“Blue Skies” von T. C. BOYLE

Bewertung: 4 von 5.

Wenn die Verrücktheiten der amerikanischen Lebensweise auf die volle Dröhnung des Klimawandels treffen – dann könnte sowas entstehen, wie es BOYLE in seinem neuen Roman genüsslich ausmalt.

Der Autor tut erstmal alles dafür, dass sein Buch nicht gleich als Klimaroman zu erkennen ist. Er erzählt von den hippen Tendenzen, sich mit Hilfe von Insektenzucht möglichst fleischarm zu ernähren und von Schlangen, die als Haustiere und als eine Art Identitäts- und Image-Booster gehalten werden. In diesem etwas schrägen Kontext lernen wir die Protagonistin Cat, und dann nach und nach ihren Partner und ihre Familie kennen, wobei ihre Mutter (Ottilie) und ihr jüngerer Bruder (Cooper) besondere Bedeutung erlangen.
Rein strukturell geht im Weiteren in dieser Familie um Hochzeit, Schwangerschaft und Mutterschaft, Beziehungskrisen, hochdramatische persönliche Schicksalsschläge, familiäre Unterstützung und Bewältigungsversuche.

In zunehmendem Umfang wird diese Handlungsebene (die sich weiter mit dem Thema Schlangen herumplagt) von den Auswirkungen des Klimawandels unterwandert bzw. eingenommen. In den beiden Schauplätzen (Florida und Kalifornien) geht es um Dürre und Brände bzw. um Regen und Fluten; aber auch die Auswirkungen der Erwärmung auf das Wandern und Aussterben von Tier- und Pflanzenarten.
Irgendwann übernehmen dann das Klima endgültig die Regie über das familiäre Geschehen.

BOYLE seziert mit einer schonungslosen Akribie die Widersprüche und Absurditäten, mit denen das “American Way of Life” auf die dramatischen Umwälzungen reagiert: So bleibt z.B. das morgendliche Bad im Pool und der Besuch hochpreisiger Restaurants eine ganze Weile unberührt von den Um- und Zusammenbrüchen in den Umweltbedingungen ringsum.
Und auf ein Schmiermittel ist immer und überall Verlass: Alkohol! Der Autor zelebriert geradezu die unfassbare Selbstverständlichkeit, mit der letztlich alle Protagonisten sich des Alkohols bedienen – als eine Art permanente Krücke, die das Leben unter unsäglichen Bedingungen noch halbwegs ermöglicht.

BOYLE trägt gerne dick auf; er ist kein Freund der leisen Töne. Seine Figuren wirken fast alle etwas überzeichnet – aber das ist kein Versehen, sondern sein Stil. Das muss an mögen – sonst kann schnell nervig werden.
Wer einen reinrassigen, ausgewiesenen Klima-Roman erwartet, wird möglicherweise etwas enttäuscht sein: Der Autor ist schon sehr in seine Rahmenhandlung (die mit den Schlangen) verliebt. Sein Zielpublikum besteht nicht aus Weltverbesserern, denen die jeweilige Handlung mehr oder weniger egal ist, wenn nur die Botschaft stimmt. Er will mit seinen Figuren und dem Plot in einer Art und Weise überzeugen, die auch ohne das Klima-Thema funktionieren würde. Und genau auf dieser Basis wird es dann so unausweichlich – weil es eben rein objektiv unvermeidlich ist.

Die Klimakatastrophe macht einfach alles andere platt. Vermutlich werden wir es erst glauben, wenn sie uns mit vergleichbarer Wucht trifft. An BOYLE wird das nicht liegen; er hat uns gewarnt.
(Ob man dazu so viel über Schlangen schreiben muss, ist Geschmackssache…).

“Das Ende des Romantik-Diktats” von Andrea NEWERLA

Bewertung: 3.5 von 5.

Die gute Nachricht vorweg: NEWERLA bekämpft die romantische Liebesbeziehung nicht, sie will diese in unseren Gedanken und Gefühlen fest verankerte Idee von der höchsten Form von Intimität und Liebe nicht sturmreif schießen und nicht abschaffen.
Aber Sie will ihren Exklusivitätsanspruch, ihre Monopolstellung für den Bereich bedeutsamer und tragender Beziehungen in Frage stellen. Diesem Ziel ist dieses engagierte Plädoyer gewidmet.

Die Autorin (eine Soziologin) steuert das zentrale Thema von verschiedenen Seiten aus an: Sie setzt das Konzept der Romantischen Liebe in einen historischen Kontext, weist auf die vielen Enttäuschungen auf der Jagd nach diesem Beziehungsideal hin und konfrontiert es mit den aktuellen Realitäten des Internet-Datings und der durch Algorithmen gesteuerten Partnersuche.
Ihre Analyse ist eindeutig: Die Fixierung auf diese eine Beziehungsform tut uns nicht gut! Nicht nur, weil sie einen für viele unerreichbaren Traum zum alleinigen Maßstab für Lebensglück definiert, sondern weil sie eine fatale Abwertung der vielen anderen Möglichkeiten beinhaltet, beglückende Beziehungen zu leben und zu gestalten.
Mit geradezu trotziger Energie rüttelt NEWERLA an den gesellschaftlichen Mustern und Normen, will neue Freiräume schaffen, alternative Konstellationen aufwerten. Sie akzeptiert nicht, dass die klassische monogame Liebesbeziehung der einzige Ort sein soll, in dem Nähe, Intimität, Verbindlichkeit und Verantwortung gelebt werden kann.
NEWERLA setzt insbesondere auf verschiedene Spielarten der Freundschaft (gerne auch mit +) und fragt wiederholt, wieso wir sowohl bei unseren intimste Geheimnisse als auch bei der Planung unserer Zukunft eher auf eine noch frische Liebe setzen als auf gewachsene und bewährte platonische Beziehung.
Nicht verborgen bleibt in dem Text, dass die Autorin Sympathien für unkonventionelle Spielarten von Intimität und Liebe hat und dabei auch für jede denkbare Kombination mit erotischen Aspekten offen ist. Sich von der Idee einer “ewig-währenden” Liebesbeziehung zu verabschieden, fällt ihr offensichtlich nicht besonders schwer. Es gelingt ihr aber gleichzeitig sehr gut, die Sehnsucht nach der “großen Liebe” mit einem gewissen Respekt zu behandeln und nicht auf den Müllhaufen der Beziehungsgeschichte zu entsorgen.

Doch ein wenig überraschend ist dann im Schlussteil des Buches die Wendung zu einer gesellschaftlichen Perspektive. Die Autorin sieht in einer Öffnung und Erweiterung von Beziehungskonzepten nicht nur einen privaten Ausweg aus dem “Romantik-Diktat”, sondern erkennt darin eine Blaupause für einen gesellschaftlichen Wandel. In dem Maße – so argumentiert sie – wie die abgeschlossene Privatheit der Romantischen Liebe geöffnet und erweitert werde für experimentelle und fließende Formen von ganz verschiedenen Verantwortungsgemeinschaften, könne sich ein Klima des pluralistischen, demokratischen, inklusiven und solidarischen Zusammenlebens ausbilden. Nicht allen wird dieser Schwenk so ohne weiteres einleuchten.
Durchaus konkrete Bedeutung könnten allerdings Bestrebungen bekommen, auch anderen Formen von verbindlichen und stützenden Beziehungskonstellationen einen rechtlichen Rahmen zu geben.

Der Schreibstil der Autorin passt zum peppig gestalteten Cover. Mit einer schnörkellosen, leicht lesbaren Sprache entstaubt NEWERLA die Liebesideologie des vergangenen Jahrhunderts. Sie nimmt zwar auf andere Literatur und auf einzelne Untersuchungen Bezug, setzt den Schwerpunkt aber auf eine flüssige Argumentationslinie – die Details lassen sich in den Anmerkungen nachlesen.

Guckt man kritisch auf diese durchaus anregende Publikation, könnte einem vielleicht auffallen, dass das Ganze tatsächlich von einer sehr überschaubare Zahl von Grundgedanken getragen wird. Diese hätten sicher auch problemlos in einen Essay gepasst – dann ohne die manchmal spürbare Redundanz.
Trotzdem hat natürlich die etwas breiter und ruhiger angelegte Argumentationslinie ihre Vorteile: NEWERLA kann ausholen, Beispiele anführen und ihren Thesen feinere Facetten zufügen. Das Buch lässt sich bequem in ein paar Stunden lesen – enthält aber jede Menge Reflexions- und Diskussionsstoff. Wobei sicherlich die persönlichen Aspekte von offeneren und vielfältigen alternativen Beziehungskonzepten leichter nachvollziehbar sein werden als die angedeuteten gesellschaftlichen Implikationen.

“Geschenkt” von Daniel GLATTAUER

Bewertung: 4 von 5.

Erzählt wir d eine nette, angeblich auf Tatsachen basierende Geschichte aus Wien, in der es um anonyme Geldzuwendungen an bedürftige Einzelpersonen oder wohltätige Initiativen geht, die sich gerade einer finanzieller Notlage ausgesetzt sehen.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein halb-gescheiterter Journalist (Gerold Plassek) mit einer gewissen Neigung zum Alkohol; er führt uns als Ich-Erzähler durch die Handlung.

Angereichert wird das Rätsel um die absenderlosen Wohltaten mit den familiären und beziehungsmäßigen Entwicklungen des Protagonisten, der sich zu Beginn der Story plötzlich in der Betreuungsverantwortung für den jugendlichen Sohn seiner Ex-Frau wiederfindet.
Die beiden Handlungsfäden sind eng miteinander verflochten und befruchten sich sozusagen gegenseitig.

Man bekommt ein bisschen mit aus der Welt des mehr oder weniger seriösen Journalismus. Eindeutig im Vordergrund steht aber die persönliche Erlebenswelt von Gerold, der durch das private und berufliche Geschehen ziemlich durcheinandergeschüttelt wird . In sofern handelt es sich um um so etwas wie einen (verspäteten) , der in Entwicklungsroman.

Das Ganze liest sich locker und flüssig, Vom Stil und Anspruch her handelt es sich um eine (selbst)ironische Urlaubslektüre- mit einem gewissen thematischen Tiefgang. Die Geschichte ist bzgl. des Spannungsbogens intelligent aufgebaut. Die vermittelten Botschaften sind allesamt menschenfreundlicher Natur.
Nervig sind – insbesondere in der ersten Hälfte des Romans – die immer wiederkehrenden Schilderungen kleiner oder größerer Trinkgelage mit einigen Kumpels, die er scheinbar zu jeder beliebigen Zeit in seiner Stammkneipe antrifft.

So richtig etwas falsch machen kann man mit diesem Roman (Baujahr 2014) eigentlich nichts. Stimmung und Botschaft sind insgesamt optimistisch und aufbauend. GLATTAUER ist ein Buch gelungen, das anregend und intelligent unterhält.

“Die spürst du nicht” von Daniel GLATTAUER

Bewertung: 4 von 5.

Der aktuelle Roman des Wiener Journalisten und Autors GLATTAUER wirft ein sehr individuell gesetztes Licht auf die Situation von geflüchteten Migranten, die zwar in einem Wohlstands-Land (in dem Fall Österreich) gestrandet sind, die aber im gesellschaftlichen und privaten Leben nahezu unsichtbar bleiben.

Der Plot schafft einen entlarvenden Kontrast zwischen der etablierten akademischen Mittelschichts-Welt zweier einheimischer Familien und der prekären Lebenssituation einer von zahlreichen Schicksalsschlägen gebeutelten somalischen Flüchtlingsfamilie.
In einen Toskana-Urlaub darf die 14-jährige Tochter(Sophie Luise) der Hauptfigur (einer einer GRÜNEN-Politikerin) ihre somalische Mitschülerin mitnehmen; diese kommt dabei unter uneindeutigen Umständen ums Leben.
Der Roman beschäftigt sich mit den emotionalen bzw. moralischen Konflikten und den medialen, juristischen und politischen Folgen, die mit der Bewältigung dieser Situation für die Politikerin und ihre Familie verbunden sind.

GLATTAUER zeichnet nicht nur ein weitgehend stimmiges (wenn auch überzeichnetes) Psychogramm der beteiligten Personen (insbesondere der beiden Ehepaare, die gemeinsam in der Toskana waren), sondern lässt parallel den Wahnsinn der (sozialen) Medien in sein Buch einsickern: Auf jede Pressemeldung zum Fortgang der Ermittlungen wird eine Serie typischer Online-Kommentare und darauf bezogene Erwiderungen eingearbeitet: das pralle Social-Media-Leben in Bestform.
Auch der juristischen Aufarbeitung des Falles schenkt GLATTAUER seine Aufmerksamkeit – in Gestalt eines Kampfes zwischen David (einem Looser-Anwalt) und Goliath (einem unsympathischen Staranwalt).

Ein separater Handlungsfaden spinnt sich um die Sophie Luise, die sich in ihrem emotionalen Ausnahmezustand in einen mysteriösen Chat-Partner verliebt. Sie gerät in einen Strudel, in dem auch Drogen eine Rolle spielen. Querverbindungen zum Hauptthema des Buches sind nicht ausgeschlossen…

Ohne Zweifel wirkt die Geschichte ein wenig konstruiert; auch der moralistische Zeigefinger ist hin und wieder deutlich sichtbar. Die Nebenhandlung zwischen Tochter und ihrem “Freund” lässt die ein oder andere Frage unbeantwortet.
Trotzdem bietet der Roman eine Menge Stoff zum Mitfühlen und Mitdenken. Er analysiert sehr klar die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit einer moralischen Herausforderung und legt wirkungsvoll und gekonnt den Finger in eine gesellschaftliche Wunde: Geflüchtete Menschen leben zwar unter uns, haben aber in den eingespielten Abläufen unseres Alltags und unserer Medien so gut wie keine eigene Stimme.

Ein lesenswerter Roman, der intelligente und tiefgründige Unterhaltung liefert.

“Demokratie im Feuer” von Jonas SCHAIBLE

Bewertung: 5 von 5.

Der SPIEGEL-Redakteur Jonas SCHAIBLE geht in diesem Buch den entscheidenden Schritt weiter. Er legt ein Klimabuch vor, das nicht bei der Beschreibung des Klima-Notstandes und dem Beklagen der unzureichenden Maßnahmen stehen bleibt. Er zeigt auf, dass und wie sich unsere Demokratie verändern müsste, um den unvermeidbaren und weitreichenden Herausforderungen gerecht werden zu können.

SCHAIBLE legt sich zunächst mächtig ins Zeug, um die Dramatik der Situation klar und unmissverständlich zu beschreiben. Dabei analysiert er nicht nur die – inzwischen allseits bekannte – Klimadynamik selbst, sondern beleuchtet auch die unausweichlichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen (in Bezug auf Lieferketten, Energiesicherheit, Nahrungsmittelversorgung und Klimaflüchtlingsströmen). Doch damit nicht genug: Denkt man nämlich – wie der Autor – weiter, dann könnte auch die politische Stabilität unseres Gemeinwesens sehr schnell auf dem Spiel stehen. Der Rechtspopulismus mit seinen vermeintlich einfachen Antworten durch vermeintlich starke Führer lässt grüßen.

SCHAIBLE liegt unser demokratisches System sehr am Herzen. Er weist daher selbst angesichts der Dringlichkeit der Aufgabe und des bisherigen politischen Versagens den Gedanken (bzw. die zunehmend hörbare Forderung) zurück, einen autokratischen Weg einzuschlagen. Dieser Lösungsweg wäre ja alles andere als abwegig: Angesichts eines in weiten Teilen unbewohnbar werdenden Planeten bliebe letztlich kaum eine andere Wahl, als die effektivsten Mittel einzusetzen (weil irgendwann rein objektiv der Zweck die Mittel heiligen würde).
Doch der Autor bleibt standhaft: Er vertraut den inneren Kräften der Demokratie und misstraut den vermeintlich effizienteren autokratischen Strukturen.

Und jetzt wird es richtig spannend: Denn für SCHAIBLE ist eindeutig klar, dass sich unsere Demokratie verändern und an die aktuellen Herausforderungen anpassen muss. Ein neuer Freiheitsbegriff muss her: Es muss darum gehen, durch massives und rasches Handeln die zukünftigen Freiheitsräume zu sichern (statt an einem überholten, rein individualistischen Freiheitskonzept festzuhalten). Die Klimapolitik – so fordert er weiter – muss durch entsprechende Gesetze (mit Verfassungsrang) und geschützt durch unabhängige Institutionen (z.B. nach dem Modell der Zentralbanken) aus dem politischen Tagesgeschäft mit seinen Stimmungsschwankungen und Wahlkampfgetöse herausgenommen werden.
Der demokratische Streit kann und darf nur noch die Umsetzungsfragen betreffen – sonst läuft uns die Zeit davon und wir verlieren die Demokratie noch sehr viel grundsätzlicher.

Wenn man das alles liest, reibt man sich die Augen: Es wirkt so, als habe SCHAIBLE die z.T. groteske Diskussionen um die Wärmewende im Frühsommer 2023 vorausgesehen. Da wird im politischen Raum und in den Medien ganz bewusst eine Stimmung erzeugt und genutzt, die den mühsam aufgebauten gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich der Klimaziele schwächen soll – nur um daraus kurzfristig parteipolitisches (und wirtschaftliches) Kapital zu schlagen. Genau diese Schwäche der Demokratie hat SCHAIBLE in diesem Buch im Blick; genau dafür macht er praktikable Vorschläge.
Es fragt sich nur, ob unsere demokratische Kultur die Kraft aufbringt, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Denn auf ein bisschen “Freiheit” müsste die Politik im Sinne einer verantwortlichen Selbstbeschränkung verzichten. Unter den gegenwärtigen Vorzeichen werden die demokratischen Prozesse es nicht hinbekommen.

Es bleibt noch zu sagen, dass SCHAIBLE ein gut lesbares, sachliches und abgewogenes Buch geschrieben hat (es ist sicher weniger emotional als diese Rezension).
Es ist – kurz gesagt – das Buch der Stunde.

“Der elektronische Spiegel” von Manuela LENZEN

Bewertung: 4 von 5.

In den aufgeregten Zeiten von ChatGPT legt die Wissenschaftsjournalistin LENZEN ein angenehm ruhiges und nachdenkliches KI-Buch vor. Vielleicht hat das ja etwas mit der ungewöhnlichen Perspektive zu tun: Der Autorin geht es nämlich nicht in erster Linie um die neuesten technischen Meisterleistungen der KI-Programmierer, sondern um grundsätzliche Fragen in dem komplexen Spannungsfeld zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz.

LENZEN bedient vorrangig die Meta-Ebene, in dem sie z.B. fragt:
– Was macht Intelligenz eigentlich aus?
– Ist es sinnvoll, das menschliche Gehirn nachzubauen?
– Oder kommen technische Systeme auf ganz anderen Wegen zu intelligenten Lösungen?
– Kann menschliches Lernen ein Modell für Maschinen-Lernen sein?
– Braucht Maschinen-Intelligenz einen Körper und einen physischen Kontakt zur Außenwelt oder reichen Simulationen?
– An welchen Fragestellungen begegnen sich Kognitionswissenschaftler und KI-Tüftler?
– Warum scheitert die KI so oft an den Banalitäten des Alltags?
– Wie eng ist die Verbindung zwischen Sprache und Intelligenz?
– Welche Einblicke verschafft die KI-Forschung in den Charakter menschlicher Intelligenz?

Diese und ähnliche Punkte werden keineswegs auf einer abstrakt-philosophischen Ebene diskutiert. LENZEN nimmt uns – nach einem kurzen historischen Exkurs – mit in die internationalen Zukunfts-Labore, in denen zahlreiche Teams dem Rätsel der Intelligenz auf die Spur kommen wollen: Sie arbeiten mit Sprachmodellen, bauen neuronale Netze nach, simulieren Denk- und Problemlösealgorithmen und bauen Roboter, die sich in mehr oder weniger natürlichen Umgebungen zurechtfinden sollen.

Besonders anregend ist das Buch immer dann, wenn überraschend “menschelnde” Befunde dargestellt werden: So fehlt den ausgefeilten Denkmaschinen ausgerechnet der banale “gesunde Menschenverstand”: genau das selbstverständliche Alltagswissen, von dem wir Menschen gar nicht merken, dass war es von Kindesbeinen an haben. Oder es stellt sich plötzlich heraus, dass es sinnvoll sein kann, die Genauigkeit von Sensoren beim Erlernen neuer Funktionen zunächst künstlich zu begrenzen (damit nicht zu früh auf Details geachtet werden kann). Und man stößt auf immer mehr Belege dafür, dass das Erwerben von Intelligenz eine erstaunlich körperliche Komponente hat: Echte Intelligenz spielt sich nicht in einem isolierten “Rechenzentrum” ab, sondern setzt Erfahrung mit einer realen Umgebung voraus.

LENZEN führt uns die meiste Zeit recht geschickt durch das Dickicht der unterschiedlichen Forschungsansätze, wechselt dabei immer wieder den Focus von der Metaebene zur Detailfragestellung.
Gegen Ende des Buches ist man aber nicht immer so ganz sicher, ob es nicht die ein oder andere Schleife zu viel gab. Bestimmte Gedanken wiederholen sich – und das sind dann Momente, in denen man sich eine noch etwas klarere und konsequentere Struktur wünschen würde.

Insgesamt liefert dieses Buch einen anregenden und wertvollen Beitrag zum Mega-Thema KI – gerade weil es kein technik-orientierter Text ist, sondern das Verstehen der menschlichen Intelligenz genauso wichtig nimmt wie den Einblick in die Entwicklung der faszinierenden Zukunftstechnologie.

“Kein Ich, kein Problem” von Chris NIEBAUER

Bewertung: 3.5 von 5.

NIEBAUER ist ein dem Buddhismus zugetaner Neurowissenschaftler, der sehr stark die Unterschiede zwischen den Funktionsweisen und Bewusstseinsdimensionen unserer beiden Gehirnhälften betont. Seine Mission in diesem Buch ist es, buddhistische Grundüberzeugungen durch neuro- und kognitionswissenschaftliche Befunde zu untermauern.

Der Autor geht zunächst sehr ausführlich auf den Vorrang ein, den die linke Gehirnhälfte speziell in unserer westlichen Moderne erobert hat. Dabei geht es ihm nicht nur um die hohe Gewichtung des sprachlich-analytisch-logischen Denkens, sondern auch um die “Konstruktion” eines stabilen, autonomen “Ich”, das sich als pausenlos interpretierende Instanz mit allen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen identifiziert (und bei der Suche nach Mustern und Regeln auch Zusammenhänge erfindet, die es gar nicht gibt).
Diese Dominanz der linken Hälfte gehe auf Kosten des eher bildhaft-ganzheitlich-intuitiv-fluiden Weltzugangs der rechten Gehirnhälfte, die eher eine Art Bewusstseinsstrom ausbildete und die innere Distanzierung und Relativierung gegenüber inneren und äußeren Ereignissen ermöglichten. Östliche meditative Praktiken schaffen – so die Überzeugung des Autors – eine Stärkung dieses “rechten” Erlebens – bis hin zu einer weitgehenden Auflösung der “Illusion” eines stabilen Ichs.

Die grundlegenden neurologischen Belege werden u.a. aus Beobachtungen und Experimenten mit sog. “Split-Brain-Patienten” abgeleitet. NIEBAUER interpretiert die erstaunlichen Befunde als Hinweis darauf, dass es tatsächlich zwei unterschiedliche Bewusstseine in unserem Gehirn geben kann.
Um auf den Titel des Buches zu kommen: Der Autor ist überzeugt davon, dass wir mit einer distanziert-beobachtenden Haltung gegenüber unseren Bewusstseinsinhalten nicht nur mehr Ruhe und Gelassenheit entwickeln könnten, sondern uns tatsächlich große Anteile von psychischen Leid ersparen könnten.
Es klingt ein wenig wie Zauberei: Wenn wir das Konzept eines “Ich” aufgeben (nicht nur theoretisch, sondern in der geübten Praxis), müssen wir uns nicht mehr mit den Empfindungen, Gedanken und Bewertungen identifizieren, die in unserem Bewusstseinsfeld auftauchen. Sie haben dann nicht mehr die Kraft und Bedeutung, uns (was immer das überhaupt ist) wirklich zu quälen. Sie erscheinen so fast zufällig, willkürlich, flüchtig und ohne nachhaltige Bedeutung (die ja erst unsere linke Hirnhälfte schafft).

Insgesamt hat NIEBAUER ein anregendes Buch vorgelegt, in dem interessierte Leser/innen die Berührungspunkte zwischen Neurowissenschaften und östlicher Bewusstseinspraxis nachvollziehen können. Man darf allerdings keine neutrale oder gar kritische Betrachtung erwarten: Der Autor will überzeugen und ist “beseelt” davon, eine hilfreiche Botschaft weiterzugeben. Dies tut er in einer angenehmen und motivierenden Sprache.
Seine Beispiele sind gut gewählt – aber die Grenzen seines Ansatzes sind nicht weit entfernt. Versetzt man sich in entsprechend eindeutige Situationen (Hunger, Schmerz, Folter, existentielle Verlusterfahrungen), erscheint die innere Distanzierung durch Aufgabe des Selbst nicht mehr besonders plausibel.
Das wiederkehrende Argument, man könne im Gehirn den Sitz des Ichs strukturell nicht ausmachen, überzeugt auch nicht wirklich: Was spräche dagegen, dieses Selbsterleben prozesshaft in einer – in besonderer Weise synchronisierte – Aktivierung bestimmter neuronalen Netze zu suchen?
Erwähnt werden muss auch, dass die extrem strikte Aufteilung bzw. Zuschreibung bestimmter Funktionen auf die beiden Hirnhälften längst nicht (mehr) wissenschaftlicher Konsens ist.

Trotz dieser Einwände lohnt sich das Lesen dieses Buches durchaus – wenn man es nicht als einzige Quelle der Information über das Gehirn benutzt. Die Einblicke in die – manchmal widersprüchlichen und täuschenden – Ergebnisse neuronaler Prozesse stellen manche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten in Frage. Und dass unser neurologisches Ich ganz sicher nicht dem intuitiven Alltagsverständnis entspricht, kann NIEBAUER auf anschauliche Art demonstrieren (dazu muss man nicht allen seinen Schlussfolgerungen folgen).
(Ein Tipp: Bei einem nicht ganz unbekannten Versandhändler bekommt man die englische Originalfassung fast geschenkt).

“Nano” von Phillip P. PETERSON

Bewertung: 3.5 von 5.

Das zentrale Thema dieses Wissenschafts-Thrillers ist die Hybris des Menschen hinsichtlich seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten, Zukunftstechnologien zu beherrschen. Dargestellt wird dieses Problem am Beispiel der (fortgeschrittenen) Nanotechnologie.

Die Story beinhaltet die sehr detaillierte Darstellung der Folgen eines aus dem Ruder gelaufenen Experimentes mit Nanomaschinen, die sich selber replizieren (vervielfältigen) können. Diese Fähigkeit sollte dann die Grundlage dafür sein, dass durch entsprechende Programmierung dieser Miniatursysteme später beliebige Aufgaben bewältigt werden könnten. Dabei geht es in erster Linie darum, aus den in der Umwelt vorgefundenen Materialien so ziemlich alle denkbaren Produkte zu erstellen – ohne dass dies noch nennenswerter menschlicher Anstrengung bedürfte.
Diese Nanomaschinen würden dann – so das langfristige Ziel – mit einer geradezu unvorstellbaren (und unerbittlichen) Konsequenz die gewünschten Dinge Atom für Atom zusammensetzen – solange ihnen geeignete Rohstoffe zur Verfügung ständen.
Man darf wohl verraten, dass dieses erste Experiment scheitert und dadurch Konsequenzen entstehen, durch die die Menschheit in einem bisher unbekannten Ausmaß herausgefordert wird.

So wie es sich für einen solchen Science-Fiction-Roman gehört, wird die heraufziehende Katastrophe natürlich personalisiert. Wir lernen einige Wissenschaftler/innen und einige Politiker/innen kennen, die im Verlaufe des Buches mit ihren sehr unterschiedlichen Mitteln versuchen, der Problematik Herr zu werden. Als zentrale Identifikationsfigur fungiert eine eine junge Forscherin, die nach dem spektakulären Verlust ihres Mannes mit ihrer siebenjährigen Tochter Strapazen und Traumatisierungen erlebt, die wohl gleich mehrere lebenslange Psychiatrie-Aufenthalte begründen könnten (für Mutter und Kind).

Der Wissensschafts-Fraktion (in der es auch einen “Bösen” gibt – natürlich den Chef) steht die politische Entscheider-Riege gegenüber, in der – natürlich – ganz besondere Prioritäten bestehen. Der Bundeskanzler selbst ist übrigens von Beginn an direkt in das Geschehen einbezogen und ist daher dort der wichtigste Protagonist. Er gehört zu den wenigen Figuren, die sich durch eine gewisse innere Ambivalenz auszeichnen.
Das – sehr konfliktträchtige – Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik wird somit zu einem zweiten Grundsatzthema des Buches.

Als Katastrophen-Thriller hat dieses Buch einen klar definierten Spannungsbogen: Es bleibt – Überraschung! – so ziemlich bis zur letzten Sekunde offen, ob das wahrhaft grenzenlose Unheil abgewendet werden kann.
Es gibt zwar eine sehr dynamische Eskalationsdynamik, die aber irgendwie ziemlich gradlinig verläuft und wenig echte Überraschungen enthält. Der ganze Plot wirkt ein wenig eindimensional (in kleinen Stufen immer mehr desselben…).
Man würde einigen Figuren ein bisschen mehr psychisches Eigenleben wünschen, hätte gerne mehr Introspektion bzgl. der jeweiligen Empfindungen. So kommen einem die beteiligten Personen nicht wirklich nahe – insbesondere das Kind bleibt irgendwie ein unbekanntes Wesen mit übermenschlichen physischen und psychischen Kräften.

Vielleicht trägt aber auch die Länge des Buches dazu bei, dass letztlich der Funke nicht so recht überspringt. Einen ersten Geschmack davon bekommt man schon in dem quälend langsamen Auftakt: Die Anreise des Kanzlers wird wirklich übertrieben minutiös geschildert. Die meisten Leser/innen werden wohl ziemlich froh sein, wenn die Sache dann viele hundert Seiten später endlich ein Ende gefunden hat (welches, ist dann für einige sicher schon fast egal…).

Natürlich ist die Nano-Technologie eine extrem interessante Zukunftstechnologie. Aber auch Wissenschafts-Nerds werden wohl mit den dargebotenen Hintergrundinformationen nicht so richtig glücklich sein. Es geht dem Autor ganz eindeutig mehr um die spektakulären Katastrophen-Szenarien als um Wissenschafts-Vermittlung.

Für eine echte Empfehlung reicht das alles nicht.

“Erschütterungen” von Joachim GAUCK und Helga HIRSCH

Bewertung: 4.5 von 5.

GAUCK war als Bundespräsident – und ist jetzt in der Zeit danach – ein Mann der starken, wohl gesetzten Worte. Diese Kompetenz setzt er in seinem neuen Buch engagiert ein, um seinen Sorgen um die Zukunft unserer Demokratie Ausdruck zu verleihen. Mit der Co-Autorin, der Publizistin Helga HIRSCH, arbeitet GAUCK schon lange zusammen; da das Buch aus der Ich-Perspektive GAUCKs geschrieben wurde, werde ich im Folgenden nur noch ihn als Autor nennen.

Im ersten Teil des Buches geht es um die Erschütterungen im Zusammenhang mit der außenpolitischen und militärischen Zeitenwende nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.
GAUCK geht die Sache zunächst gleich auf mehreren Ebenen historisch an:
– Er setzt sich kritisch mit der deutschen Ostpolitik auseinander, der er in der zweiten Phase – also nach dem Zerfall der UDSSR – große Versäumnisse vorhält.
– Er schildert die Entwicklung des Putin-Russlands zu einem autoritären, nationalistisch-imperialistischen Staat.
– Die Geschichte der Ukraine wird daraufhin analysiert, wie sich aus ihrer wechselhaften Geschichte eine nationale Identität entwickeln konnte.
– Besonders kritisch bewertet GAUCK den – aus seiner Sicht ignoranten und verantwortungslosen – Umgang der deutschen Politik mit den Übergriffen Putins auf die Krim und die Ost-Ukraine im Jahr 2014.
Als Schlussfolgerungen aus diesen – mit vielen Sachinformationen unterfütterten – Betrachtungen gelangt GAUCK zu einer eindeutigen Positionierung: Es bleibe für Europa allgemein und für Deutschland im Besonderen keine Alternative zu einer massiven Verstärkung der militärischen Verteidigungsfähigkeit. Diese Maßnahmen müssten begleitet und getragen sein durch eine entsprechende Bereitschaft, sich weiteren imperialistischen Vorstößen im Ernstfall auch mit Waffengewalt entgegenzustellen – und so unsere freiheitlich-demokratische Lebensform zu erhalten.

Der zweite Teil des Buches wendet sich der innergesellschaftlichen Situation zu.
GAUCK skizziert vor allem drei kritische Entwicklungslinien, durch die er die Stabilität unseres Gemeinwesens zwar nicht akut bedroht, aber tendenziell gefährdet sieht:
– In Krisen- und Überforderungszeiten bestehe grundsätzlich die Gefahr, dass der zu Autoritarismus neigende Teil der Bevölkerung für Parolen und Scheinlösungen rechter Populisten anfällig würden.
– Eine neue extrem libertäre Bewegung zeige einen übersteigerten Individualismus, der staatliche Regelungen prinzipiell als freiheitseinschränkend bewerte und nur noch eigene Haltungen und Interessen als Maßstab anerkenne.
– Sorgen machen dem Autor auch die Auswüchse einer “woken” Bewegung, deren dogmatischer Kampf gegen “weißen Rassismus” eher zu einer neuen Spaltung der Gesellschaft beitrage.
GAUCK appelliert leidenschaftlich an die demokratische Mitte der Gesellschaft, aktiv Verantwortung für den Erhalt unserer liberalen Demokratie zu übernehmen und damit diesen Fehlentwicklungen eine engagierte Zivilgesellschaft entgegenzusetzen.

Als Leser/in kann man den Informationen und Argumentationslinien sehr gut folgen. Der Text ist hervorragend strukturiert, die Sprache ist schnörkellos und klar.
GAUCK versteckt sich mit seinen Überzeugungen nicht: Er hat ein Meinungsbuch geschrieben, er will überzeugen. Aber er führt für seine Sichtweisen jede Menge Begründungen ins Feld, taucht dabei in einer Tiefe in historische Details ein, die erhellt, zugleich aber nicht überfordert.
GAUCK legt an den entscheidenden Stellen auch offen, dass seine Werte und Überzeugungen durch seine persönliche Lebensgeschichte geprägt wurden: Seine hohe Gewichtung der demokratischen Rechte stammt nicht aus der gelebten Selbstverständlichkeit, sondern aus der Perspektive eines Freiheitskämpfers in einem Unrechtsstaat.

Ohne Zweifel untermauert der Ex-Bundespräsident auch mit diesem Buch sein Renommee als eine moralische Instanz im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs. Seinen genauen Beobachtungen und klugen Schlussfolgerungen kann man – soweit man sich nicht an den Rändern des politischen Spektrums bewegt – in weiten Teilen problemlos folgen. Das trifft insbesondere auf seine Mahnung an die politischen Entscheidungsträger zu: Deren Aufgabe sei es nämlich, in kritischen Phasen die als notwendig erkannten Transformationsschritte auch gegen Widerstände und populistische Meinungsmache durchzuhalten – statt sich wahltaktisch auf “die Stimme des Volkes” in Meinungsumfragenzu beziehen.

Auf zwei Punkte sei trotzdem hingewiesen:
– Einen Teil seiner Leserschaft wird GAUCK vermutlich mit einigen Formulierungen zu der relativen Bedeutung von “Freiheit” und “Leben” irritieren. Die von ihm aufgestellte Forderung, man müsse für die Verteidigung der Freiheitsrechte im Extremfall auch bereit sein, sein Leben (im militärischen Kampf) einzusetzen, ist im Nachkriegs-Deutschland (mit seiner eher pazifistischen Grundhaltung) sicher nicht unumstritten.
– Zwar muss sicherlich nicht jedes Buch ein Klimabuch sein – trotzdem kommt die epochale Auseinandersetzung um die Umsteuerung von einer fossilen zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise in dem Text eindeutig zu kurz. Hier spürt man, dass GAUCKs Biografie durch andere Themen bestimmt wurde.
Diese – allerdings – weiß er mit einer kaum zu übertreffenden Klarheit zu vermitteln. Man nimmt ihm seine Erschütterung über die dargestellten aktuellen Risiken ohne Zweifel ab.

“Das Lied der Zelle” von Siddartha MUKHERJEE

Bewertung: 4 von 5.

Eine Möglichkeit, sich diesem Buch zu nähern, ist wohl der Versuch, es entweder als (populärwissenschaftliches) Sachbuch oder als (wissenschaftliches) Fachbuch (oder gar Lehrbuch) einzuordnen. Man kann an diesem Versuch nur scheitern – und genau darin liegt die Charakteristik dieser Publikation.

Der indisch-amerikanische Krebsforscher und Onkologe MUKHERJEE stellt hier die Geschichte, die Befunde und die Zukunftsperspektiven der (angewandten) Zell-Biologie in einer Informationsbreite und-tiefe dar, die einem universitären Lehrbuch zur Ehre gereichen würde. Das Buch steckt voller wissenschaftlicher Fachbegriffe; auch komplexe Hypothesen und deren Überprüfung werden ausgeführt. Man gewinnt den (vielleicht etwas naiven) Eindruck, dass man selbst als Experte kaum mehr wissen kann, als man es hier erfährt.

Was jedoch eher an ein Sachbuch für ein breiteres Publikum erinnert, ist die Einbettung dieser Faktenfülle bzw. der Stil des Autors.
MUKHERJEE verwebt dafür ein ganzes Arsenal von Darstellungsfäden:
– Er stellt sehr plastisch und detailliert die Historie der Erforschung der Grundbausteine des Lebens dar (und parallel deren medizinische Anwendung) dar,
– er personalisiert die Erkenntnisfortschritte, indem er die jeweils beteiligten Wissenschaftler/innen vorstellt (einschließlich ihrer Beziehungen und Rivalitäten),
– er personalisiert die mühsamen und opferreichen Behandlungsfortschritte durch den empathischen Bezug auf einzelne Patienten und deren Schicksale,
– er bringt sich als Forscher und Arzt selbst als ein fühlendes Wesen ein, das auf Erfolge und Misserfolge und auch auf das Leid seiner Patienten emotional reagiert,
– er lässt einen Blick auf seine inneren Reflexionen und Abwägungen hinsichtlich der Zukunftsperspektiven seiner Wissenschaft zu und
– er bringt sich auch als Betroffener (einer depressiven Erkrankung) ein.
Und – als ob das nicht genug wäre – wird dieses Potpourri in einer stellenweise fast poetischen Sprache dargeboten, in die immer wieder Formulierungen eingehen, die fernab von jeder wissenschaftlicher Nüchternheit stehen.

Da die Wissenschaft von den Zellen so grundsätzliche Bedeutung hat, ist das Buch von MUKHERJEE in weiten Teilen auch eine historisch orientierte Betrachtung von Biologie und Medizin insgesamt. Es gibt wohl kaum einen Bereich, der hier nicht angesprochen würde: Es geht um Genetik, um die Zellphysiologie, um Blut, um Organe, um Knochen, um Stammzellen, um das Gehirn, um Krebs, um Infektionen, um Transplantationen, um das Immunsystem, um Aids, um Corona, um Forschungsmethoden, um die wissenschaftliche Community, usw.
Es ist wirklich schier grenzenlos…

Eine nachdenkliche Reflexion hinterlässt der Autor in seinen Schlussbetrachtungen: Er stellt hier die – auch für ihn offene – Frage, weit weit uns die technologischen Möglichkeiten der zellulären Medizin noch führen wird. Wann und wie werden wohl die bereits vorhandenen Fähigkeiten, neue Zellen, Gewebe und Organe zu züchten und genetisch zu manipulieren, dazu benutzt werden, den menschlichen Körper zu optimieren und seine Alterung bzw. Sterblichkeit zu verhindern? Werden wir dann noch die gleiche Spezies sein?

Ist nun dieses Buch ein eindeutiger Lesetipp? Das kommt darauf an!
Wer im Bereich des biologischen und medizinischen Allgemeinwissens eine Stufe weiter kommen möchte – wer sich also vom interessierten zum informierten Laien entwickeln möchte – der verhebt sich mit diesem Text höchstwahrscheinlich. So ansprechend das Material auch aufbereitet ist: Die Informationsflut wird man wohl als überfordernd erleben.
Wer allerdings die Zeit und Motivation mitbringt, sich in dieses zukunftsrelevante Thema mal so richtig einzuarbeiten (ohne gleich ein trockenes Fachbuch zu lesen) – für den öffnet sich hier eine bis zum Anschlag gefüllte Fundgrube. Und einen extrem sachkundigen und sympathischen Führer gibt es noch obendrauf.

Vielleicht wäre das Buch (für das etwas breitere Publikum) noch “perfekter” geraten, wenn auf die letzte Detailebene verzichtet worden wäre (die sich sowieso kein Mensch merken kann). Aber dazu ist der Autor wohl zu sehr Wissenschaftler.
Dass der sehr persönliche Schreibstil auch gelegentlich ins Pathetische abrutscht, verzeiht man dem durch und durch menschenfreundlichen Autor gerne.

(Durch die Hörbuchfassung wird man übrigens durch den Vorleser, Olaf Pessler, auf extrem angenehme Weise geführt. Allerdings stellt man sich aufgrund seiner Stimme den 1970 geborenen Autor deutlich älter vor. Sicherlich eignet sich diese Vermittlungsform aber dann weniger, wenn es um das Erfassen und Speichern der unendlich vielen Details geht).