“Brain Talk” von Dr. David SCHNARCH

Bewertung: 4 von 5.

Wir haben es hier mit einem Sach-/Fachbuch zu tun, das auf verschiedenen Ebenen sowohl bemerkenswert, als auch herausfordernd ist.
Das fängt schon bei der Zuordnung zu einem Genre an: Der international bekannte Paar- und Sexualtherapeut SCHNARCH verfasst nämlich zwei parallele Bücher unter einem Buchdeckel.
Für interessierte Laien – insbesondere für Betroffene – legt er im Hauptteil ein Selbsthilfe-Text vor, der ein in sich geschlossenes Erklärungs- und Lösungssystem beinhaltet und dabei weitgehend ohne Bezug auf wissenschaftliche Befunde bzw. andere Theorien auskommt. Das wirkt insgesamt übersichtlich und – fast ein wenig zu – einfach.
Zu diesen Kapiteln werden dann im hinteren Teil des Buches jeweils zugeordnete “Anhänge” angeboten, die sich fast durchweg als selbständig lesbare Texte erweisen und hinsichtlich ihrer Unterfütterung durch empirische Befunde und ihrem Bezug zu benachbarten Ansätzen eindeutig wissenschaftlichen Fachbuchcharakter haben. Hier ist die Welt auch einmal ziemlich komplex…

Das Thema “Mindmapping” ist in diesem Buch so zentral (und der Begriff taucht so unglaublich oft auf), dass man sich wirklich nur wundern kann, dass das Buch einen anderen Titel hat (von “Brain-Talk” ist seltsamer Weise innen kaum die Rede).
Die zentrale Botschaft des Autors zum Mindmapping lautet etwa so:
Die Fähigkeit, sich in die Gedanken (den Geist) anderer Menschen hineinzuversetzen (den “Mind” des Gegenübers zu “mappen”) sei eine zentrale menschliche Fähigkeit, die schon Kinder (ab dem 4. Lj) ausbilden würden. Gleichzeitig erwürben wir alle auch eine gewisse Übung darin, uns geben eine solche “Ausspähung” zu schützen (wir “masken” unseren “Mind” = “Mindmasking”). Das alles funktioniere im normalen Alltag eigentlich recht gut und schaffe die Grundlage für ein soziales Miteinander, in dem wir uns mit unterschiedlichem Geschick gegenseitig in die geistigen Karten gucken (und so zum Beispiel die Motive und Ziele des anderen nachzuvollziehen) bzw. uns bei Bedarf auch dagegen wehren könnten (z.B. für eine Notlüge oder um ein Geheimnis zu bewahren).
Werden uns durch andere schlimme (bedrohliche, schädigende, gefährliche, gemeine, ekelhafte) Dinge zugefügt, werde unsere Mindmapping-Fähigkeit gestört (eingeschränkt): Wir fühlen uns verwirrt, überfordert, können nicht mehr klar denken, verstehen die Welt nicht mehr. Passierten solche Dinge häufiger, entstünde eine chronische Einschränkung kognitiver Fähigkeiten.
Für das sog. “Traumatische Mindmapping” sei vor allem Dingen typisch, dass man sich als Opfer nicht vorstellen könne, dass der Täter seine Handlungen vollziehe, obwohl er sich (per Mindmapping) in sein Opfer hineinversetzen könne. Daher “weigere” sich das Opfer-Gehirn geradezu, diese Möglichkeit (“der weiß genau, was er tut und macht es genau deshalb”) in Betracht zu ziehen und erfinde eine – den Täter entlastende – Alternativinterpretation (oder höre ganz auf zu denken).
Auf diesem Hintergrund sei es folgerichtig, dass ein wichtiger Teil der Therapie darin bestehe, durch (wiederholtes) Nacherleben der traumatisierenden Situation das korrekte Mindmapping nachzuholen: also dem Täter nachträglich die richtigen (letztlich “bösartigen”) Motive zuzuschreiben (weil er durchaus in der Lage war, das Opfer korrekt mindzumappen).
Diesem Prozess der individuellen Neuverarbeitung (einschließlich dem Auffüllen von Gedächtnislücken) müsse dann eine Konfrontation mit dem Täter folgen – mit dem Ziel, dass auch dieser die Verantwortung für sein früheres Verhalten übernehme.

Das alles mag in dieser Verkürzung ein wenig skurril klingen. Ein Großteil des Buches ist aber tatsächlich damit befasst, die skizzierten Zusammenhänge zu erklären und zu belegen.
Letztlich macht der Autor selbst eine hilfreiche Einordung: Seine spezifische Trauma-Theorie befasst sich mit Erlebnissen und Belastungen, die (knapp) unterhalb der Schwelle liegen, auf die sich die üblichen Trauma-Diagnosen und Therapien beziehen.

Die Zweiteilung des Buches ist ohne Zweifel ein kreativer Versuch, die gleich Thematik auf zwei unterschiedlichen Ebenen darzustellen. Diese Konstruktion hat allerdings auch ihren Preis: Geht es im Ratgeberteil ein wenig holzschnittartig und scheuklappenmäßig zu (so als stände das Konzept des Autors ganz allein auf weiter Flur), spricht die Differenzierung zwischen den verschiedenen Trauma-Theorien und die Verbindung zwischen Hirnforschungs-Befunden und dem Konzept des Autors tatsächlich nur noch spezialisierte Fachkräfte an; um all das wirklich nachzuvollziehen müsste man sich diesem Buch wirklich sehr gründlich widmen. Der Effekt: Manchmal wünscht man sich als Lesender dann doch lieber die Integration und den Kompromiss zwischen den beiden Dartstellungsformen.
Der sehr selbstüberzeugte Schreibstil des Autors lässt allerdings manchmal den Verdacht aufkommen, dass es SCHNARCH schon reichen würde, wenn FachkollegInnen einfach nur beeindruckt werden durch die Masse der ins Spiel gebrachten Befunde. Auch die meisten Trauma-TherapeutInnen werden kaum in der Lage sein, die jeweiligen Schlussfolgerungen von Hirnscans auf Therapiemethoden nachzuvollziehen.

Doch am meisten wird bei diesem hochinteressanten Buch wohl die Art des Autors irritieren, seine Grundthesen immer und immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen und Formulierungen zu wiederholen. Dieses Phänomen ist in beiden Buchteilen zu beobachten; es gewinnt stellenweise den Charakter einer “Gebetsmühle”. SCHNARCH wirkt dabei wie ein sehr von sich überzeugter Fachmann, der der Welt wirklich eine bahnbrechende und einzigartige Neuigkeit zu verkünden hat. Jedenfalls leidet der Autor ganz sicher nicht unter einem Selbstwertproblem und wirkt schon auch ein wenig selbstverliebt. Zu diesem Eindruck trägt auch bei, dass SCHNARCH seine Standard-Übungen aus der Paartherapie auch für die Thematik dieses Büches für extrem bedeutsam hält. Vielleicht steckten ja in diesem SCHNARCH doch ein paar Guru-Tendenzen…

Nicht ganz auflösen kann der Autor auch den Widerspruch zwischen dem im ersten Teil formulierten Anspruch einer “Selbsthilfe” (“Sie können das auch ohne externe Hilfe mit diesem Buch”) und den dann später sehr differenzierten Hinweisen auf die therapeutische Begleitung solcher Prozesse; hier hätte es einer klareren Abgrenzung bedurft.

Es bleibt der Eindruck eines sehr besonderen, teils faszinierenden, teils auch etwas irritierenden Buches. Es wäre interessant nachzuverfolgen, wie das Buch (auf diesem Hintergrund) in den engeren Fachkreisen aufgenommen wird.

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