutiert der Roman stellenweise fast zu einem psychologischen Fachbuch, dem sogar Untersuchungen zitiert werden.

Der Autor ist nicht nur ein wacher Beobachter gesellschaftlicher Auswüchse und Verrücktheiten, sondern hat auch großen Respekt vor den Prägungen und Verletzungen, die Menschen in ihren Herkunftsfamilien erfahren. Für beide Protagonisten wird das in entsprechenden Rückblenden nachvollziehbar hergeleitet.

Der Autor ist zwar ein Meister im Entlarven von Abstrusitäten des American Way of Live (dem wir ja traditionell in weiten Teilen nacheifern), er ist jedoch alles andere als ein kalter, distanzierter Zyniker. Obwohl Hill bei seinen Analysen auch gerne in Klischees schwelgt, ist doch immer wieder der Menschenfreund zu spüren, dem die Ursachen und Hintergründe für menschliche Schwächen nicht fremd sind.
Vielleicht bleibt sogar für Jack und Elisabeth am Ende noch ein Hoffnungsschimmer?

Nathan HILL hat einen modernen, unterhaltsamen, intelligenten, nachdenklichen, anrührenden und extrem amüsanten Roman geschrieben – über eine Ehe, über die Folgen von biografischem Ballast und über unsere überdrehte, in Teilen auch abgedrehte Gegenwartskultur.
Mehr kann man von einem Buch nicht verlangen!

Und doch eine kleine Warnung, was das Lesevergnügen trüben könnte: Es gibt sicher Leser/innen, die mit dem ganzen modernen Kram (Social Media, Helikopter-Erziehung, Polyamorie, zeitgenössische Kunst, psychologische Finessen) so gar nichts am Hut haben. Oder die eher eine seriöse, traditionelle Sprache vorziehen.
Für diese gäbe es vielleicht doch eine bessere Wahl.

“Echtzeitalter” von Tonio SCHACHINGER

Bewertung: 3 von 5.

Der 32-jährige Autor stammt aus einer bikulturellen Familie und lebt in Wien, dem Schauplatz dieser Erzählung. Sie wurde als “Roman des Jahres 2023” ausgezeichnet. Das sollte eine gute Grundlage für eine Lese-Entscheidung sein.

Wir Lesenden nehmen Anteil an der persönlichen und schulischen Entwicklung des Protagonisten “Till” und begleiten ihn durch die letzten Jahre seiner gymnasialen Ausbildung in einem traditionellen Wiener Internat (das er allerdings nur als Tagesschüler besucht). Dabei werden wir mit einer autokratischen Lehrerpersönlichkeit konfrontiert, die man eher in der erste Hälfte des letzten Jahrhunderts ansiedeln würde. Im krassen Kontrast zu dieser absurd wirkenden Zeitreise in eine vergangen geglaubte pädagogische Diktatur stehen die anderen Aspekte von Tills Alltagsleben: seine durchaus modernen Beziehungen zu einem recht “exzentrischen” sozialen Netzwerk und seine Leidenschaft für ein bestimmtes Echtzeit-Strategiespiel (AoE2). Die fast grenzenlose Hingabe an diese digitalen Gaming-Welten führen schon früh zu einer Kompetenz, die ihm in der Szene überregionale Anerkennung und sogar materiellen Erfolg verschafft.
Eingebettet ist diese “Coming-of-Age”-Story in einen österreichische und speziell wienerischen Kontext, der kulturelle, gesellschaftliche und politische Aspekte umfasst.

Die Leistung des Autors besteht wohl in erster Linie darin, das Erleben eines in elitärer Umgebung heranwachsenden Wiener Schülers aus einer glaubwürdigen Innenperspektive beschrieben zu haben. Es geht um das mehr oder weniger trickreiche Überleben unter erstaunlich repressiven Bedingungen, um das Erschleichen von Freiräumen, die ersten Beziehungserfahrungen, das Jonglieren mit unterschiedlichen Lebenswelten.
Parallel dazu – auch hier zeigt sich ein starker Kontrast – hat das Buch auch etwas sehr “Erwachsenes”: Aus einer distanzierten Meta-Perspektive werden Prozesse und Zusammenhänge eher abstrakt analysiert und Bezüge zu einem weiten Kanon an humanistischen bzw. literarischen Inhalten eingestreut.

So wie das Leben von Till strahlt der Roman eine große Portion Zwiespältigkeit aus: Als Jugendbuch ist er zu überladen mit hochkulturellen Details und lokal-politischen Anspielungen; für eine Gesellschaftsanalyse wird die jugendspezifische Perspektive überstrapaziert. Als Leser/in befindet man sich irgendwie dazwischen – so wie Till in seinen beiden Lebenswirklichkeiten.

Ein Problem hat Echtzeitalter mit seiner Glaubwürdigkeit: Während es kaum Probleme macht, in die Grenzen austestende, mit viel Alkohol unterfütterte Jugendwelt abzutauchen, gerät der Ausflug in die alte Pauker-Tradition doch etwas künstlich und konstruiert: Man mag kaum glauben, dass einzelne Lehrerpersönlichkeiten in der Echtzeit noch so prägend und scheinbar mit absoluter Macht ausgestattet agieren können. Das alles wirkt doch ein wenig klischeehaft aufgebauscht.
Einem deutschen Leser könnte es auch ein bisschen viel Österreich und Wien sein.

Was soll’s: Die Literatur-Kritik ist begeistert, es muss ja etwas dran sein.
Ein Buch für Heranwachsende ist dieser Roman aber sicher nicht. Eher ein Einblick für die ältere Generation, die u.a. einen ziemlich authentischen Eindruck davon gewinnen könnte, wie fremd ihr bestimmte Aspekte der Jugendkultur sind.


“Futurum II” von B.F. SKINNER

Bewertung: 4.5 von 5.

Wie um alles in der Welt kommt man im Jahre 2024 darauf, eine Publikation zu lesen, die im Jahre 1948 erstmals veröffentlicht wurde und keineswegs aus einem – möglicherweise zeitlosen – literarischen Kontext stammt?
Es wird noch seltsamer: Der Autor, B.F. SKINNER, ist in psycho-wissenschaftlichen Kreisen als ein beinharter “Behaviorist” bekannt, Er führte damit die Lernforscher an, die ausschließlich das beobachtbarem Verhalten als sinnvollen Forschungsgegenstand akzeptierten und ihre Grundlagenforschung überwiegend durch Tierexperimente betrieben (u.a. in den berühmten “Skinner-Boxen”).
Wenn ein solch nüchterner Hardcore-Wissenschaftler den Versuch macht, einen utopischen Gesellschaftsentwurf in Romanform zu verfassen – was sollte dabei bitte herauskommen? Und was sollte uns das heute noch sagen?
Es war die Recherche für ein eigenes Buch-Projekt, das mich zu dem Entschluss brachte, Futurum II nach ca. 50 Jahren noch einmal zu lesen – eine zweifellos gute Entscheidung.

SKINNER konstruiert eine Rahmenhandlung, die es ihm ermöglicht, seine Vorstellungen über eine durch wissenschaftliches “Verhaltens-Management” strukturierte Gemeinschaft überwiegend in Dialogform kundzutun: Er schickt eine sechsköpfige akademische Besuchergruppe einige Tage in die ländlichen Muster-Siedlung “Futurum II” (im Original “Walden II”) und schildert neben den Eindrücken des professoralen Ich-Erzählers vom Alltag der Bewohner insbesondere die kontroversen Gespräche zwischen dem Gastgeber, dem “Erfinder” des Projektes, und einem der Besucher, einem extrem kritischen Philosophen.
Indem der Autor die inhaltlichen Auseinandersetzungen über die Prinzipien des Zusammenlebens mit den Charakteren der Figuren verwebt, wird die akademisch-weltanschauliche Grundsatzdiskussion personalisiert und emotionalisiert und damit – so offensichtlich der Plan – attraktiver auch für ein breiteres Publikum.

SKINNER verfolgt mit diesem Romanprojekt ganz offensichtlich eine ernsthafte Mission: Er ist überzeugt davon, dass die systematische (und experimentell kontrollierte) Anwendung von psychologischer Verhaltenssteuerung deutlich besser dazu geeignet wäre, menschliches Zusammenleben glücklich, harmonisch und produktiv zu gestalten, als dies durch politische Ideologien, religiöse Systeme oder das freie Spiel von Marktkräften möglich ist. Das kann man für vermessen oder völlig realitätsfremd halten – aber ein Nachdenken darüber ist tatsächlich sehr anregend.

Der Autor hat es nämlich geschafft, eine Szenerie zu entwerfen, die nichts mit dem mechanistisch anmutenden “Operationalen Konditionieren” (Verstärkungslernen) in einer Sinner-Box gemein hat. Letztlich beschreibt er eine Art große und perfekt organisierte Landkommune, in der Arbeit, Erziehung, soziales Miteinander und kulturelles Leben so gestaltet sind, dass man diese Verhältnisse heute als gemeinwohlorientiert, achtsam und nachhaltig bezeichnen würde.
Lässt man einige – eher unwichtige Besonderheiten (z.B. extrem frühe Eheschließungen) – außer acht, wirken die Regeln und Prinzipien dieser Gemeinschaft geradezu visionär modern. Die Art des Wirtschaftens könnte aus einem aktuellen Handbuch über “Degrowth” (Postwachstums-Ökonomie) stammen. Zur Erinnerung: Es geht um ein vor 76 Jahren geschriebenes Buch!

Dieser Eindruck einer frappierenden Aktualität verstärkt sich auf der Meta-Ebene, die durch die permanenten Diskussionen der Protagonisten über das ihnen vorgestellte Gesellschafts-Projekt gebildet wird. Die hier angesprochenen politischen und philosophischen Grundsatzfragen würden heute – mit leicht veränderten Begrifflichkeiten – noch genauso geführt werden: Es geht um das Ausleben bzw. die Einschränkung individueller Freiheiten, die Bedeutung von Privateigentum und Gewinnmaximierung, um Lebensqualität und den berühmten “Freien Willen”.

Die zentrale Frage des Romans fehlt allerdings in der aktuellen Diskussion um lebenswerte und überlebensfördernde Zukunftsszenarien vollständig. Sie ist so stark tabuisiert, dass sich schlichtweg niemand trauen würde, sie überhaupt aufzuwerfen:
Könnten Prinzipien, die sich aus den Erkenntnissen der Humanwissenschaften (insbesondere der Psychologie und den Neuro- bzw. Kognitionswissenschaften) ableiten lassen, nicht sehr viel bessere Lösungen für die Gestaltung menschlichen Zusammenlebens bereithalten als dies Philosophie, Ideologien oder Religionen vermögen? Und wenn ja: Ist es dann wirklich der Weisheit letzter Schluss, unsere “Lebensregeln” durch das mehr oder weniger zufällige Zusammenspiel von traditionellen, politischen und kommerziellen Einflussfaktoren bestimmen zu lassen? Und wenn nein: Muss man dann nicht auch an der Sinnhaftigkeit der Mehrheitsentscheidungen in demokratischen Systemen zweifeln? Und an der Verabsolutierung der individuellen Freiheitsrechte?

Diese kleine utopische Geschichte aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, dieser Ausflug eines Verhaltenswissenschaftlers in die Belletristik, stößt mehr solcher grundsätzlicher Gedanken an, als mancher Regalmeter aktueller Gesellschaftsanalysen.
SKINNER machte 1948 aus seinen Überzeugungen kein Geheimnis. Man mag sich kaum vorstellen, welchen medialen Shitstorm ein solches Buch heute auslösen würde.

(Das Buch ist in Deutschland nur schwer zu bekommen. Ich habe daher die englische EBook-Ausgabe gewählt).

“Being Human” von Lewis DARTNELL

Bewertung: 4 von 5.

Menschliche Geschichte aus verschiedenen Perspektiven heraus zu beleuchten, ist seit einigen Jahren sehr populär – wie insbesondere der sensationelle Erfolg von HARARIs Weltbestseller (Sapiens) unter Beweis gestellt hat. In diesem Fahrwasser bewegt sich der englische Hochschullehrer (für Wissenschaftskommunikation) und Astrobiologe mit diesem Buch. Diesmal wird die Weltgeschichte aus biologischer Sicht betrachtet.
Der Autor hat Antworten auf die Frage zusammengetragen, für welche der großen und weitreichenden historischen Entwicklungen sich ein direkter Bezug zu bestimmten Merkmalen, Bedürfnissen oder Fehlfunktionen des menschlichen Körpers finden lassen.

Da kommt einiges zusammen!
So betrachtet DARTNELL beispielsweise Auswirkungen der Vitamin-Mangelerkrankung Skorbut auf die militärische bzw. machtpolitische Dominanz der Briten im Zeitalter der Segelschifffahrt. Ausführlich werden die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Neigung der Menschen analysiert, ihr internes Belohnungszentrum mit unterschiedlichen Genuss- und Suchtmitteln zu verwöhnen (von Kaffee bis Opium). Die Bedeutung der von den Kolonisten eingeschleppten Infektionskrankheiten für die indigene Bevölkerung beispielsweise auf dem Amerikanischen Kontinent kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden – hier hat die fehlende Immunität gegenüber unbekannten Erregern tatsächlich Weltgeschichte geschrieben. Auch die der Bluter-Krankheit zugrundeliegende Gen-Anomalie hat – angesichts der Neigung der europäischen Königshäuser zu Verwandtenehen – wahrhaft historische Spuren hinterlassen.

Der Autor nimmt sich für seine Darstellungen Zeit: Er taucht tief in die jeweiligen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und militärischen Gegebenheiten ein, richtet den Fokus auf oft übersehene Zusammenhänge und belegt seine Analysen mit oft beeindruckendem Datenmaterial. Aufgrund seiner flüssigen, journalistisch-orientierten Schreibweise folgt man ihm gerne auch in Detailebenen, die man in einem trockenen Geschichtsbuch vielleicht überblättert hätte.

Tatsächlich bekommt man als Lesende/r einen erweiterten Blick auf die Faktoren, die historische Prozesse beeinflusst, gelenkt oder gar ausgelöst haben. Wurde man – zumindest in früheren Jahrzehnten – im Geschichtsunterricht eher auf große Staatenlenker und Heeresführer aufmerksam gemacht, entsteht hier ein völlig anders Bild:
Geschichte besteht (auch) aus einer komplexen Mischung unzähliger “zufälliger” Einflussgrößen. Und ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Wirkmechanismen hat ohne Zweifel etwas mit der biologischen Beschaffenheit der Spezies Mensch zu tun.
Eigentlich banal und selbstverständlich – aber eben oft nicht im Blick.

Im letzten Teil des Buches befasst sich DARTNELL dann noch mit den Besonderheiten des menschlichen Geistes. Er stellt die – inzwischen sattsam bekannten – kognitiven Verzerrungen dar, die unser Urteilsvermögen und unsere Reaktionsweisen auf eine Art mitbestimmen, die oft nicht mehr in unsere moderne Zeit passen.
Es kann bezweifelt werden, ob dieser Abschluss-Schlenker dem Buch gutgetan hat. Er hat nicht die gleiche Tiefe wie die vorangegangenen Kapitel, wirkt ein wenig “angeklatscht”.
Eine Betrachtung, wie die geistige und psychische Bestimmtheit de Menschen sich auf seine Geschichte ausgewirkt hat, wäre wohl ein eigenes (und riesiges) Unterfangen; in dieses Buch passt es jedenfalls nicht so richtig hinein.

Was bleibt ist eine informative, unterhaltsame und detailreiche Lektion in Welt- und Alltagsgeschichte: Unsere Biologie hat sie mitgeschrieben – mehr als wir uns üblicherweise vorstellen können.

“100 Fake News von der Wissenschaft widerlegt” von CURILEUX

Bewertung: 3 von 5.

Ich sage es gleich am Anfang: Ich bin nicht richtig warm geworden mit diesem Buch.

Das hat möglicherweise mit den Erwartungen zu tun, die durch den Titel bei mir ausgelöst wurden. Der Begriff “Fake News” ist bei mir inhaltlich deutlich enger gefasst, als das in diesem Buch der Fall ist. Wo ich davon ausgegangen bin, dass es um – im weitesten Sinne – gesellschaftsrelevante oder politisch kontroverse Themen gehen würde, hat das Autoren-Kollektiv schlichtweg aus allen denkbaren Bereichen (vermeintlich) gängige Fehl-Annahmen zusammengetragen. Diese werden dann – jeweils auf wenigen Seiten – mithilfe wissenschaftlicher Befunde entkräftet.
Wie breit dieser Ansatz ist, vermitteln die Kategorien der Gliederung: Ernährung, Gehirn und Gedächtnis, Mathe und Physik, Umwelt und Klimawandel, Artenvielfalt, Weltall, Gesundheit, Sexualität.

Schaut man sich die einzelnen sog. “Fake News” an, merkt man schnell, welch unterschiedlichen Charakter die einzelnen Themen haben: Es reicht von “Spinat verleiht Superkräfte”, über “Frauen können kein Mathe” bis zu “Pornografie ist gefährlich”.
Um es klar zu sagen: Klassische Fake News sind eher in der Minderheit. Manchmal wirkt die Zuordnung tatsächlich ein wenig krampfhaft.

Was leistet nun dieses Buch?
Ohne Zweifel erweitert das Lesen dieses Textes auf eine lockere, humorvolle und unterhaltsame Art das Allgemeinwissen. Wenn auch der halbwegs gebildete Mensch wohl längst nicht allen hier angesprochenen Fehlannahmen unterliegt – es kann ja nichts schaden, es einmal etwas genauer erklärt zu bekommen.
Dankenswerter Weise sind die Texte allgemeinverständlich geschrieben, so dass sich für neugierige Menschen keine sprachlichen Schwellen auftun.

Interessant ist der Hintergrund der Autorengruppe: Es ist eine Vereinigung von Journalisten/Journalistinnen und Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen, die in den französischen Social-Media-Kanälen seit Jahren aktiv sind. Ihr Ziel ist Aufklärung und Abbau von Desinformation und Vorurteilen.

Dieses Buch kann durchaus z.B. ein nettes Geschenk für neugierige Menschen darstellen; Genau das ist auch eine der Bedeutungen des Namens (und des Mottos) der Herausgeber/Autoren: (Curieux!).


“Sprich mit mir” von T.C. BOYLE

Bewertung: 4 von 5.

Nicht zuletzt die moderne Hirn- und Bewusstseinsforschung haben dafür gesorgt, dass die Grenzen zwischen Mensch und Tier deutlich unschärfer geworden sind. Einigen Tierarten werden inzwischen erstaunliche kognitive und soziale Kompetenzen zugeschrieben; ergänzend dazu sind die Spuren unserer biologischen Abstammung in unserem Fühlen und Denken immer deutlicher zu belegen. Da liegt es natürlich nahe, nach den “Berührungspunkten” zwischen uns und den nächsten Verwandten zu schauen, den Schimpansen. Das wird in der Verhaltensforschung auch gemacht, auch in Bezug auf die Möglichkeiten der (“sprachlichen”) Kommunikation.
Genau an diesem Punkt setzt BOYLE an: Was könnte alles passieren – so fragt er sich in diesem Roman – wenn bei einem Experiment zur Aufzucht in einer menschlichen (familiären) Umgebung eine tiefe emotionale Beziehung entstehen würde – über die Grenzen der Arten hinweg?

Als (eine mögliche) Antwort liefert der Autor eine lebendige, spannende und durchaus auch tiefgründige Romanhandlung, die das Thema in einer Intensität und Konsequenz auslotet, die den Leser/die Leserin immer wieder an Grenzen der Nachvollziehbarkeit führt. Es scheint das Ziel von BOYLE gewesen zu sein, genau diese Grenzen auszuloten und mit ihnen zu spielen.
Jede/r wird in dieser Tier/Mensch-Beziehungsgeschichte “Ausstiegs-Stellen” finden, an denen man nicht mehr folgen kann oder will. Die meisten allerdings werden höchstwahrscheinlich trotzdem weiterlesen; hier liegt wohl das Geheimnis dieses Romans.

BOYLE bedient sich eines geschickten Mix verschiedener Genres: er schreibt gleichzeitig eine Liebesgeschichte, einen Krimi, einen Wissenschafts- und ein Tierschutz-Roman. So sorgt er dafür, dass jede/r einen Motivationsanker findet.
Eine durch und durch sympathische Figur bietet der allerdings Autor nicht an – nicht einmal der Affe (Sam) ist ohne Fehl und Tadel. Dafür gibt es aber den klassischen Bösewicht, den man zur Gegen-Identifikation, also als Feindbild, nutzen kann. Das kann man ein wenig klischeehaft finden (muss es aber nicht).
Lässt man sich lange genug auf die Story ein, wird es irgendwann fast egal, ob man den grundlegenden Ausgangsbedingungen (die hohe sprachliche Intelligenz des Schimpansen und die Intensität der Mensch/Tier-Beziehung), für realistisch hält. Ab diesem Punkt trägt einen die Geschichte als Selbstläufer weiter.

Einer Auseinandersetzung mit der kontrovers diskutierten Frage der Tier-Ethik kann man als Leser/in dieses Romans nicht ausweichen. BOYLE setzt dabei auf drastische Details, lässt die Geschichte für sich sprechen und verzichtet auf intensivere Grundsatz-Dialoge zu diesem Thema. Man kann davon ausgehen, dass der Autor den Extrem-Fall “Sam” nutzen will, um generell für die Problematik der Tierversuche zu sensibilisieren. Ob das der richtige Weg ist, muss wohl jede/r selbst entscheiden.

Letztlich wird hier ein gut lesbarer und unterhaltsamer Roman angeboten, der es dem Publikum überlässt, auf welcher Ebene es sich ansprechen bzw. berühren lässt.
Vielleicht ist das nicht das Schlechteste, was man über ein Buch sagen kann.

“Tun, was getan werden muss” von Alexander MacLeod

Bewertung: 4 von 5.

Der kanadische Schriftsteller und Literatur-Professor MACLEOD legt in diesem Band acht Kurzgeschichten vor, die allesamt einen ganz eigenen Charakter haben. Es sind nicht nur ganz unterschiedlichen Welten, in die uns der Autor führt – er schafft auch völlig verschiedene Atmosphären und löst damit sehr spezifische Gefühle aus.

Den inhaltlichen Rahmen bieten u.a. eine Elternschaft nach Trennung, die entscheidende musikalische Aufführung eines jungen Pianisten, die schwesterliche Solidarität in einer Ausnahmesituation, der Besuch bei einer älteren Dame und das absurde Verhalten eines notorischen Kofferdiebs. Besonderen Eindruck hinterlässt die zufällige räumliche und zeitliche Überschneidung zweier extrem gegensätzlicher Welten in einem Motel (“Die Schlüsselübergabe”).

MACLEOD spielt mit dem Unerwarteten. Er beobachtet und beschreibt vermeintlich unwichtige Details der realen physikalischen Umgebung, gestaltet genau damit aber eine jeweils ganz besondere Szenerie, in der sich manchmal banale, manchmal extrem absurde Dinge ereignen. Der sprachliche Aufbau der Geschichten liegt dem Autor offensichtlich vordringlich am Herzen. Spätestens nach der dritten oder vierten Story gewinnt man den Eindruck, dass für das Schreiben von MACLEOD die Inhalte und Orte letztlich beliebig austauschbar sein könnten: Es scheint, als könnte er aus jeder Ausgangslage eine besondere kleine Welt zaubern.

Man sollte mit diesen 8 Schätzen sorgsam umgehen, sie nicht wie Kapitel eines Buches hintereinander weglesen. Stattdessen sollte man jeder Geschichte die Zeit geben, ihren spezifischen Charakter zu entfalten und ihn nachklingen zu lassen. Anderseits wäre auch eine Unterbrechung des jeweiligen Gesamtprozesses nicht zu empfehlen.

Diese Sammlung ist etwas für Freunde der literarischen Erzählkunst, die das Spiel mit Details, mit künstlicher Verlangsamung von Abläufen und mit einer lebendigen Bildsprache genießen können. Trotz der ein oder anderen dramatischen Wendung sind es eher leise Geschichten, die feinfühlig darauf aufmerksam machen, was sich alles hinter der Banalität des Alltagslebens verbergen könnte.