“Kopf frei” von Volker BUSCH

Bewertung: 4.5 von 5.

Die Bekämpfung des “digitalen Overflows” hat durchaus Konjunktur. Entsprechende Publikationen fahren z.T. apokalyptischen Szenarien auf, so dass ca. 80% der Menschheit in Angst und Schrecken verfallen müsste – angesichts der eigenen doch sehr regelmäßigen Bildschirm-Nutzung (von den Kids gar nicht erst zu sprechen…).

BUSCH unterscheidet sich von solchen Holzhammer-Methoden sehr wohltuend. Der Psychiater lässt die Kirche im Dorf und droht nicht gleich mit dem Untergang des Abendlandes bzw. mit der totalen Verblödung durch Smartphone & Co.
Der Autor kommt sozusagen von der anderen Seite: Er definiert erstrebenswerte Ziele und zeigt – realistische – Wege zu deren Erreichung auf.
BUSCH führt keinen Kulturkampf gegen die Digitaltechnik, sondern er lädt ein zu einer systematischen Pflege unseres Gehirns, seiner Funktionen, Kapazitäten und Ressourcen.
Sehr sympathisch ist es auch, dass der Autor keineswegs auf der Selbstoptimierungs-Welle surft, sondern ganz “normale” Dinge auf seiner Agenda hat: Es geht um so (scheinbar) banale Dinge wie Aufmerksamkeit, Konzentration und Kreativität.

BUSCH möchte, dass wir die Kontrolle zurückgewinnen – insbesondere über unsere Aufmerksamkeit (“unser wertvollstes Gut”). Sein Buch möchte zwar auch Wissen (über die Arbeitsweise unseres Gehirns) vermitteln, im Vordergrund steht aber eine möglichst große Autonomie. Wir sollen selbst bestimmen können, was mit den (begrenzten) Ressourcen unserer Geisteskräfte passiert. Und das ist natürlich deshalb wichtiger als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte, weil eine ganze (digitale) Industrie darauf aus ist, unsere Aufmerksamkeit systematisch zu besetzen.

Die Vorschlage von BUSCH sind alle nicht spektakulär: Es geht um Selbst-Management, um Pausen, um Aus- und Entspannungszeiten (“tiefe Stunden”). Aber der Autor hat eine gut Strategie: Er bezieht sich auf einschlägige Untersuchungen, schlägt realistische Alltagsstrategien vor und hat Verständnis für Ambivalenzen und Disziplinschwächen.

Insgesamt legt BUSCH einen seriösen und pragmatischen Ratgeber vor, der allen Menschen nützen könnte, die sich – ob beruflich oder privat – häufiger in den Untiefen der digitalen Informationsflut verlieren. Voraussetzung ist: Man will nicht höher, schneller, weiter – sondern intensiver, ausgewählter, kritischer.
Auch BUSCH will letztlich die digitale Flut begrenzen – aber er bietet dafür eine verlockende Alternative!

Die ersten Tage

In erster Linie dient mein politischer Blog wohl als eine Art Tagebuch. Die paar Menschen, die meine Gedanken lesen, sind dabei eine – sehr willkommene und sehr geschätzte – Zugabe. Jedenfalls ist mir gerade klargeworden, dass es Zeit wird, etwas zur neuen Regierung zu schreiben – sonst würde im Rückblick wirklich etwas fehlen.

Ich war sehr angerührt von der Atmosphäre am Tag der Kanzlerwahl und der Minister-Vereidigung. Einmal, weil ich dankbar dafür war, in einem Land leben zu dürfen, in dem ein “Machtwechsel” so gesittet, zivilisiert und geradezu harmonisch ablaufen kann. Wir haben funktionierende Institutionen, es gibt einen demokratischen Grundkonsens (mit einer ärgerlichen Ausnahme) und eine zweifelsfreie Akzeptanz der verfassungsmäßigen Spielregeln. Dass diese an einem solchen Tag auch etwas Steifes, Formelles beinhalten, hat mich nicht gestört. Es darf auch mal pathetisch sein.

Noch wichtiger war aber ein anderer Aspekt: In diesen (vielen) Stunden meiner medialen Begleitung (ich bin mir des Zeit-Privilegs bewusst) habe ich unfassbar viele Szenen beobachten können, in denen sich sympathisch und freundlich wirkende Menschen auf eine herzliche, offene und zugewandte Art begegnet sind. Das waren alles Potitiker/innen, viele davon erstaunlich jung, sehr viele davon weiblichen Geschlechts. Das waren ganz überwiegend Menschen, die ich mir problemlos in meinem privaten Umfeld vorstellen könnte.
Ist es nicht ein tolles Gefühl, von solchen Menschen “regiert” zu werden – die so gar nicht in das Schema von “denen da oben” passen, die so gar nicht eine “abgeschottete Welt für sich” repräsentieren?! Für mich sind das (überwiegend) Menschen guten Willens – und keine abgezockten Macht-Zyniker.

Ich habe mir die Frage gestellt, ob ich mich schon einmal in den letzten (politisch bewussten) 50 Jahren so gut repräsentiert gefühlt habe, mich so weitgehend identifizieren konnte? Nur zwei vergleichbare Momente fielen mir ein: Das “Willy wählen” von 1972 und den Regierungsbeginn von Rot/Grün im Jahre 1998.

Komischer Weise fühle ich mich aktuell tatsächlich eher von etwas und deutlich jüngeren Parlamentariern und Funktionsträgern vertreten. Es freut mich, diese noch weitgehend unverbrauchten Gesichter zu sehen. Ich habe das Gefühl, dass Politik in diesem Moment wirklich (endlich wieder) etwas mit Zukunft zu tun hat. Das stimmt mich optimistisch. Ja, ich spüre sogar etwas wie Stolz auf unser Land.

Es erscheint fast unwirklich, mit welcher atemberaubenden Geschwindigkeit sich einige dieser neuen Minister/innen in ihre Rollen und Funktionen gestürzt haben.
Es erscheint geradezu surreal, dass Annalena Baerbock seit drei Tagen wie selbstverständlich als Außenministerin agiert. Man wundert sich, dass man sich gar nicht die Augen reibt…

Keine Sorge: Ich bin nicht naiv geworden und werde auch ab jetzt keine Schönfärberei betreiben. Natürlich ist nicht alles gut; natürlich sind nicht alle Interessensgegensätze verschwunden.
Aber: Ein Großteil der Welt beneidet uns sicherlich im Moment für diesen Regierungsstart. Es ist gut zu wissen, dass wir ein Teil der Stabilität in dieser von Problemen und Herausforderungen durchgeschüttelten Welt sein können.

Lasst uns alle die Daumen drücken und vielleicht mit dazu betragen, dass nicht gleich alle Hoffnungen und jede Aufbruchstimmung zerredet und vermiest wird – von den Dauer-Nörglern und Zuspitzern.

Und ja: Annalena ist nicht mit dem Fahrrad nach Paris, Brüssel und Polen gefahren. Eine Außenministerin muss nicht wie eine Greta handeln. Auch ihr wünsche ich viel Erfolg!

“Schluss mit der Meinungsfreiheit” von Florian SCHRÖDER

Bewertung: 3.5 von 5.

SCHROEDER ist der Schnelldenker und Schnellsprecher unter den Kabarettisten. Die volle Dröhnung liefert deshalb das von ihm eingesprochene Hörbuch.

Es handelt sich hier nicht um ein Buch, das “mal eben” ein hippes Thema abgrast, um den “schnellen Euro” zu machen. Normal gelesen würden die ca. 370 Seiten nicht neun, sondern eher 13 Stunden in Anspruch nehmen.
Der Autor legt eine umfassende und brandaktuelle Analyse vor, in dem alle denkbaren Facetten des Themas ausgeleuchtet werden – einschließlich der Meinungsfreiheit in Wissenschaft und Kunst. Nicht überraschend ist, dass der Schwerpunkt bei Medien und im Internet liegt und dass Querdenker und Verschwörungstheorien ihren Raum bekommen.

Als eine Art Rahmenhandlung dient die Aktion von SCHROEDER auf einer Querdenker-Demo: Er hatte sich zuvor eine passende Identitätswandlung erarbeitet und war auf dieser Basis als vermeintlicher “Freund” eingeladen worden – um sich dann dort (als eine Art Trojanisches Pferd) als Mahner der Vernunft zu outen. Es bleibt nicht verborgen, dass SCHROEDER ziemlich stolz auf diesen Coup ist.

Das Buch appelliert an Vernunft, Toleranz und Maßhalten. Exemplarisch für die aktuellen Überreaktionen werden zwei Figuren eingeführt, die sich gegenseitig in ihrer Aufgeregtheit in die Extreme drängen: Die hypersensible “Helen” ist permanent auf der Suche nach “Inkorrektheiten” in Sprache oder Verhalten; ihr moralischer Zeigefinger ist permanent erigiert und ihre Anklage ist unerbittlich und kompromisslos; das Urteil lautet fast immer “Ausschluss” von Meinung und Person. “Hans-Peter” steht auf der Gegenseite und nimmt seinerseits dankbar-erregt jede kritische Anmerkung und jede gesellschaftliche Entwicklung als untrügbares Zeichen für Meinungszensur und Gesinnungsterror.
Schröder selbst sucht sich einen Platz in der Mitte, von dem aus er beide Überdrehtheiten genussvoll sezieren kann.

Ohne Zweifel: SCHROEDER hört sich gerne formulieren! Er scheint geradezu verliebt in seinen ausgesucht intellektuell-ironischen Stil zu sein. Seine Zielgruppe ist das akademisch-aufgeklärte und sprachgewandte Milieu. Wer so ein Buch liest (oder hört) ist sowieso schon weit weg von den Populisten und Pauschalisten. Wer ihn auf der Bühne (oder im Hörbuch) genießen will, muss schon ein deutlich erhöhtes kognitives Verarbeitungstempo aufbringen.

Der Autor ist klug und ein aufmerksamer Beobachter unserer aufgeregten Zeit. In vielen Analysen und Schlussfolgerungen mag man ihm gerne zustimmen. Ein gewisses Problem ergibt sich dadurch, dass SCHROEDER auch ein meinungsstarker Mensch ist. Und dazu kommt: So ganz sauber werden Beobachtungen und Meinungen nicht auseinandergehalten!
Es zeigt sich da ein Widerspruch: SCHROEDER appelliert zwar auf der Meta-Ebene an sein Publikum, sich mit Statements aller Art kritisch und abwägend auseinanderzusetzen, Fakten und Quellen sorgsam zu prüfen und sich von Einseitigkeiten nicht bedrängen zu lassen. Doch stellt er wenige Sätze später seine persönlichen Überzeugungen mit dem Tenor der selbstverständlichen Gültigkeit dar. Eh man sich versieht, hat man plötzliche eine Meinung abgenickt – weil doch alles vorher so logisch und vernünftig klang…
So muss z.B. nicht jede/r seine Überzeugung teilen, dass immer Vorsicht geboten ist, wenn moralische Argumente in eine Diskussion eingebracht werden (warum sollte man beim Klimaschutz nicht auch moralisch sein dürfen?). Auch bei seinem Entsetzen bzgl. der ursprünglich weniger auf Datenschutz getrimmten Corona-App kann man mit guten Gründen ganz anderer Meinung sein (eine “schärfere” App hätte uns sehr wahrscheinlich zig Milliarden und den ein oder anderen Lockdown erspart).

Das Buch ist intelligent, informativ, aktuell und unterhaltsam. Es liefert extrem viele Denkanstöße, auf deren Basis man das momentane gesellschaftliche Treiben klarer sehen und dessen Thesen man tagelang diskutieren könnte. Die Thematik der “Meinungsfreiheit” wird umfassend beleuchtet – in einer lockeren, aber niveauvollen Weise.
Einschränkend wäre der selbstverliebte und selbstgewisse Stil zu erwähnen – der Autor vermag seine “Bühnen-Persönlichkeit” nicht zu verstecken. Bei einer Empfindlichkeit in diesem Bereich würde vermutlich der gedruckte Text eher akzeptabel sein, weil er sicher mehr kritische Distanz ermöglich als der in schwindelerregendem Tempo dahinrasene Sprachfluss.

“Die Wurzeln des Lebens” – von Richard POWERS

Bewertung: 5 von 5.

Einer der ganz großen amerikanischen Erzähler hat ein Buch geschrieben, dessen Figuren, Inhalte und Botschaften sich um das Thema “Bäume” rankt.
600 Seiten über Bäume? Kann das gutgehen?
Ob und warum das gelingen konnte, will ich im Folgenden darstellen.

Das Buch startet mit einer Serien von (scheinbar abgeschlossenen) Kurzgeschichten: In acht Kapiteln werden neun Personen vorgestellt, deren Leben und Schaffen irgendeinen Bezug zum Thema (Bäume) haben. Diese kurzen Erzählungen verbreiten schon so viel Atmosphäre, dass bei mir einen Moment das Gefühl entstand, es könne einfach so weitergehen: Wenn dieses Buch nur weiter aus solchen dichten und anregenden Szenarien bestehen würde, wäre ich vollauf zufrieden. Nach einer kurzen Vergewisserung war dann klar: Die “Wurzeln” (so ist der erste Teil des Buches benannt) würde zu einem “Stamm” führen, der die Personen zusammenführt, bevor sie sich dann in einer “Krone” verästeln und sich in unterschiedlichen Formen von “Samen” weiterverbreiten.
Das ist schonmal eine geniale Idee: einem Buch über Bäume die Struktur eines Baums geben – so verwachsen Inhalt und Metapher zu einem literarischen Organismus.

Von den geschilderten – ganz verschiedenen – Ausgangslagen aus entwickeln sich alle Protagonisten zu Umwelt-Aktivisten, klar auf das Ziel zentriert, der Vernichtung der Wälder irgendwie Einhalt zu gebieten. Die Wege und Methoden wandeln sich, sie werden zunehmend radikaler.
Warum das so unvermeidlich erscheint und welche dramatischen Folgen das hat, das ist der menschliche Handlungszweig dieses Romans. Das ist ergreifend, emotional, spannend und tiefgründig.

Aber – man kann es nicht anders sagen – die Hauptperson dieser mächtigen Erzählung ist der Baum! Der Baum als Gattung, der Baum als Symbol für die (nicht-menschliche) Natur, der Baum in seiner unendlichen Arten- und Formvielfalt, der Baum als Teil des unfassbar komplexen Systems “Wald”, der Baum als wesentliches Element einer – noch in weiten Teilen unverstandenen – Biosphäre, der Baum als lebendige Spur der Geschichte von Jahrhunderten, der Baum als Zeuge für einen unfassbaren und extrem selbstzerstörerischen Feldzug des Menschen gegen seine natürlichen Lebensgrundlagen.

Nach der Lektüre dieses Romans wird es wohl nahezu allen Leser/innen völlig ausgeschlossen erscheinen, dass irgendjemand in einer vergleichbaren Intensität, Vielschichtigkeit, Sprachgewalt und mit einer solchen unglaublichen Faktenfülle über Bäume schreiben könnte – ihr Aussehen, ihren Stoffwechsel, ihr Eingebundensein, ihre Kommunikationskanäle, ihren Nutzen, ihre Ästhetik, ihre Ausstrahlung, ihre emotionale Wirkung auf Menschen, …
POWERS gelingt dabei geradezu perfekt eine kniffelige Gradwanderung: Er will in seinem ganzheitlichen Ansatz den Baum gleichzeitig mit aller naturwissenschaftlicher Akribie und mit poetischer, geradezu lyrischer Sensibilität erfassen. Methodisch löst er dies auf eine elegante Art, indem seine neun Hauptfiguren unterschiedliche Facetten der “Baum/Mensch-Beziehung” leben – alle auf ihre Art hingebungsvoll.

Natürlich hat POWERS dieses Buch als Appell an die Menschheit geschrieben: “Haltet diesen Wahnsinn der Naturzerstörung auf!” Das Buch bietet unzählig viele Gründe und Argumente für die Notwendigkeit einer radikalen Umkehr.
Doch der Autor ist kein naiver Gutmensch: Sein Roman beschreibt auch, welche Gefahren lauern können, wenn man sich dem Kampf gegen die mächtigen Gegner vorbehaltlos hingibt. Die offene Frage am Ende des Buches hat damit zu tun, wie viel man als einzelner Mensch beitragen kann und ob der Preis auch zu groß sein kann.

POWERS bietet ein ergreifendes, intensives, bewegendes Leseerlebnis. Wenn man sich auf diese Reise einlässt, hat man danach einen anderen Blick auf die Welt, ein anderes Gefühl zur Welt – das geht gar nicht anders!
Wie klein wir doch sind – angesichts der Baumriesen! Wie kurz doch unser Leben ist – angesichts der Lebensspanne vieler Bäume! Wie egoistisch und kurzsichtig wir doch sind – angesichts der komplexen Einbettung der Bäume in den Naturkreislauf! Wie anmaßend und ignorant wir doch sind – angesichts unserer Abhängigkeit von der Biosphäre!
Dieses Buch vermittelt Demut und Ehrfurcht – ohne auf den Holzweg der esoterischen Beliebigkeit zu verfallen. Es verschafft einen wunderschönen und verstörenden Anlass zum Innehalten.
Ein literarisches Juwel!

Es ist erst ein paar Tage her, dass ich das aktuelle Buch von POWERS zu meinem Buch des Jahres erklärt habe. Dabei bleibe ich hinsichtlich des Erscheinungsdatums.
Für mich aus Leserperspektive stehen im Jahre 2021 jetzt zwei POWERS-Bücher auf dem Siegertreppchen ganz oben.

“Wolkenkuckucksland” von Anthony DOERR

Bewertung: 4.5 von 5.

Die beiden mir bekannten Romane von DOERR (“Winklers Traum vom Wasser“, “Alles Licht, das wir nicht sehen”) zeichneten sich durch hohe sprachliche und emotionale Intensität aus. Deshalb konnte und wollte ich mich ganz schnell ins Wolkenkuckucksland führen lassen. Ich habe mich für die Hörbuch-Variante entschieden.

Der Roman ist kunstvoll konstruiert: Er findet nicht nur auf drei Zeitebenen statt, sondern umfasst in diesen Epochen (Mittelalter, Gegenwart und nahe Zukunft) jeweils auch noch längere Zeitabschnitte, die – zu allem Überfluss – auch nicht immer chronologisch abgearbeitet werden. Als erste Aufgabe an die Leser/innen steht da ein wenig Orientierungsarbeit ins Haus.
Wie sich das für einen solchen komplexen Plot gehört, gibt es natürlich ein verbindendes Element: den fragmentarisch überlieferten altertümlichen Text vom Wolkenkuckucksland, dessen Weg durch die Jahrhunderte zu einer eigenen Geschichte in den Geschichten wird.
Eins wird im Laufe der Erzählung immer deutlicher: DOERR zelebriert mit diesem Roman nicht nur dieses spezielle schriftliche Zeugnis, sondern die Literatur, das Lesen, die Bücher schlechthin.

In diesem beeindruckenden historischen Panorama streckt ein ganzes Kaleidoskop an Themen, Ideen und menschlichen Grunderfahrungen: Es geht um Armut, Krieg, Willkür, Grausamkeit, Wissensdurst, Solidarität, Mitgefühl, Loyalität und Liebe.
Da, wo der Autor seine Schwerpunkte setzt, tut er das mit einer – oft geradezu schonungslosen – Detailtiefe. Wir erleben z.B. die Belagerung Konstantinopels so hautnah, als hätten wir selbst die neuen Kanonenwaffen mit unseren Ochsen herangeschleppt; ebenso teilen wir das Bangen und die verzweifelte Gegenwehr der Eingeschlossenen.
DUERR geht nicht nur dicht heran, sondern benutzt seine Sprachkünste auch zur Vermittlung der Härte des Lebens und des Leidens der Protagonisten.

Egal in welche Zeit wir schauen: die Figuren, die wir kennenlernen, sind alle keine glänzende Helden; sie sind geprägt durch biografische Belastungen und Brüche. Doch sie tragen auch eine innere Orientierung in sich, sind geerdet und geprägt in einem ureigenen Wertesystem. Dabei spielt weniger Intellektualität eine Rolle, es ist eher die “Weisheit der Herzen” (oder “die Kraft der unmittelbaren Menschlichkeit”), die wir in und durch die Protagonisten gezeigt und vorgelebt bekommen.
Natürlich gibt es zahlreiche Bezüge zwischen der verbindenden “Ur-Geschichte” vom Wolkenkuckucksland und den Handlungssträngen des Romans. Dieses Buch ist so überbordend gefüllt mit Metaphern, Bildern, Anspielungen und philosophischen Ideen, das man es sicher mehrfach lesen (oder hören) müsste, um dem wirklich gerecht zu werden.

Dieses Buch lädt zum Eintauchen und Verweilen ein. Es ist keine leichte und schnelle Kost. Es nimmt einen mit in den Schlamm, den Schmerz, die Ohnmacht – und zeigt gleichzeitig auch die Kraft und die Sinngebung zum Weiterleben.
So wie der Text des Wolkenkuckucksland über die Generationen und Jahrhunderte überliefert wurde, ist vielleicht auch das Leben des Einzelnen nur eine kleine Stufe auf der historischen Treppe der Menschheit. Sollten wir uns möglicherweise selbst nicht so fürchterlich wichtig nehmen?

Die Grundcharakteristik des Romans ist möglicherweise auch eine (kleine) Schwäche: Man muss schon Gefallen finden an solch einer verschachtelten Komposition, man muss Vergnügen daran finden, sich in die Stränge hineinzuarbeiten – sonst kann es auch als verwirrend, anstrengend oder gar als Zumutung empfunden werden.
Auch die Detailtiefe kann schon mal nervig werden: Wieviel Geduld hat man als Leser/in bei der (gefühlt stundenlangen) Begleitung des Ochsengespanns Richtung Konstantinopel?

Sich dieses Buch als Hörbuch zu gönnen, ist ganz sicher keine schlechte Idee. Frank ARNOLD ist ein toller Sprecher, der mit seiner Stimme ein absolut stimmiger Erzähler für diese ausladende Geschichte ist.
Ein kleiner Tipp: Legt euch in der ersten Stunde einen kleinen Zettel bereit, auf dem ihr kurz die Namen der Protagonisten, die Zeit bzw. den Handlungsort notiert. So sind dann die Wechsel der Ebenen leichter nachzuvollziehen. Später ist das dann kein Problem mehr…

Hat es sich gelohnt?

Ein kleines Gefühl von Aufbruch ist entstanden – ganz zu Beginn der Sondierungsgespräche – symbolisiert durch das berühmte Selfie.
Und jetzt – nur noch Frust?

Natürlich habe ich für die Annahme des Koalitions-Vertrages gestimmt. Ich bin ja schließlich ein “Realo”, dem auch kompromissbehaftete Schritte lieber sind als ein verschmollter Rückzug.
Aber: Begeisterung sieht sicher anders aus!

Meine größte Enttäuschung ist schon sehr früh in diesem Jahr entstanden, ganz am Anfang des Wahlkampfes. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass in einer historisch so besonderen Situation, in der der Staat Unsummen für Corona ausgeben musste und die Herkulesaufgabe der Nachhaltigkeits-Wende bevorstand, die Unionsparteien und die FDP ihr höchste Berufung darin sahen, die Spitzenverdiener und Vermögenden von jedem solidarischen Sonder-Beitrag zur Finanzierung der dringlichen Aufgaben zu schützen.
Eine – aus meiner Sicht – geradezu erbärmliche und verantwortungslose Klientelpolitik, ausgerechnet für die Gewinner der letzten Boom-Jahre.
Auf dieser Grundlage (ergänzt um das starre Festhalten an der Schuldenbremse) waren die finanziellen Optionen der Ampel von Anfang an stark begrenzt.

Eindeutig positiv sind wohl die grundlegenden Weichenstellungen im Energie-Sektor zu bewerten. Überhaupt: An den großen Vorgaben mangelt es nicht; das 1,5-Grad-ZIel scheint zumindest in Reichweite zu sein. Trotzdem sind eine Reihe von Einzelergebnissen sehr enttäuschend: Über das symbolträchtige Tempolimit wurde schon oft genug gesprochen, auch ein wirklich tatkräftiger Vorstoß in Richtung Fahrrad-Verkehrswende und “Güter auf die Bahn” ist nicht zu erkennen. Bei der CO2-Bepreisung ist man angesichts der aktuellen Marktsituation eingeknickt.

Von unserem Star-Philosophen PRECHT wurde es schon vor einigen Wochen vorauseilend kritisiert: Sollten die GRÜNEN das Außenministerium anstreben, wäre das ein Verrat an den wirklich bedeutsamen Themen und könne letztlich nur der persönlichen Eitelkeit von Annalena BAERBOCK nützen.
Mich überzeugt das Schlechtreden nicht wirklich: Ich halte das Ziel einer “Klima-Außenpolitik” für durchaus nachvollziehbar: Alles, was international in Bewegung gebracht werden kann, könnte die Wirkung von deutschen Maßnahmen potenzieren. Und eine stärker wertegebundene Außenpolitik halte ich auch für erstrebenswert.
Soll sie sich doch bewähren, unsere Annalena! (An Joschka FISCHER hat anfangs auch kaum jemand geglaubt).

Die Corona-Lage hat den inneren Zusammenhalt der Ampel schon vor deren Start belastet und getestet. Ich hoffe sehr, dass sich die FDP zu späteren als Zeiten daran erinnert, wie solidarisch jetzt die GRÜNEN den völlig verunglückten “Freiheits-Trip” mitgetragen haben. Mal sehen, ob bei Gegenwind im Energiebereich die Reihen genauso geschlossen bleiben.

Die gefeierte und beschworene “gesellschaftliche Erneuerung” ist mich nicht ganz so bedeutsam. Ich bin nicht in allen Bereichen sicher, ob wir wirklich mehr Individualismus und Freiheitsspielraum brauchen (z.B. sehe ich das Transgender-Thema deutlich differenzierter, als das GRÜNE und FDP tun).

Ich bedaure es sehr, dass diese entscheidende Anfangsphase der neuen Koalition so massiv überschattet ist. Ich hätte der Ampel einen schwungvolleren und zuversichtlicheren Start sehr gewünscht; es hätte uns allen vermutlich gutgetan.
Auch der Fundi/Realo-Streit war ein ärgerlicher Stimmungskiller. Schade, aber wohl unvermeidlich.

Diese wahrhaft gemäßigte Regierung als “links-gelb” zu bezeichnen, ist geradezu grotesk – und kann nur als vorgezogener Wahlkampf-Gag der Union verstanden werden.
Wir haben eine Regierung, die gemeinsam auf Wohlstand und Wachstum setzt – in einer dekarbonisierten Wirtschaft.
Unser Planet braucht ganz sicher eine sehr viel grundsätzlichere Umsteuerung. Ich hoffe sehr, dass die GRÜNEN diese Zielsetzung auf dem mühsamen Weg der Realpolitik nicht ganz aus den Augen verlieren…

“Material Girls – Why Reality Matters for Feminism” von Kathleen STOCK

Bewertung: 4.5 von 5.

Vorweg eine Warnung:
Hier schreibt ein binär-heterosexueller “Alter Weißer Mann” über das Buch einer lesbischen Feministin, die sich kritisch mit der aktuellen “Transgender-Theorie” auseinandersetzt.
Damit ist ein so weiter Bogen aufgespannt, dass wohl eine Entscheidung ansteht: Entweder man hält dieses Unterfangen (also meine Rezension) für eine Anmaßung (oder mindestens als vom Prinzip her irrelevant) – oder es entsteht erst recht eine Neugier: Kann man aus dieser neutral-distanzierten Perspektive wirklich etwas Substantielles über so ein Buch aussagen? Oder vielleicht gerade?

Zur Motivation:
Wie komme ich dazu, viele Stunden meines Lebens auf das Studium eines englisch-sprachigen Fachbuches zu verwenden, dessen Gegenstand keinen direkten Bezug zu meinem persönlichen und sozialen Leben hat – und das auch nur eine recht kleine gesellschaftliche Minderheit betrifft?
Mit einer gewissen Ratlosigkeit beobachte ich seit einiger Zeit eine Art “Hypersensibilität” gegenüber (vermeintlichen) Diskriminierungen aller Art. Auf diesem Hintergrund wurde ich durch einen Online-Artikel der ZEIT auf die massiven (ideologischen) Konflikte aufmerksam, die die Autorin dieses Buches letztlich zu einer Aufgabe ihrer Professur an einer ehrwürdigen englischen Universität gebracht hat.
Das wollte ich genauer wissen: Welche Haltungen und Äußerungen dieser Hochschullehrerin hat diese Entwicklung ausgelöst? Kann man das nachvollziehen?

Anders als es durch Titel und Cover suggeriert wird, handelt es sich bei “Material Girls” überwiegend um ein extrem gut strukturiertes und didaktisch vorbildlich aufbereitetes Fachbuch. STOCK definiert Begriffe, informiert, argumentiert, nennt (unglaublich viele) Quellen, bezieht sich immer wieder auf die relevanten Protagonisten der Transgender-Diskussion und macht durchweg deutlich, wenn sie nicht als Wissenschaftlerin, sondern als Trägerin einer bestimmten Überzeugung auftritt. Das alles ist vom Aufbau her vorbildlich und macht es auch einem “fremdsprachigen” Leser recht leicht, den Argumentationslinien zu folgen.
Es wird schnell deutlich, dass STOCK ganz bewusst diesen wissenschaftlichen Stil wählt und pflegt, um sich auch auf dieser Ebene von bestimmten Trans-Aktivist*innen (bei diesem Thema ist Gendern alternativlos) zu unterscheiden. Eines ihrer Kritikpunkte besteht nämlich darin, dass sich eine Großteil der aktuellen Trans-Gender-Bewegung einer intellektuellen oder theoretischen Auseinandersetzung entziehe und sich nur noch als politische Kampftruppe verstehe (in der selbst eine gewisse Differenzierung von Konzepten schon als Gegnerschaft verstanden und mit Gesprächsabbruch und persönlicher Verunglimpfung beantwortet werde).

Der Nutzen dieses Buches liegt eindeutig darin, dass man ganz systematisch, Schritt für Schritt in die Thematik eingeführt wird. Es gibt einen historischen Abriss der wesentlichen Entwicklungs-Stufen in den Transgender-Konzepten; die wichtigsten Autor*innen und Publikationen werden vorgestellt. Alle im Kontext benutzten Begriff werden genannt, kritisch hinterfragt und dann hinsichtlich der weiteren Nutzung in dem Text sauber definiert.
Im weiteren geht es dann darum,
– was Geschlecht (“sex”) eigentlich ist,
– warum die (biologische) Geschlechtszugehörigkeit weiterhin ein sinnvolles und unverzichtbares Konzept darstellt,
– was “Gender-Identität” genau ist,
– was eine Frau zu einer Frau macht,
– wie man sich die radikalen Ausprägungen der “Gender-Identität” erklären könnte,
– wie es dazu kommen konnte, dass diese (Transgender-)Bewegung so gesellschaftlich und politisch einflussreich (und damit auch gefährlich für den Feminismus) werden konnte,
– wie ein zukünftiger Umgang der verschiedenen Gruppen miteinander und eine (wissenschaftlich seriöse) Weiterentwicklung der Konzepte aussehen könnte.

Inhaltlich soll es hier exemplarisch um einen (allerdings zentralen) Punkt gehen:
STOCK macht anschaulich deutlich, welche Implikationen das aktuelle Selbstverständnis der Transgender-Bewegung hätte (und in einigen Ländern bereits hat): Der Umstand, das jede Person (völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht) für sich frei eine beliebige “Gender-Identität” definieren kann und dann einen (moralischen und juristischen) Anspruch darauf hat, von seiner sozialen Umgebung, von allen Institutionen und vom Gesetzgeber entsprechend behandelt zu werden – diese Situation führt zu einer Reihe von Absurditäten (die aber von den Aktivist*innen genau so auch gewollt sind): Trans-Frauen (also biologische Männer mit einer selbst-definierten weiblichen Gender-Identität) hätten/haben so das Recht auf Zugang zu allen Bereichen, Einrichtungen und Aktivitäten, die bisher (aus guten Gründen) nach Geschlecht getrennt (bzw. Frauen vorbehalten) waren: Toiletten, Umkleideräume, Schlafsäle, Schutzzentren, Gefängnisse, sportlichen Wettkämpfen, Personaldokumente, statistische Daten-Erfassung (z.B. Kriminalstatistik!).
Das Motto “eine Trans-Frau ist eine Frau” (egal wie männlich ihr Körper ist) brächte/bringt einiges Durcheinander in einer Gesellschaft…
Da die Autorin erklärte Feministin ist, betrachtet sie die Folgen auf die Ziele der Frauenbewegung äußerst genau und kritisch.

Natürlich ist der Blick der Autorin nicht nur auf diese Facette der politischen Lobby-Arbeit dieser Bewegung gerichtet. Diskutiert wird z.B. auch die Situation der Transsexuellen, die sich tatsächlich um eine Anpassung ihrer körperlich Bedingungen an die von ihnen erlebte Geschlechtlichkeit bemühen. Auch wird das Schicksal der Kinder beleuchtet, die – so sieht es die Autorin – häufig von ihren trans-engagierten Eltern in ganz erhebliche eigene Identitäts-Konflikte “getrieben” werden.
Um es nochmal zu sagen: Dieses Buch ist eine Fundgruppe für alle Menschen, die sich in diese Thematik einlesen möchten und es ertragen, dass differenziert und kritisch (und auf der Basis von Quellen und Fakten) argumentiert wird.

Bleibt die Frage: Warum lassen sich augenscheinlich so viele Menschen von einer Bewegung überzeugen, die so augenscheinlich kontra-intuitiv ist. Denn wer würde – außerhalb des hier beschriebenen Kontextes – denn wirklich ernsthaft behaupten, dass die beiden Geschlechtsbezeichnungen “männlich” und “weiblich” keine brauchbaren Kategorien mehr wären (um bestimmte Phänomene zu beschreiben, also die Welt irgendwie zu ordnen) und sie restlos durch die “gefühlten Identitäten” ersetzt werden könnten?
Es ist wohl (so beschreibt es auch die Autorin) eine oft unreflektierte Mischung von meist irgendwie gut gemeinten Haltungen und Motiven, die sich als eine “allgemein progressiv-empathischen Grundsolidarität gegenüber Minderheiten” beschreiben ließe, die aufgrund ihrer Abweichung vom gesellschaftlichen Mainstream Benachteiligung und sogar Hass auf sich ziehen könnten. Unter diesem großen Schirm der “freiheitlichen Selbstbestimmung und bedingungslosen Toleranz” ist einfach eine Menge Platz – nicht zuletzt auch für so spannende und faszinierende Dinge wie Spielarten der Geschlechtlichkeit und deren facettenreiches Ausleben.
Eine zweite Spur der Erklärung: Viele Menschen scheinen zu glauben, dass der Kampf gegen die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen nur dann gewonnen werden könnte, wenn man die Bedeutung der biologischen Basis prinzipiell leugnen würde. So. als ob die Zuschreibung von Geschlechtsstereotypien unlösbar mit der Akzeptanz einer biologischen Geschlechtlichkeit verbunden seien.

Bleibt zu Schluss noch der Hinweis darauf, dass in dem Buch von STOCK an keiner Stelle die Solidarität für die betroffenen Menschen in Frage gestellt wird – egal an welcher Stelle sie sich gerade persönlich verortet fühlen. Im Gegenteil: Die Autorin lädt ein zu einem gemeinsamen Kampf gegen gemeinsame Barrieren und Gegner; sie will allerdings unbedingt vermeiden, dass die Ideologie der Trans-Aktivisten zu Nachteilen für die Frauenbewegung führt.

Das Buch ist ganz sicher viel differenzierter als dieser Versuch einer zusammenfassenden Bewertung sein kann; man möge mir das nachsehen.
(Wer das mal alles genauer wissen will: Das Buch ist als englischen EBook erstaunlich preiswert).

Wenn so jemand – wie diese aufgeklärte und tolerante Professorin – im akademischen Betrieb keinen Platz mehr findet – dann geht es um mehr als um ein bestimmtes hochemotionales Thema: Dann stimmt etwas Grundsätzliches mit der Form der Auseinandersetzung nicht mehr!

“Kintsugi” von Andrea LÖHNDORF

Bewertung: 4 von 5.

Fernöstliche Traditionen und Weisheiten sind schon lange “in”. In früheren Jahrzehnten waren Einflüsse aus Indien, China und Japan eher den Bereichen Religion, Mystik und Esoterik zuzuordnen; im Rahmen der Achtsamkeits-Welle hat sich das deutlich verändert. Meditation und ähnliche Praktiken sind heutzutage tief in den westlichen Lifestyle eingedrungen – bis nahe an die Grenze des Selbstoptimierungs-Wahns.

Die Japanische Kintsugi-Tradition hat es noch nicht ganz so weit gebracht. Die traditionellen Haltungen, die sich um diese Kunst der “Neuzusammensetzung” ranken, lassen sich wohl nicht so schnell in einfache Handlungsanweisungen übersetzen.
Die auf östliche Lehren spezialisierte Lektorin LÖHNDORF hat einen Versuch unternommen, die asiatische Lebenskunst für uns Wessis verständlich und nutzbar zu machen.

Ursprünglich beschreibt Kintsugi eine handwerkliche Technik, in der die Scherben einer zerbrochenen Keramik so zusammengesetzt werden, dass die Risse bzw. Klebestellen nicht versteckt, sondern besonders betont werden (z.B. mit goldener Färbung). So entsteht ein einzigartiges Kunstwerk – gerade weil es auf einem vorherigen Zusammenbruch aufbaut.
Eine tolle Metapher für psychische Krisen aller Art und den Stolz, den deren Bewältigung auslösen könnte (sollte).

LÖHNDORF widersteht der Versuchung, auf diesem schönen Bild ein ganz normales Selbsthilfe-Ratgeberbuch aufzubauen (so wie es der spanische Psychologe NAVARRO in seinem gleichnamigen Buch gemacht hat). Die Autorin bleibt respektvoll und sensibel im kulturellen Kontext und lädt ein, die japanische Mentalität Schritt für Schritt zu erkunden.

Doch ist auch für LÖHNDORF dieser Ausflug in fremde Denkweisen keineswegs ein Selbstzweck: Endziel ist auch hier die Anwendung auf das eigene Leben. Die Konzepte und Werkzeuge “Wabi-Sabi” (Akzeptanz u. Selbstmitgefühl), “Zen” (Achtsamkeit, Stille u. Einfachheit), “Ikigai” (persönlicher Lebenssinn), “Kaizen” (Prinzip der kleinen Schritte) und “Yui Maru” (Zugehörigkeit) werden nicht nur einfühlsam und kultursensibel dargestellt, sondern auch mit Hilfe von Beispielen und kleinen Übungen handhabbar gemacht.
Angereichert wird die Darstellung durch kleine Geschichten bzw. Anekdoten; in den Text eingewoben sind kurze Sinnsprüche und Zitate aus Ost und West.

Der Autorin ist das Gleichgewicht zwischen Innensicht (am Beispiel von Tee-Zeremonien, der Freude an Naturspaziergängen, der Sinn für Einfachheit und Gemeinschaft) und praktischer Nutzung zur Selbsthilfe sehr gut gelungen. Man erlebt einen fließenden Übergang, keine verkrampft-gezwungene Zuordnung. Die Übungen zur Selbstreflexion, die Anleitungen zu Verhaltensübungen atmen einen ähnlichen Geist wie die ursprünglichen Vorbilder: Kein Hauruck, kein “alles ist möglich”, kein Selbstoptimierungs-Kauderwelsch. Es geht sanft zu, langsam und achtsam. Man fühlt sich schon fast wie ein japanischer Teemeister…

Angenehm und seriös wirkt auch, dass LÖHNDORF sich thematisch auf persönliches Wachstum und kleinere Lebenskrisen beschränkt und nicht den Eindruck erweckt, dass hier ein Rezeptbuch für die Selbsttherapie von ernsthaften psychischen Störungen angeboten wird.

Insgesamt hat LÖHNDORF ein sympathisches Büchlein geschaffen, das in unaufgeregter Art zu einem lohnenden kulturellen Ausflug einlädt: Wir können ohne Zweifel etwas lernen von japanischen Lebensweisheiten – ohne gleich in ein schwurbeliges Alternativ-Weltbild abzutauchen. Die Vorschläge und Anregungen, die hier gemacht werden, sind alltagskompatibel. Und zum Glück werden nicht gleich Wunder versprochen…

“Kintsugi” von Tomás NAVARRO

Bewertung: 2.5 von 5.

Mit psychologischen Selbsthilfebüchern ist das so eine Sache: Sie sind immer gut gemeint, darin steht (fast) immer eine Menge sinnvoller Dinge, ihr konkreter Nutzen für eine bestimmte Person mit einem bestimmten Problem in einer bestimmten Konstellation kann extrem unterschiedlich ausfallen.
Kann es da überhaupt überhaupt Maßstäbe für eine “objektive” Bewertung geben?
Ja: Eine Rezension ist zwar auch dann grundsätzliche subjektiv, wenn es um eine Sachthema geht; aber es gibt doch ein paar Kriterien, auf die eine bewertende Einordnung basieren kann. Dabei macht es sicher einen Unterschied, ob dies aus der Perspektive einer betroffenen (ratsuchenden) Person erfolgt oder auf der Basis einer gewissen Expertise.
Ich ordne mich der zweiten Gruppe zu.

Als Rahmen für dieses Buch definiert der spanische Psychologe NAVARRO eine alte japanische Handwerks-Tradition: Geht ein wertvolle Keramik zu Bruch, werden nicht nur die Scherben sorgfältig wieder zusammengefügt, sondern – statt sie so gut wie möglich zu verstecken – betont man die Risse/Klebestellen ganz bewusst z.B. mit einer goldenen Färbung. Diese Idee lässt sich zweifelllos sehr gut als Metapher für psychische (Zusammen-)Brüche nutzen: Eine überwundene Krise, eine gelungene Wiederherstellung der persönlichen Integrität kann auch als eine Art “Veredelung” durch neue Erfahrungen und Reifungsschritte betrachtet werden. Die (psychischen) Narben sind so keine Makel, sondern Zeichen von Lebenserfahrung und Bewältigungskompetenz.
Schaut man sich allerdings erwartungsvoll an, wie weit dieses schöne Bild den Gesamttext begleitet und trägt, entsteht eher Enttäuschung: Letztlich schreibt NAVARRO ein ganz normales Selbsthilfebuch; mindestens 90% des Textes wären unter einem anderen Titel genauso gut (oder schlecht) untergebracht.

Der Autor ist in einem ständigen Dialog mit seinen Leser/innen. Er bemüht sich mit großem Einsatz, sie abzuholen – bei ihrem Leid, ihrem Zweifel, ihrer Mutlosigkeit, ihrer Resignation, ihrer Kraftlosigkeit. “Ich verstehe euch”, sagt NAVARRO ohne Pause.
Man kann ihm das glauben: Er hat als Psychologe (als Psychotherapeut bezeichnet er sich nicht) offenbar viele psychisch belastete Menschen erlebt und begleitet; sicher kann er auch eine Menge eigene Lebenserfahrung einbringen (was er auch tut). Als Hilfesuchender fühlt man sich erstmal gut aufgehoben; der Umgang ist empathisch und einladend.
Inhaltlich geht es um gravierende Lebenskrisen (in Beruf, Beziehungen und Gesundheit), aber auch um psychische Störungen (insbesondere um Depression). Der Autor beschreibt, wie man sich in solchen Situationen fühlen kann und hat jeweils (mindestens) ein Fallbeispiel zur Hand, um das Thema mit Leben zu füllen. So weit, so gut.

Leider tut NAVARRO etwas, was in vielen solcher Ratgebern passiert: Er macht ziemlich große Versprechungen! Er bietet seine Unterstützung, sein “Handwerkszeug” mit der festen Überzeugung (das sei ihm zugestanden) an, dass man auf seinem Wege auch zum Erfolg kommen kann. Er hat nämlich – so sein Angebot – die notwendigen Schritte herausgearbeitet und kann daher ganz genau sagen, was zu tun ist. Tolle Sache!?
So bekommt man in diesem Buch unglaublich viele konkrete Anweisungen bzw. Ratschläge, die (fast) alle nachvollziehbar und logisch erscheinen. Manchmal kommt NAVARRO sogar selbst auf die Idee, dass sich das vielleicht für die Betroffenen gerade etwas schwierig anfühlt: zu analysieren, Prioritäten zu setzen, an sich zu glauben, sich von Bewertungen anderer zu befreien, wieder Begeisterung zu empfinden, sich wertvoll zu finden…
Das hält ihn aber nicht davon ab, genauso weiter zu machen: Eine Aufforderung nach der anderen, die man – ein wenig zugespitzt – auch gleich so formulieren könnte: “Sei doch nicht mehr traurig, verzweifelt, einsam, antriebslos, negativ; versuch einfach, anders zu sein!”

Ja, es stimmt natürlich: Etwas mehr leistet der Autor in seinem Buch dann doch. Durch seine Systematisierungen und Aufgliederungen werden diffuse Zustände etwas klarer; scheinbar unüberwindbare Aufgaben werden in Einzelschritte aufgeteilt. NAVARRO macht Mut, motiviert, weißt auch auf die Punkte hin, wo Hilfe von außen notwendig wäre.
Es ist nur etwas ärgerlich, dass der Autor zwischendurch den Eindruck erweckt, als seien auch ziemlich ernste Krisen bzw. Brüche mit seinem System (“du wirst es schon schaffen, wenn du meinen Vorschlägen folgst”) zu überwinden. Da fragt man sich dann doch, wie viel Erfahrung NAVARRO mit wirklich gravierenden psychischen Problemen hat (vor einer echten Depression hat er wohl doch ein wenig Respekt).

Ein Grund für diesen (leicht übertriebenen) Optimismus lässt sich ohne große Mühe in der Persönlichkeit des Autors finden: Er ist scheinbar eine Art Tausendsassa: naturverbunden, in körperlicher Höchstform (Bergsteiger, Marathonläufer), entscheidungsstark, voller Zuversicht, Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeitserfahrungen.
So einem Menschen fällt es natürlicherweise ein wenig schwerer nachzuvollziehen, warum jemand die naheliegenden und logischen nächsten Schritte eben nicht hinbekommt.

Dieses Buch kann sicher hilfreich sein, wenn man sich in einer (mäßig ausgeprägten) Krisen- oder Umbruchphase reflektieren möchte, wenn man Anregungen und Bestätigung sucht, wenn man ein wenig Mut und Zuversicht tanken möchte.
Solle man aber (momentan) zu den Menschen gehören, die schon häufig von sich selbst oder anderen vernommen haben, was eigentlich zu tun wäre, dann könnte auch schnell Frust und Resignation entstehen – denn scheinbar wäre ja alles irgendwie machbar…

(Wie man es anders – und besser – machen kann, zeigt dieses gleichnamige Buch).

“Erstaunen” von Richard POWERS

Bewertung: 5 von 5.

Vorbemerkung: Dies ist eine sehr persönliche Rezension (noch mehr als sonst)!

Wenn einer der anerkannt großen Vertreter der amerikanischen Gegenwartsliteratur einen Roman schreibt, in dem ein alleinerziehender Astro-Physiker seinem psychisch-auffälligen neunjährige Sohn jedem Abend vor dem Einschlafen von einem anderen erdachten Planeten und seinen Lebewesen erzählt – dann bin sich schon optimal aktiviert.
Wenn dann dieser Junge (Robby) sich dadurch zu regulieren lernt, dass er mit modernsten Methoden der Neuropsychologie vorgegebene Erregungsmuster von positiven Hirn-Scans nachahmt – dann nähert sich mein Zustand schon einer mittleren Euphorie.
Wenn dann dieser Junge nicht nur am Verlust seiner Mutter leidet, sondern auch an der Unfähigkeit der Menschen, die Bedürfnisse der Mitgeschöpfe und der Natur insgesamt zu berücksichtigen – dann beginne ich mir Sorgen zu machen, ob ich wohl mit den üblichen fünf Bewertungssternchen auskommen werde.

Dieses Buch ist klug, informativ, emotional, empathisch, kreativ und insgesamt extrem anregend. Alle seine Facetten wären schon als einzelne Bücher bemerkenswert: als Einführung in die moderne Astrologie (insbesondere bzgl. der Suche nach Leben auf Exoplaneten), als Vater/Sohn-Bewältigungsroman nach Verlust von Partnerin/Mutter, als Einblick in die ökologische Katastrophe des Artensterbens, als Information über das zunehmend wissenschaftsfeindliche Klima in den USA, als Grundkurs in die aktuelle Neurowissenschaft, als Diskussionsbeitrag über die Herausforderungen und Reaktionsmöglichkeiten beim Zusammenleben mit einem stark verhaltensauffälligen Kind, als ergreifende Dauer-Liebeserklärung an eine verlorene Partnerin.
In diesem Buch steckt das alles gleichzeitig!

Durch die persönliche Perspektive des Ich-Erzählers bekommt der Roman eine zusätzliche emotionale Intensität. Dieser Vater ist nicht perfekt, er leidet an seinen eigenen Widersprüchen und Grenzen. Aber es erscheint kaum möglich, sich nicht mit seinem geradezu übermenschlichen Bestreben zu identifizieren, seinem Sohn der bestmögliche Begleiter in einer schwierigen inneren und äußeren Welt zu sein. Man bangt mit ihm, man hofft mit ihm, man bewundert ihn. Man versteht, dass er manchmal an die Grenzen des Machbaren und Vertretbaren geht (und gelegentlich scheitert).
Doch das ist noch gar nichts – im Vergleich zu den Gefühlen, die man Robby entgegenbringt! Man muss dieses Kind einfach lieben – es geht gar nicht anders.
Und die Beziehung zwischen Vater und Sohn wird auf eine so ein- und mitfühlende Weise geschildert, dass man es manchmal (vor Rührung) kaum aushält.

Das ist auch der einzige Aspekt, an dem sich eine kritische Anmerkung anbieten könnte: Irgendwie sind die beiden Figuren vielleicht ein wenig zu perfekt geraten: der Vater zu verständnisvoll, der Junge schon ein wenig zu verständig, weitsichtig und weise.
Ich kann POWERS das gut nachsehen – denn er hat auf diese Weise ein wahrhaft zauberhaftes Buch geschrieben, in dem die wichtigsten Botschaften an die Leser bzw. an die Welt aus dem Munde eben dieses Jungen kommen.
Es gibt keinen Zweifel, dass dieses Buch auch wegen der Dringlichkeit des Umsteuerns geschrieben wurde. Eine kreativere Verpackung einer Message ist kaum vorstellbar.

Dass darüber hinaus in diesem genialen Text auch noch die ethischen Grenzen der Hirnforschung und die Frage der Psychopharmaka-Therapie bei Kindern thematisiert werden, ist noch eine weitere Zugabe.

Über das Ende dieses Romans zu sprechen, verbietet sich eindeutig.
Es macht jedenfalls die Antworten auf die grundsätzlichen Fragen eher schwieriger als leichter. Als Leser/in hat man noch ein bisschen zusätzliches Gepäck, das über den Lesegenuss hinausgeht.
Was kann ein Buch mehr leisten?

Ist das Buch auch unterhaltsam? In mir sperrt sich alles gegen diesen Begriff: Er ist einfach viel zu banal, um der erzählerischen und inhaltlichen Energie dieses Buches gerecht zu werden. Man durchlebt und durchfiebert dieses Buch – die Frage der Unterhaltung stellt sich dabei einfach nicht.

Ja, ich habe zwischendurch den sechsten Bewertungsstern vermisst.
POWERS hat für mich das Buch des Jahres geschrieben.