“Bewusstsein – Warum es weit verbreitet ist, aber nicht digitalisiert werden kann” von Christof KOCH

Bewertung: 4 von 5.

KOCH ist einer der ganz Großen der modernen Hirnforschung. Auch dieses Buch wird man daher als eine Art Maßstab dafür ansehen können, wieweit diese aufregende Wissenschaft inzwischen gekommen ist (Stand 2019).

Der Autor hat keine Angst vor den ganz großen Fragen – auch nicht vor den Rätseln, die man bis vor kurzem noch unlösbar hielt: Wie kann man den Zusammenhang erklären zwischen messbaren hirnphysiologischen Prozessen und den aus Innensicht erlebbaren Bewusstseinsinhalten? Was sind die notwendigen Voraussetzungen für bewusstes Erleben? Ab welchem Entwicklungsstand von tierischen Gehirnen sollte man von einem “sich selber Erleben” aus gehen? Ab welchem Komplexitätsgrad von digitalen Denkapparaten muss man vielleicht auch hier Empfindungsfähigkeit unterstellen?

KOCH führt uns zunächst an den Forschungsstand im Gehirn selbst: Was passiert dort an welchen Stellen, wenn ein bestimmtes Erleben berichtet wird? Das ist schon anregend und spannend genug.
Doch er will noch tiefer eindringen: Er will eine Theorie liefern, die erklärt und begründet, warum es unter bestimmten Bedingungen zu Bewusstsein kommt (kommen muss). KOCH ist davon überzeugt, mit der “Integrierten Informationstheorie” (IIT) eine bedeutsame Spur gefunden zu haben, aus der sich sogar schon Vorhersagen und praktische Anwendungen ableiten lassen.
Dann geht es den Computern an den Kragen: KOCH bezweifelt die Prognosen einiger Technik-Enthusiasten, dass schon auf der Grundlage heutiger Rechensysteme auch digitales Bewusstsein möglich werden könnte. Der gegenwärtigen Hard- und Software fehlen einige grundlegende Komponenten, die KOCH als notwendige Bedingungen ansieht.
Um so großzügiger geht er mit unseren evolutionären Vorgängern und Mitgeschöpfen um: Für KOCH steht zweifelsfrei fest, dass die Schwelle für so etwas wie “sich spüren” sehr weit unten in der Hierarchie der Gattungen liegt. Auch das leitet er wissenschaftlich und theoretisch ab; gleichzeitig macht der Auto im Schlusskapitel auch deutlich, dass er an diesem Punkt auch eine ethische Berufung spürt und für Konsequenzen im Umgang mit (fast) allen Tieren wirbt.

Die im Zentrum des Buches stehende ITT (Integrierte Informationstheorie) hat einen Nachteil: Sie ist ein ziemlich abstraktes Konzept, eher ein Set von Axiomen als eine anschauliche Erklärung. Die Theorie hat zwar den Vorteil, einen Rahmen für viele Beobachtungen und Prozesse zu liefern und sogar Berechnungen über das Ausmaß vorhandenen Bewusstseins zu ermöglichen – ihr fehlt es aber am Charme einer unmittelbaren Plausibilität.
Die kürzeste Formulierung wäre etwa: “Jedes Erlebnis existiert für sich, ist strukturiert, hat seine spezifische Art zu sein, ist eine Einheit und definit.” Etwas gefälliger ausgedrückt: “Bewusstsein ist eine fundamentale Eigenschaft von allem, was sich selbst ursächlich wirksam beeinflussen kann.”
Staunend verfolgt man über viele (herausfordernde) Seiten, wie sich all diese bedeutungsschweren Begriffe theoretisch, logisch und mathematisch füllen und auf biologischer bzw. physiologischer Ebene repräsentieren lassen.
Das ist Hardcore!

Ein wenig Aufatmen ist angesagt, wenn es dann um die praktischen Anwendungen geht: Aus der ITT lassen sich klinische Messverfahren ableiten, die Bewusstseinsspuren auch bei Patienten entdecken können, die sich in absolut keinster Weise mitteilen können. Man arbeitet mit dem neuronalen Echo auf bestimmte externe Hirnstimulationen.
Auch hier geht es ins Detail…

Hier kann nicht jede Facette dieses faszinierenden Buches angesprochen werden.
Allgemein lässt sich sagen: KOCH hat die Neigung, wirklich jede Verästelung seines Theoriegebäudes zu erforschen (bzw. vorhandene Ergebnisse darauf zu beziehen). Kein Gedanke scheint ihm dabei zu “schräg” zu sein (bis hin zu der Frage, unter welchen Bedingungen sich mehrere Gehirne zu einem Ganzen vereinigen würden und was es mit dem “Reinen Bewusstsein” auf sich hat).

Insgesamt würde ich dieses Buch eindeutig als Fach- und nicht als Sachbuch einordnen. Es ist zwar von der Intention und der Ansprache her an ein breiteres Publikum gerichtet, setzt aber bzgl. des Inhalts wirklich eine erhebliche Anstrengungsbereitschaft voraus. Dies ist außerhalb eines spezifischen wissenschaftlichen Interesses kaum zu erwarten.
Dazu kommt: Die hier vorgestellte Theorie ist so sperrig und spröde, dass der erhoffte Erkenntnis-Funken nicht so recht überspringen möchte.
Ohne Zweifel erkundet man unter der Begleitung von KOCH (der mit Sicherheit geniale Züge hat) interessante Sphären – die angebotenen Antworten lassen sich aber nicht ohne Weiteres in der nächsten privaten Gesprächsrunde unterbringen.
Man wird wohl etwas einsam bleiben – mit den in diesem Buch gemachten Erfahrungen…


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