“Being You” von Anil SETH

Bewertung: 5 von 5.

Dieses (leider nur in Englisch verfügbare) Buch stellt für mich zurzeit die Referenz im Bereich der populärwissenschaftlichen Publikationen zum Thema “Gehirn und Bewusstsein” dar.
Herausragend ist es vor allem deshalb, weil es nicht nur eine profunde Übersicht über die aktuellsten Bewusstseins-Theorien (insbesondere den “Funktionalismus” und die “Integrierte Informations-Theorie”) gibt – sondern gleichzeitig eine überzeugende eigene Sichtweise entwickelt.

SETH nimmt ein bestimmtes Publikum in den Fokus: Er wendet sich an die Leser/innen, die sich für die großen Grundsatzfragen interessieren. Es geht also nicht um all die hochkomplexen Experimente, die mit Hightech-Apparaturen untersuchen, was sich an welchen Stellen im Gehirn tut, wenn bestimmte Wahrnehmungen, Gedanken oder Gefühle erlebt werden.
Diese Zusammenhänge gibt es natürlich – und sie können auch hochinteressant sein. Aber sie beantworten nicht die existentiellen Fragen, die sich an der Grenze zwischen Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften stellen: Wie stellt unser Gehirn ein Bild über die äußere Realität her? Warum gibt es überhaupt das bewusste Erleben? An welche Bedingungen ist es geknüpft? Welche Funktion hat es im evolutionären Überlebenskampf? Welches Ausmaß an Bewusstheit kann anderen Lebewesen zugesprochen werden? Werden Computer oder Roboter mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI) bald selbst empfindungsfähig werden? Wie eng hängen Intelligenz und Bewusstsein zusammen? Kann man den Grad von Bewusstheit von außen messen? Was ist mit der Willensfreiheit? Ist es überhaupt denkbar, dass wir das Rätsel des Bewusstseins jemals lösen?

Tatsächlich gibt der Autor auf all diese Fragen Antworten – nicht mit der Selbstgewissheit eines Gurus, aber mit dem Optimismus und der Erfahrung eines Experten, der seit Jahrzehnten die Fortschritte der Neurowissenschaften mitgeprägt hat.
Seine Grundbotschaft lautet: Wenn man nur die richtigen Fragen stellt und weit genug in die Basis des Lebens eintaucht, erscheint der Graben zwischen den “normalen” Lebensprozessen und dem Basisgefühl “zu sein” (also irgendwie zu existieren) gar nicht mehr so tief bzw. breit zu sein. Für ihn fängt also Bewusstsein nicht erst bei abstrakten Denkvorgängen oder der Selbstreflexion an, sondern bei einem ganz basalen “sich selber als etwas spüren” (alles, was darauf aufbaut, kann sowieso davon abgeleitet werden und macht keinen qualitativen Sprung mehr aus).

SETH startet mit der Wahrnehmung und führt (sehr gründlich) aus, dass unser Gehirn eine geniale Vorhersagemaschine ist, die unaufhörlich damit beschäftigt ist, die Unterschiede zwischen erwartetem und realem sensorischen Input zu berechnen und zu minimieren. Was entsteht, ist kein naturgetreues Abbild der Außenwelt, sondern sind die (statistisch) wahrscheinlichsten Hypothesen über die Aspekte der Umwelt, die für eine lebenserhaltende Steuerung des Verhaltens bedeutsam sein könnten. SETH nennt die Ergebnisse sogar “kontrollierte Halluzinationen” – um deutlich zu machen, wie aktiv und eigensinnig das Gehirn dabei vorgeht (wie diverse Alltagstäuschungen und raffinierte Experimente belegen).

Von da aus ist der Weg nicht mehr weit zu der Annahme, dass das Ziel der Lebenserhaltung bei einem so komplexen und anpassungsfähigen Wesen wie uns (und vieler anderer Tiere) ohne eine komplexe innere Steuerung nicht denkbar wäre. Für eine solche Steuerung brauchen wir auch jede Menge Wahrnehmungen aus unserem eigenen Körper, die wiederum (ebenfalls über Vorhersagen und das Minimieren von Abweichungen) zu einem pragmatischen Modell zusammengesetzt werden, aus dem letztlich das “Gefühl zu sein” entsteht; letztlich auch eine Art “Halluzination”, die unserem Gehirn nützt, um die richtigen Entscheidungen zu fällen. Dazu gehört zwingend ein Grundempfinden dafür, welche Zustände angestrebt werden müssen – die Basis für alle komplexeren Emotionen.
Entscheidend für SETH ist, dass das Ganze kein Zauberwerk ist, sondern sich aus den Basisstrukturen und -prozessen des Lebens schrittweise ableiten lässt. Auch das Bewusstsein seiner Selbst setzt sich aus Teilfunktionen zusammen, die auch einzeln beobachtet und (durch Krankheit oder Experiment) irritiert werden können.
Anders als in dieser extrem komprimierten Form, wirken die Darlegungen des Autors plausibel, nachvollziehbar und folgerichtig. Natürlich finden diese Überlegungen nicht im luftleeren Raum statt, sondern werden auf zahlreiche Beobachtungen und Befunde bezogen.

Ziemlich fest legt sich SETH hinsichtlich der Verteilung des Bewusstseins bei Tieren und bei zukünftigen digitalen Konstruktionen: Da er eine extrem enge Verbindung des “sich selbst Erlebens” mit grundlegenden biologischen Mechanismen sieht, spricht er großen Teilen der Tierwelt grundlegende Empfindungsfähigkeit (“etwas zu sein”) zu, bezweifelt diese Möglichkeit aber für absehbare Zeit (vielleicht sogar prinzipiell) für intelligente Maschinen (SETH warnt davor, Intelligenz und bewusstes Erleben gleichzusetzen).

Das Buch ist eine wahre Fundgrube für Menschen, die neugierig darauf sind, wie nahe die Hirnforscher dem Bewusstsein schon gekommen sind. Der Autor versteht es, diese Fragen so zu stellen und zu beantworten, dass man als interessierter (und etwas vorgebildete) Laie einen Bezug zu den großen Fragen des Lebens, aber auch zum normalen Alltag findet.
SETH gehört zu den Wissenschaftlern, die glücklicherweise auch ein großes didaktisches Geschick haben.
Der Text ist so gut strukturiert und aufeinander bezogen, dass er (für etwas geübte Leser/innen) auch auf Englisch gut verständlich ist.
(Das kann man übrigens auch bei seinem Vortrag über das Buch ausprobieren: https://www.youtube.com/watch?v=qXcH26M7PQM&t=728s).

Eine Antwort auf „“Being You” von Anil SETH“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert