“Ein falsches Wort” von René PFISTER

Bewertung: 4 von 5.

Dieses Buch Anfang Mai 2023 zu lesen, war eine besondere Erfahrung: Die Empörung über einige Äußerungen von Boris Palmer führten gerade zu einer weitgehenden Selbstkritik und seinem Parteiaustritt; in den Kommentarspalten von SPIEGEL- und ZEIT-online ging es hoch her.
Genau um ähnliche Konstellationen geht es in diesem Buch des SPIEGEL-Redakteurs (erschienen im Dezember 2022).

PFISTER widmet sich dem Phänomen “Cancel Culture” (oder auch “Wokeness” oder “Identitätspolitik”) überwiegend aus amerikanischer Perspektive. In einer kurzen persönlichen Einleitung stellt er dar, wie positiv die ersten Eindrücke in seiner neuen Nachbarschaft (in Washington D.C.) war: Er stieß auf ein liberales und tolerantes Klima, in dem er auch seine Kinder gut aufgehoben empfand.
Dieser Eindruck hielt nicht lange vor. Der Autor entdeckte immer mehr Anzeichen dafür, dass nicht nur im rechten Trump-Lager Demagogie und Spaltung betrieben wurde, sondern sich in weiten Teilen der amerikanischen Universitäts- und Medienlandschaft (und in einem Teil der Demokratischen Partei) ein illiberaler linker Dogmatismus verbreitet hatte, der Rede- und Meinungsfreiheit bedroht.

Den typischen Facetten dieser Entwicklung geht PFISTER anhand einiger populärer Fälle in amerikanischen Universitäten und Printmedien nach. Er stellt dar, dass z.T. einmalige “kritische” Formulierungen (die ganz nebenbei oft die Mehrheitsmeinung der Bürger widerspiegelten), zu unbarmherzigen Social-Media-Kampagnen geführt haben. Da immer wieder auch das Umfeld (Arbeitgeber, Zeitungen, Institute) nicht den Mut hatte, sich dem massiven Druck entgegenzustellen, wurden nicht nur der freier Meinungsaustausch verhindert (durch Absage von “unliebsamen” Vorlesungen oder Veranstaltungen). Selbst Karrieren von etablierten Wissenschaftlern oder Journalisten wurden jäh beendet.
PFISTER arbeitet heraus, dass eine aus dem Ruder gelaufene Kultur der “Empfindsamkeit” dabei eine wesentliche Rolle spielt: An die Stelle einer argumentativen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzung tritt immer häufiger der Hinweis, dass man (eine bestimmte marginalisierte Gruppe) sich durch bestimmte Haltungen, Inhalte oder Formulierungen “verletzt” oder “bedroht” fühle.
Der Autor macht sehr deutlich, dass in einem solchen Klima die Grundlage für ein Ringen um die “besseren” Argumente bzw. um faktenbezogene Fortschritte in der Erkenntnis zum Erliegen kommen müssten. Damit nähme sich – so der Autor – das linke Lager selbst die Möglichkeit, dem rechten anti-faktischen Populismus einen offenen und rationalen Diskurs entgegenzustellen.
Kritisch betrachtet PFISTER auch das opportunistische Verhalten von Teilen der Wirtschaft, die gerne die Gelegenheit ergreifen würden, sich durch eine demonstrativ diverses Image einen moralischen Heiligenschein aufzusetzen – um so von viel grundsätzlicheren Defiziten und Problemen abzulenken.

Der entscheidende Pluspunkt dieses Buches steckt in dem Umstand, dass der Autor diese Situation aus der Perspektive eines Journalisten beschreibt, der sich selbst eindeutig dem liberal-fortschrittlichen Spektrum zuordnet. Bei PFISTER lugt an keiner Stelle Sympathie für die Haltungen und Ziele rechter Populisten um die Ecke. Man nimmt ihm ab, dass es ihm nicht um eine Schwächung von emanzipatorischen Bewegungen geht. Im Gegenteil: Immer wieder bedauert er Konstellationen, in denen Intoleranz und Dogmatismus auf Seiten von Aktivisten dem politischen Gegner inhaltliche Munition und politische Zustimmung einbringt. Für PFISTER ist die manchmal mit nahezu religiöser Inbrunst dargebotene “reine Lehre” (z.B. bei der Bekämpfung von “strukturellem weißen Rassismus” durch verordnete Selbstgeißelung) nicht nur inhaltlich unglaubwürdig, sondern auch ausgesprochen dumm bzw. schädlich.

Wenn man 250 Seiten lang über die skizzierten Themen schreibt, lässt sich eine gewisse Redundanz nicht vermeiden. So spannend und unterschiedlich die Beispiele und Facetten auch sein mögen – natürlich landet PFISTER immer wieder bei seinen Grundthesen.
Das Buch verliert aber dadurch nicht an Substanz – es wirkt eher überzeugend, wenn aus unterschiedlichen Bereichen und Blickwinkeln sehr ähnliche Schlussfolgerungen zu ziehen sind.
Der Autor kann gut begründen, warum ihm – trotz aller Unterschiede – die genaue Betrachtung der amerikanischen Situation so lohnend erscheint: Inzwischen gibt es ja auch in Deutschland zahlreiche Beispiele für den massiven Druck, den gut organisierte Aktivistengruppen auf einzelne “Missetäter/innen” und ihr Umfeld ausüben. Nicht konforme Meinungen in aktuell gesellschaftlich hochgekochten Themen (z.B. Transgender) zu äußern, ist inzwischen auch bei uns für viele (vor allem) jüngere Wissenschaftler/innen oder Medienmenschen offenbar durchaus potentiell karriereschädlich.

PFISTER hat hier ein gut lesbares, informatives und anregendes Sachbuch vorgelegt, dass das Zeug hat, den öffentlichen Diskurs bzgl. dieser Thematik zu versachlichen und auf ein höheres Niveau zu bringen. Und – obwohl es der Autor nicht explizit anspricht: In diesem Text steckt auch ein Apell an die Leserschaft, sich der Versuchung zu widersetzen, grundlegende Prinzipien der Fairness, des kritischen Abwägens und der Mäßigung über Bord zu werfen, um sich einem doktrinären Meinungsdruck zu unterwerfen (und zwar auch dann nicht, wenn die Richtung mit eigenen Überzeugungen übereinstimmten sollte).
Und: Egal, wie man den aktuellen (Sonder-)Fall “Palmer” beurteilen mag: Das Buch bringt zusätzliche Licht in die zugrundeliegenden Dynamiken.

“Mehr als nur Atome” von Sabine Hossenfelder

Bewertung: 4 von 5.

Der Titel des Buchers täuscht ein wenig: Er greift zwar den Schlusssatz des Buches auf – dieses versöhnliche Statement repräsentiert aber nicht den Inhalt dieses Textes.
Wer zu diesem informativen Sachbuch greift, sollte sich klar darüber sein, dass hier die “Welt” ausschließlich aus Sicht der Grundlagen-Physik beschrieben und interpretiert wird.
Das soll nicht als Kritik verstanden werden – aber es geht tatsächlich in einem großen Umfang um die Atome als Basis für alles.

Die Autorin legt ihre Karten von Anfang an auf den Tisch: Sie outet sich als Hardcore-Physikerin, die sich mit ihren Erkenntnismethoden und den Regeln wissenschaftlicher und mathematischer Akribie in einem fest abgesteckten Kosmos bewegt: Theorien haben empirisch überprüfbar zu sein und sollten auf willkürlich bzw. unnötige Zusatzannahmen verzichten. Punkt!
Konsequenter Weise wendet sie diese Maßstäbe nicht nur auf alle philosophischen oder religiösen Systeme an, sondern auch auf die zahlreichen hochspekulativen Konzepte der Grundlagen-Physik selbst. So erfahren wir z.B. in aller Ausführlichkeit von alternativen Welt-Entstehungs-Theorien oder von kosmischen Bewusstheits-Ideen, die zwar oft auf genialen mathematischen Modellen beruhen, die aber bei HOSSENFELDER (die ein Fan der Mathematik ist) wegen mangelnder Überprüfbarkeit durchfallen.

Am Beginn ihres Buches nimmt uns die Autorin mit in die wundersame Welt der Relativitätstheorie, in der die intuitiven Vorstellungen von Zeit geradezu zertrümmert werden.
Sofort fällt auf, dass es HOSSENFELDER gut gelingt, eine Verbindung zwischen den Fachbegriffen und dem Allgemeinverständnis zu schaffen. Sie lässt die Fachsprache nicht weg, veranschaulicht sie aber sehr gekonnt. Und sie hat (bis auf einige Stellen am Ende des Buches) ein bemerkenswertes Gefühl dafür, wann mehr Tiefgang die hier angesprochene Leserschaft überfordern würde. So enthält zwar das Buch einige – durchaus anspruchsvolle – Diagramme, begibt sich aber nicht auf die Ebene mathematischer Formeln bzw. Berechnungen.

Das Kernthema des Buches ist das deterministische Weltbild der Physik. Sein Postulat: Sind die Anfangsbedingungen eines Systems (vollständig!) bekannt, steht aufgrund der bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten fest, wie es weitergeht. Das gilt (im Prinzip) in dem relativ großen Zeitraum zwischen den ersten Millisekunden nach dem Urknall bis zum Endzustand eines Kosmos, in es dem wegen des Entropieverlustes keinerlei Strukturen mehr geben wird (das Konzept der Entropie wird ausführlich erläutert).
Einen großen Raum nimmt die Diskussion ein, ob und in welchem Umfang die Determiniertheit der klassischen Physik durch die Quantentheorie (und die Schwarzen Löcher) ausgehebelt wird. Die Autorin stellt das Für und Wieder differenziert dar, lässt am Ende ihre Hoffnung durchblicken, dass am Ende eine Art “Weltformel” doch alle Phänomene in einer vollständigen Kausalität einfangen könnte. Ein wenig widersprüchlich fallen allerdings ihre Einschätzungen aus, wie bedeutsam die Quantenphysik für Phänomene der “normalen” Welt (oberhalb der Molekülgröße) sind. Sie räumt jedenfalls ein, dass nach jetzigem Stand der Zufall und die Unberechenbarkeit durch die Quantenmechanik in die aufgeräumte Welt der Physik eingedrungen ist.

Es macht HOSSENFELDER ganz offensichtlich Freude, uns mit Gedankenspielen zu irritieren und dabei vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. So kommt sie z.B. zu dem (überraschenden) Schluss, dass es mit den Gesetzen der Physik nicht völlig unvereinbar wäre, dass die Welt vor 6000 Jahren erschaffen wurde und seitdem nach den bekannten Naturgesetzen ´funktionierte. Eine solche Theorie sei nur “schlecht” (nicht brauchbar), weil sie keine wirklichen Erklärungen bzw. Vorhersagen erlaubte.
Anregend ist auch der Ausflug in die hypothetische Vorstellung, dass außerhalb unseres Bewusstseins keine reale Welt existiert: zwar möglich, aber auch eine Theorie mit wenig Erklärungskraft.

Relativ hoch hängt die Autorin den wohl für menschliches Verhalten spannendsten Anwendungsbereich des Determinismus: die Frage nach der Willensfreiheit.
Hier wartet vielleicht eine kleine Enttäuschung auf die Leserschaft: Während um das Konzept in vielen anderen Publikationen im Zusammenspiel verschiedenster Disziplinen hochkomplex gestritten wird, bietet HOSSEBFELDER – genau betrachtet – nur eine Antwort: Weil in der Physik eben alles determiniert ist, kann es eine Willensfreiheit einfach nicht geben!
Dem von anderen Wissenschaftlern ins Feld geführte Phänomen der Emergenz nimmt die Autorin schnell die Luft aus den Segeln: Ihr sei noch kein Beispiel untergekommen, bei dem man die Eigenschaften eines Makrosystems nicht aus den (molekularen) Interkationen der Bestandteile ableiten könnte. Natürlich wird auch die Chaos-Theorie als Gegenargument vom Tisch gefegt (weil sie nicht anti-deterministisch sei).
Hier argumentiert eine Physikerin, die keiner Angst vor dem Vorwurf des “Reduktionismus” hat. Da überrascht nicht, dass die Autorin keine Freundin von Konzepten ist, die dem Gesamtkosmos oder einzelnen Elementarteilchen ein Bewusstsein zusprechen.

Wer wirklich etwas über die praktische Welterklärung durch Physik erfahren will, wird vielleicht etwas enttäuscht darüber sein, wie ausführlich sich die Autorin mit ziemlich abgedrehten Theorien über alternative Universen, die Feinabstimmung von Naturkonstanten oder das Erschaffen neuer Universen auseinandersetzt. Hier hat sich HOSSENFELDER wohl einige Mal ein wenig in einer Spezialwelt verloren, die nur noch für physikalische Nerds von Interesse sind. Allerdings: der Laie staunt, was es so alles gibt….
Die an zwei Stellen des Buches eingefügten Interviews lockern zwar die Struktur des Textes auf; andererseits unterbrechen sie aber auch ein wenig den Argumentationsfluss und werden nicht vollständig in die Ausführungen der Autorin integriert.

Eine gewisse Affinität zu alltagsfernen physikalischen Spitzfindigkeiten sollte man als Leser/in dieses Textes schon mitbringen.
Auch wenn man nicht jede dargestellte Theorievariante gebraucht hätte und von der Radikalität einiger Schlussfolgerungen zurückschrecken sollte: Dieses Buch bietet einen vorzüglichen und faszinierenden Einblick in die wissenschaftliche Denkweise der Grundlagen-Physik.
Die Relativierung ganz am Ende kommt dann ein wenig plötzlich… (s.o.).


“Wie man aufhört, zu viel zu denken” von George CURE

Bewertung: 3 von 5.

Dieser – offenbar im Selbstverlag erschienene – psychologische Ratgeber wurde (im April 2023) praktisch verschenkt (als Ebook für unter 1 €). Deshalb wollte ich einen Blick darauf werfen und habe den Text dann vollständig gelesen.

Der englische Autor (über den ich keine Informationen gefunden habe) verfolgt den – gerade ziemlich populären – Ansatz, dass wir unserem Denken nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern wir lernen können, es entweder weniger zu beachten oder so umzuprogrammieren, dass es uns weniger belastet oder gar krank macht. Er wandelt dabei auf den Spuren der Kognitiven Verhaltenstherapie, der Achtsamkeit und der Positiven Psychologie.

Es gibt in diesem Buch eine Reihe von praktischen Übungen, vor allem Atem- und Achtsamkeitsübungen und konkrete Anleitungen zur Veränderung von schädlichen (dysfunktionalen) Gedanken bzw. Grübeleien. Auch ein kurzes Kapitel über Angst findet sich in diesem Text.

Die angebotenen Informationen und Vorschläge sind alltagsnah, nachvollziehbar und fachlich seriös. Das betrifft vor allem den Bereich des Grübelns (des “Überdenkens”). Eher dünn (und subjektiv) fallen die Hinweise zum Umgang mit Ängsten aus – hier liefern andere Selbsthilfebücher weit mehr.
Warum der Autor am Ende noch das Konzept des “Unbewussten” einführt, wird nicht so ganz deutlich; dieses letzte Kapitel wirkt ein wenig unsortiert.

Der Schreibstil des Autors wirkt nicht durchweg besonders professionell, eher persönlich. Wir haben es hier nicht mit einem durchlektorierten Sachbuch zu tun, sondern mit einem Selbsthilfe-Angebot, das niederschwellig sinnvolle und sachgerechte Informationen vermittelt.
Das momentane Preis/Leistungsverhältnis (Ebook) ist dabei natürlich unübertreffbar; ich würde aber wohl eher zögern, dieses Buch als Taschenbuch (oder gar als Hardcover) zu empfehlen.

“Schummeln mit ChatGPT” von Christian RIECK

Bewertung: 4 von 5.

Der Wirtschaftsprofessor (Spezialgebiet: Spieltheorie) ist auch ein bekannter YouTuber und hat eine eigene Fangemeinde (über 300.000 Abonnenten). Er bewegt sich gerne ein wenig außerhalb des (grünorientierten) intellektuellen Mainstreams und gehört sicher nicht zu den Menschen, denen es an Selbstbewusstsein mangelt.
Mit diesem Buch war RIECK echt schnell: Es hat wohl (Anfang März 2023) das erste ernstzunehmende Ratgeberbuch für “normale” Anwender des Senkrechtstarter-Programms ChatGPT verfasst. Damit das möglich wurde – so berichtet der Autor nicht ohne verschmitzten Stolz – musste er auf eine Ko-Autorin zurückgreifen. Er nennt sie “Klara” – und natürlich steckt dahinter niemand anderes als ChatGPT selbst.
Das ist schonmal ein toller und faszinierender Aufschlag: Die KI, die sich (unter Anleitung) selbst vorstellt und erklärt.

Der selbst gestellte Auftrag dieses Buches ist schnell beschrieben: Die Möglichkeiten und Grenzen des KI-Sprachsystems sollen so dargeboten werden, dass bei der Nutzung möglichst optimale Ergebnisse zu erzielen sind und Fehler vermieden (bzw. erkannt) werden.
Konkreter: Welche Eingaben (Prompts) sind dazu geeignet, den erwünschte Output zu generieren? Wie lassen sich im Zwiegespräch mit dem Bot Ergebnisse verfeinern oder differenzieren? Worin liegen genau die Stärken des Tools – und wo eher seine Schwächen?

In einem leger-lockeren Stil – man spricht ja mit seiner technikaffinen Community – präsentiert RIECK ein Kaleidoskop an Beispielen: Denn was liegt näher, als den Chatbot in Funktion zu zeigen und damit Anwendungs-Varianten vorzuführen, auf die man so ohne weiteres nicht selbst käme?!
Man kann sich selbst dabei zugucken, wie schnell man sich an die Vielseitigkeit der KI-Fähigkeiten gewöhnt. Eigentlich müsste man permanent innhalten und sich die Augen reiben: Das alles wird von einer Maschine in wenigen Sekunden verstanden, verarbeitet und formuliert? Und mit “alles” ist tatsächlich so ziemlich “alles” gemeint!

Der IT-Experte RIECK hält sich mit Staunen natürlich nicht auf. Er fühlt der KI auf den Zahn. Dabei legt er sich – wie es seinem Naturell entspricht – auch mit den eingebauten Regeln und Begrenzungen an und entlarvt sie als vermeintlich einseitig (weil z.B. die erneuerbare Energie zu gut, die Atomkraft zu schlecht wegkäme). Der Autor hält wenig von wertorientierten Vorgaben; ihm schwebt wohl eher ein zensurfreies Internet vor.
Das kann man allerdings auch ganz anders sehen. Mir scheint genau darin eine überraschende Stärke des KI-Systems zu liegen – dass es gelungen ist, von Beginn an ethische Prinzipien einzuprogrammieren, die es weitgehend ausschließen, dass es für kriminelle, gewaltverherrlichende, sexistische oder diskriminierende Zwecke eingesetzt wird. Gegenüber dem kruden Chaos des Internets macht das einen zivilisatorischen Fortschritt aus! (Dass man über einzelne Regeln trefflich streiten kann, soll nicht in Abrede gestellt werden).

Natürlich werden auch kritische Aspekte diskutiert. Schon im Titel spielt RIECK ja mit den vermeintlichen Schattenseiten. Der Autor hat dazu eine klare (und nachvollziehbare) Haltung: Statt das neue Tool zu dämonisieren und zu verbieten, sollte lieber der Umgang mit ihm trainiert und bewertet werden.

Die konsequente Praxisorientierung des Buches zahlt sich aus: Die Leserschaft bekommt ein Gefühl dafür, wie der “Gesprächspartner” tickt, wie man ihn zu Höchstleistungen anspornt und wo man ihn auf jeden Fall überprüfen sollte. Die Stärke des Chatbots ist die Breite seiner Text- und Welterfassung: Je allgemeiner und abstrakter man ihn fordert, desto mehr macht sich der Umfang seines Trainingsmaterials bemerkbar. Dieses erstaunlich umfassende “Verständnis” lässt sich dann kombinieren mit sehr klaren Wünschen für die Art des sprachlichen Outputs (Umfang, Stil, Niveau, …).
RIECK streift im zweiten Teil des Buches eine Menge spezifische Anwendungen (Mathematik, Logik, Programmieren, Literaturverzeichnisse, Werbung, …), wobei hier wegen des begrenzten Umfangs des Buches nur noch kurze Eindrücke vermittelt werden können.

Auch wenn man natürlich auf YouTube inzwischen unzählige Videos mit Anleitungen und Beispielanwendungen findet: das Buch von RIECK bietet durchaus einen Mehrwert. Das gilt vor allem für Menschen, die gerne in systematischer Form und in einem einheitlichen Stil durch ein Thema geleitet werden wollen.
Und das vorgelebte Zusammenspiel des Autoren-Duos macht bis zum Ende irgendwie Sinn und Spaß (wenn man mal von den Seitenhieben des Autors auf die Moralität des Chatbots absieht).

Der abschließenden Bewertung des Autors, dass es sich bei ChatGPT ohne Zweifel um ein intelligentes System handele, kann nur uneingeschränkt zugestimmt werden.

“Moral” – von Hanno SAUER

Bewertung: 4 von 5.

Der in Utrecht lehrende Philosophie-Ethiker Hanno SAUER hat ohne Zweifel einen großen Wurf gewagt: Er ist angetreten, nicht weniger als die komplette Moralgeschichte der Menschheit darzustellen – und zwar von den allerersten Anfängen bis in die pralle Gegenwart.
An einem solchen gigantischen Projekt (sicherlich SAUERs professorales Lebenswerk) kann man sich beweisen – oder auch scheitern…

SAUER liebt offenbar die Zahl 5 – denn er gliedert die Historie in entsprechende Entwicklungsetappen (5 000 000, 500 000, 50 000; … Jahre). Wer sich auf solche zeitlichen Dimensionen einlässt, kommt wohl nicht umhin, zusammen mit der Moralentwicklung gleich eine ziemlich umfassende Gesamtdarstellung menschlicher Kulturgeschichte zu liefern. Und da Kultur nicht loszulösen ist von den konkreten evolutionär-biologischen, klimatischen, geografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, erhalten wir mit diesem Buch gleich einen kompletten Geschichtslehrgang dazu. Dieser lässt sich wohl am ehesten mit dem Ansatz vergleichen, den HARARI in seinem Welterfolg (“Eine kurze Geschichte der Menschheit”) verfolgt hat: Beide betrachten nicht politische oder militärische Verläufe, sondern die großen und grundlegenden Entwicklungslinien des kulturellen Siegeszugs der Gattung Mensch (seltsamer Weise nimmt SAUER keinen expliziten Bezug auf HARARI).

In den einzelnen Epochen untersucht der Autor mit großer Sorgfalt, warum welche moralischen Regeln entstanden sind bzw. sich ausbreiten und etablieren konnten. Konkret stellt sich dabei immer die Frage, warum ein (biologisch weitgehend vorgeprägter) gebändigter Egoismus (oder sogar Altruismus) einen evolutionären Überlebenswert aufwies und welche Rolle später die kulturelle Evolution bei der Entwicklung komplexerer Moralsysteme eingenommen hat.
Wir werden im Laufe dieser historischen Entdeckungsreise mit einer Reihe von spannenden Perspektiven konfrontiert, die nicht unbedingt als Allgemeinwissen betrachtet werden könnte: Wem ist z.B. der Gedanke vertraut, dass die frühen Menschen offenbar dadurch eine Art systematische Selbst-Domestizierung betrieben haben, in dem sie besonders aggressive und unkooperative Gruppenmitglieder schlicht töteten?

Aus Sicht von SAUER gibt es einen sehr grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Moralentwicklung: Evolutionär programmiert sind wir nämlich eindeutig darauf, dass wir unsere altruistischen Seiten nur für eine kleine Gruppe von Verwandten oder Stammesmitglieder mobilisieren können. Hunderttausende von Jahren war die empathische Fürsorge für die eigene Gruppe unlösbar mit der eindeutigen Ablehnung und Feindschaft gegenüber den “Anderen” verbunden. Eine Kooperation über diese überschaubaren persönlichen Kreise hinaus ist eine Errungenschaft, die bis heute massive kulturelle und emotionale Energie kostet.
Es wird deutlich, dass SAUER eher erstaunt ist, dass es dem Menschen überhaupt gelungen ist, Solidarität und Verantwortung über die eigene Gruppe hinaus zu entwickeln. Nur so konnten allerdings komplexe und arbeitsteilige Sozialstrukturen entstehen, die dann schließlich in den letzten paar Hundert Jahren die moderne Welt ermöglichte.
Wie der Umgang mit aktuellen Herausforderungen zeigt, ist diese moralische Schwelle – die inzwischen auch die Verantwortung für zukünftige Generationen umfassen müsste noch längst nicht von allen Menschen erreicht.

SAUER nähert sich dem komplexen Thema “Moral” nicht nur von der historischen Seite: Sein Spektrum reicht von der Darstellung philosophischer Grundpositionen bis zur modernen sozialpsychologischen Forschung bzw. Verhaltensökonomie (mit ihren spieltheoretischen Experimenten über Egoismus und Kooperation). auch mit der Frage, ob es allgemeingültige “Moralische Wahrheiten” gibt, setzt sich der Autor auseinander.

Kommen wir vom Inhalt zur Form – die ich als mein persönliches Leseerlebnis darstellen möchte: In der ersten Hälfte des Buches breitete sich so etwas wie eine Begeisterung aus für die Vielfalt der Perspektiven und die didaktische Klarheit der Darstellung. Ich fühlte mich sicher geführt durch einen Experten, der mich durch ein unwegsames Gelände manövrierte.
Je näher mich SAUER an die Gegenwart führte, desto stärker war eine Tendenz spürbar, die sich von einer neutral-sachlichen Darstellung hin zu einem – ich formuliere es mal deutlich- subjektiv gefärbten Stil entwickelte, um dann bei moralischen Gegenwartsfragen gelegentlich in ein Schwadronieren umzukippen. Mir waren letztendlich einige Erläuterungen und Stellungnahmen zu selbstgewiss bzw. selbstverliebt und zu apodiktisch – so als hätte der Autor auf alle aktuellen Konfliktpunkte die eine richtige Antwort im Köcher.
Eine weitere Kritik betrifft die Lust des Professors an eloquenten Formulierungen. Bei allem Verständnis für eine Hochsprache, die sich an ein wissenschaftlich interessiertes und vorgebildetes Publikum richtet: SAUER haut am laufenden Meter Sätze heraus, in denen das eine Fremdwort zu viel (also das vierte oder fünfte) aus einem perfekt formulierten Satz eine selbstdarstellerische Zumutung macht. Schade – das hat so eine Koryphäe ganz sicher nicht nötig.

Damit kein Missverständnis entsteht: Selbst mit diesen kleinen Mängeln (wenn man sie überhaupt als solche empfindet), ist dieses 5-Sterne-Buch noch mindestens ein 4-Sterne-Buch und jedem Leser/jeder Leserin zu empfehlen, der/die moralischen Herausforderungen der Gegenwart einmal auf dem gut ausgeleuchteten Hintergrund der Menschheitsgeschichte betrachten möchte.


“Die Verteidigung der Wahrheit” von Jonathan RAUCH

Bewertung: 4.5 von 5.

Der preisgekrönte amerikanische Journalist Jonathan RAUCH legt mit diesem Buch ein leidenschaftliches und gewichtiges Plädoyer für eine Gesellschaft vor, in der es – noch bzw. wieder – anerkannte Prinzipien für die Suche nach und die Bewertung von Erkenntnissen gibt.
Seine Analysen, Argumentationsstränge und Lösungsvorschlage sind systematisch, nachvollziehbar und überzeugend.

Von Anfang an spürt man als Leser/in, dass diesem Buch eine klare Konzeption und ein Roter Faden zugrundliegt: RAUCH argumentierte an keiner Stelle assoziativ oder anekdotisch, sondern er führt in gut austarierten Schritten durch ein übersichtlich ausgeschildertes Gedankengebäude.

Nach einem Anfangs-Exkurs in die philosophischen Grundlagen gesellschaftlicher Ordnungen wird die Analogie zwischen dem politischen Liberalismus und dem epistemischen (also erkenntnisbezogenen) Liberalismus zum zentralen Ausgangspunkt für seine Thesen. Das bedarf einer kurzen Erläuterung.
Für Rausch ist die amerikanische Verfassung (und das darauf beruhende System) ein gutes Beispiel für ein Gesellschaftsmodell, in dem versucht wird, sowohl Stabilität als auch Flexibilität zu gewährleisten. Das passiert durch eingebaute Machtbegrenzungen bzw. Sicherungssysteme (“checks und balances”), die auf einem komplexen Zusammenspiel von Institutionen basieren. Durch eine Verständigung auf entsprechende (demokratische, pluralistische) Grundprinzipien bildet sich letztlich ein System aus, in dem nur Kooperation und Kompromissbereitschaft zum Erfolg führen können – jedenfalls, solange alle die Basis-Regeln auch mittragen (also z.B. der Präsident nicht Trump heißt). Dieses Politikverständnis nennt RAUCH “liberal” – in Abgrenzung zu autokratischen oder ideologiegesteuerten Systemen, die keine entsprechenden Freiheitsrechte und Partizipationsmöglichkeiten bieten.

Mit dem Begriff “epistemischen Liberalismus” beschreibt der Autor das parallele System der gesellschaftlichen Wahrheits-Gewinnung: Wissenschaft, Journalismus, Justiz und andere öffentliche Institutionen haben sich in den letzten 200 Jahren zunehmend auf gemeinsame Regeln und Vorgehensweisen geeinigt: Als Erkenntnisfortschritt wird anerkannt, was empirisch belegt, objektiv überprüfbar und in der Community der Experten kritisch hinterfragt und diskutiert wurde. Dabei spielen weder personengebundene Autorität noch eine zentralistische Organisation eine Rolle; stattdessen sind das System und die notwendigen Institutionen pluralistisch, selbstreguliert und selbstkorrektiv ausgerichtet. RAUCH ist zutiefst überzeugt davon, dass dies das denkbar beste Erkenntnismodell darstellt.

In der zweiten Hälfte des Buches führt RAUCH aus, wie diese so wertvolle “Verfassung der Erkenntnis” von drei bedeutsamen Entwicklungen der letzten ca. zwei Jahrzehnte massiv angegriffen wurde: von den aufmerksamkeitsheischenden und emotionsaufpeitschenden digitalen sozialen Medien, von den systematischen (meist rechtslastigen) Desinformationskampagnen der Internet-Trolle und von der (überwiegend linksorientierten) Cancel Culture in Sozialwissenschaften und Journalismus.
RAUCH weist mit akribischer Genauigkeit nach, wo und wie dabei jeweils die Grundprinzipien im Umgang mit Meinungen, Überzeugungen und Erkenntnissen (und den dahinter stehenden Personen) angegriffen und z.T. regelrecht sturmreif geschossen werden.

Obwohl es in den Beispielen durchweg um hoch-kontroverse gesellschaftliche Streitpunkte geht, gelingt es dem Autor in vorbildlicher Weise, eine glaubwürdige, “neutrale” Position einzunehmen und zu behalten. Die vom ihm geschätzten und verteidigten Prinzipien wendet er – unabhängig vom eigenen Standpunkt (z.B. als liberaler Homosexueller) auf alle Themen und auf alle politischen Lager an. Er ist überzeugt davon, dass eine Offenheit für und die Konfrontation mit alle/n (rechtmäßigen) Positionen die beste Voraussetzung für einen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt darstellt. Folglich bedauert er beispielsweise, dass in sozialwissenschaftlichen Instituten und vielen Zeitungsredaktionen kaum noch bekennende Konservative Tätig sind.

Insgesamt handelt es sich um ein extrem informatives und aufklärerisches Buch, dessen Wert in keiner Weise dadurch geschmälert wird, dass hier ein “Überzeugungstäter” am Werk ist. Denn bei aller Toleranz für unterschiedliche Überzeugungen: Wenn jemand wie Trump ganz offensichtlich alle Regeln der “Erkenntnis-Verfassung” vorsätzlich, systematisch und zynisch bricht, kennt RAUCH kein Pardon. Daher ist dieses Buch mindestens ebenso ein “Anti-Trump-Buch” wie es eine Abrechnung mit der Cancel Culture ist.
Nicht zu vergessen: RAUCH macht auch auf positive Beispiele und eine wachsende Gegenbewegung aufmerksam: Er hat keineswegs aufgegeben und appelliert an uns alle, die Angriffe der Erkenntnis-Feinde abzuwehren.

Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass es sich um ein sehr “amerikanisches” Buch handelt: Das betrifft sowohl die allgemeinen Beispiele, als auch die grundsätzlich andere Situation an den US-Universitäten. Nicht zu überlesen ist auch ein ziemlich ausgeprägter Verfassungs-Patriotismus, der für deutsche Standards schon manchmal grenzwertig erscheint (der aber die Analysen und die Argumentation nicht beeinträchtigt).

“Angepasst, strebsam und unglücklich” von Margrit STAMM

Bewertung: 3.5 von 5.

Die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin widmet dieses Buch einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die – ihrer Überzeugung nach – oft im Schatten der pädagogischen bzw. bildungspolitischen Diskussion stehen: den Überleistern.
Während bei den bekannteren “Unterleistern” der Schulerfolg deutlich hinter den Begabung zurückbleibt (z.B. bei manchen Hochbegabten), sind hier die Schüler/innen gemeint, die es durch besondere und dauerhafte Anstrengung, durch Elternengagement bzw. durch zusätzliche Fördermaßnahmen ein Leistungsniveau erreichen, das über ihrem eigentlichen kognitiven Potential liegt.
Die Autorin will in diesem Buch auf den Preis aufmerksam machen, den die Lernenden für diesen Leistungs- und Optimierungsdruck bezahlen müssen.

STAMM beschreibt (auch mit kurzen Fallbeispielen) Schüler/innen, deren gesamtes Leben von dem Bestreben überschattet wird, möglichst gute Leistungen (Noten) zu erzielen, und damit die Hoffnungen und Erwartungen der Eltern und Schule zu erfüllen. Diese Kinder wirken ehrgeizig, zielstrebig und motiviert, werden aber nicht durch Eigeninteresse an der Sache oder Spaß am Lernen, sondern durch (zu) hohe Zielsetzungen und die Sorge vor Misserfolgen angetrieben. Auf der Strecke bleiben Lebensfreude, allgemeine Persönlichkeitsentfaltung und die Muße zum freien Spiel.

Da sich STAMM für diese Thematik ein ganzen Buch Zeit nimmt, kann sie die Sache gründlich und systematisch angehen. Sie betrachtet alle Akteure und Beteiligten: Die Gesellschaft, das Bildungssystem, die Lehrkräfte, die Eltern und natürlich die Kinder selbst.

Die entscheidende Verantwortung sieht sie ganz “oben” angesiedelt: Es sei das herrschende gesellschaftliche Klima, von dem diese Fixierung auf messbare Leistungen, auf die möglichst vollständige Nutzung aller persönlicher Ressourcen und auf die permanente Optimierung von verwertbaren Fähigkeiten ausgehe.
Insbesondere die Eltern sieht sie in einer Art Falle: Sie erlebten es oft als ihre Pflicht, den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden und bewerteten ihren eigenen Erfolg als Eltern an den Schulleistungen ihrer Kinder.

Auf der Basis eigener Untersuchungen stellt STAMM vier typische Ausprägungsformen von Überleistern an, die sie folgendermaßen benennt: “Die zum Erfolg Geführten”, “die unter Druck Stehenden”, “die ambitionsbelasteten Aufsteiger” und “die intrinsisch Motivierten”. Als gemeinsames Merkmal nennt STAMM vor allem mangelndes Selbstvertrauen und (meist im Untergrund) nagende Selbstzweifel, auf die wiederum mit unterschiedlichen (dysfunktionalen) Strategien reagiert werde.

STAMM setzt ihrer Analyse auch eine positive Perspektive entgegen, die sie als Forderung an Gesellschaft, Bildungssystem und Eltern formuliert: Kinder benötigten dringend Lebensbedingungen, in denen sie sich “authentisch” entwickeln könnten. Dazu müsse das Augenmerk auf ihre Gesamtpersönlichkeit und den Erwerb von generellen Lebenskompetenzen gerichtet werden. Kindern müsse “das Recht auf den heutigen Tag” und “die Möglichkeit, auch einmal zu scheitern” zugestanden werden. Das Ziel müssten selbstbewusste und autonome junge Menschen sein – und nicht deren optimierter Notendurchschnitt.

Um ehrlich zu sein: Es gab im ersten Drittel des Buches deutliche Zweifel, ob man diese – vermeintlich übersichtliche – Thematik nicht lieber in einem etwas ausführlicheren Zeitschriftenartikel hätte darstellen sollen. Und tatsächlich: Der Text ist ziemlich redundant, weil die (leicht zu erfassenden) Grundthesen in jedem Kapitel wiederholt werden. Bei einem vorgebildeten Publikum könnte da schon die Ungeduld wachsen…
Doch wer sich ein wenig intensiver einlassen kann und möchte, findet doch in der Breite und dem Facettenreichtum der Darstellung weitere lohnende Perspektiven.
Das immer wieder aufflackernde Gefühl: “Jetzt müsst es doch langsam reichen”, ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass man ja unaufhörlich innerlich zustimmend nickt: Wer wollte der Analyse und den Thesen dieses Buches denn auch ernsthaft widersprechen? Irgendwie weiß man das alles ja schon, es ist auch alles richtig…

Ob man das alles in dieser Ausführlichkeit tatsächlich auch lesen sollte, hängt von den persönlichen Grundlagen und Bedürfnissen ab. Dass die in diesem Buch gut lesbar und nachvollziehbar dargestellten Inhalte möglichst weite Verbreitung finden sollten – daran kann kaum ein Zweifel bestehen.
Und das gilt nicht nur in Hinblick auf das psychischen Wohlergehen der betroffenen Kindern, sondern auch mit dem Blick auf unsere gemeinsame Zukunft: Um diese Herausforderungen zu bestehen, werden Lebenskompetenzen und erfahrene Selbstwirksamkeit mit Sicherheit bedeutsamer sein, als der Notenspiegel am Ende eines Schuljahres.

“Du wirst diesen Tag überstehen. Und Morgen auch.” von Daniel HOWELL

Bewertung: 4 von 5.

Dies ist ein Lebenshilfe-Ratgeber der besonderen Art.
Der Autor kommt nicht aus der Psycho-Welt, sondern hat dieses Buch als Betroffener (mit einer schwierigen homosexuellen Biografie) geschrieben. Ein entscheidendes Motiv für dieses Projekt liegt aber wohl in der Popularität HOWELLs begründet: Er ist als YouTuber, Moderator, Comedian und Blogger in seiner Szene ein Star (über 6 Millionen Abonnenten bei YouTube) und nutzt diese Reichweite dafür, Krisenhilfe für ein Publikum verfügbar zu machen, für das übliche Ratgeber-Literatur zu altbacken oder spießig daherkommt.

Zunächst lässt sich festhalten, dass die beschriebenen Methoden und Strategien fachlich fundiert und seriös sind. Hier hat nicht irgendein Freak eine eigene Theorie entwickelt – vielmehr hat HOWELL etablierte Konzepte aus der “Kognitiven Verhaltenstherapie”, der “Akzeptanz- und Commitment-Therapie” und der auf Selbstfürsorge orientierte “Compassion-Focused Therapy” in seinen besonderen Kontext gestellt. auch Aspekte der “Positiven Psychologie” fließen ein.

Das zentrale Element dieses Buches ist die persönliche Ansprache seines Publikums. Die zentrale Botschaft: “Ich bin einer von euch. Ich bin nicht perfekt – ihr müsst es auch nicht sein. Ich habe das alles selber durchgemacht, kenne (fast) alle Tiefpunkte des Lebens. Aber es gibt Hoffnung und Hilfen.”
Schon durch die biografische Einleitung des Buches schafft der Autor eine sehr persönliche Atmosphäre und schafft so etwas wie eine Grundlage zur Solidarität. Damit erreicht er, dass sich kein Betroffener irgendwie klein oder minderwertig fühlen muss – egal ob es um Depressionen, Ängste, Identitätsprobleme oder Arbeitsstörungen geht.
Nicht zu vergessen: HOWELL ist Comedian und spielt daher auch die Karte des Humors – gerne durch ins Absurde überspitzte Formulierungen.

Inhaltlich gliedert HOWELL sein Buch nach der zeitlichen Perspektive: Zunächst geht es um Strategien, die eine akute Krise bewältigen sollen (“Dieser Tag”). Dann wird es schrittweise langfristiger: “Morgen” und “Die Tage danach”. Es geht um Dinge wie Atem- und Achtsamkeitsübungen, Entspannung, soziale Unterstützung, Aktivierung, Tagestruktur, Stimmungsbeeinflussung, Umgebungswechsel, Selbstfürsorge, usw.

Eingebettet werden die sehr konkreten Handlungsvorschläge in eine allgemeine Aufklärung über die grundlegenden Prozesse bzw. Mechanismen, die im Zusammenhang mit psychischen Symptomen oder Ausnahmezuständen stehen. Die wichtigsten psychischen Störungen und ihre möglichen Ursachen werden auf eine sachliche und deeskalierende Weise erklärt: Hier ist deutlich das Ziel zu erkennen, durch Sachinformationen (z.B. über Panik-Attacken) zu einer Beruhigung beizutragen.

Positiv ist anzumerken, dass der Autor alles versucht, negative Kreisläufe zu verhindern: Wo immer es geht, entlastet er seine Leserschaft von Selbstvorwürfen und Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit den entstandenen Problemen. Immer wieder bietet er Alternativen zu “dysfunktionalen” (schädlichen/belastenden) Gedanken und Konzepten an. Er nutzt seine eigenen Erfahrungen, um daraus Zuversicht und Ermutigung abzuleiten. Vor allem aber redet er die Belastungen seiner Leser/innen nicht klein.
Und noch etwas zieht sich durch das gesamte Buch: HOWELL weist immer wieder auf die Möglichkeit und den Nutzen einer professionellen (therapeutischen) Unterstützung hin.

Natürlich sind die Grenzen von Selbsthilfe-Literatur auch in diesem Buch zu spüren: So schlau und alltagskompatibel auch immer die Vorschläge sein mögen (“Mach am besten das….”) – die Lücke zwischen Lesen und Umsetzen wird gerade in psychischen Krisen oft unendlich groß erscheinen. Irgendwann könnte sich dann – trotz aller Niedrigschwelligkeit – ein Gefühl von Hilflosigkeit und Versagen einstellen (“Ich krieg ja gar nichts davon hin…”).
Dem Autor sei aber zugestanden, dass er eine Menge dafür tut, dieser Gefahr vorzubeugen. Seine Ansprüche und Erwartungen an seine Zielgruppe sind sehr gemäßigt – niemand muss sich schämen, irgendetwas nicht gut genug zu sein. Auch die Aufforderung zu einem naiven “Positiven Denken” unterbleibt glücklicherweise.

Auch wenn man vielleicht eine andere Strukturierung vorgezogen hätte, man bestimmte Methoden vermisst oder den persönlichen Bezug manchmal etwas übertrieben empfinden sollte: Das große Verdienst dieses Buches ist es zweifellos, die psychologische Selbsthilfe einer speziellen Zielgruppe auf eine sehr sensible und motivierende Art nahe zu bringen.
Das bedeutet auf der anderen Seite allerdings auch, dass der auf seine Community ausgerichtete Stil für ein etwas älteres bzw. gesetzteres Mainstream-Publikum nicht gut passt. Aber das ist ganz sicher auch so gewollt.

“Celsius” von Marc ELSBERG

Bewertung: 3 von 5.

Klima-Thriller sind ja inzwischen fast ein eigenes Genre geworden. Mal steht die Botschaft im Vordergrund (und die Handlung dient nur als Vermittlungsweg); manchmal geht es überwiegend um den Plot (und das Klima-Thema stiftet nur den aktuellen Rahmen).
Es scheint zunächst, dass Marc ELSBERG einen Mittelweg gewählt hat: Man nimmt ihm eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Menschheits-Bedrohung durchaus ab; gleichzeitig kümmert er sich aber auch zunehmend um einen – reichlich verwegenen – Handlungsablauf.
Der Erfolg ist allerdings letztendlich nur mäßig.

Inhaltlich gibt es bei Celsius durchaus einen gewissen Alleinstellungs-Bonus: Es geht nämlich in diesem Buch nicht um die gewohnten Konflikte hinsichtlich der Maßnahmen zur CO2-Reduzierung, sondern um eine nachgeschaltete Technologie: das Geoengineering.
Tatsächlich werden ja schon seit Jahren Szenarien durchgespielt, wie man durch direkte technologische Beeinflussung des Klimas (insbesondere der Sonneneinstrahlung) der Erderwärmung entgegentreten könnte.

ELSBERG spielt die weltpolitischen Komplikationen, die ein unabgestimmtes Eingreifen in globale Klimaprozesse auslösen könnten, in aller Ausführlichkeit durch. Es beginnt mit einem spektakulären Alleingang Chinas, entwickelt sich aber im Laufe der Story (die mehrere Jahren umfasst) zu einem komplexen Verwirrspiel mehrerer Akteure.
Natürlich sind auch Aktivisten, engagierte Wissenschaftlerinnen und Enthüllungsjournalisten im Spiel. Bestimmten Mächten im Hintergrund ist keine Maßnahme zu aufwendig oder brutal, um ganz andere Ziele zu verfolgen.
Und dann gibt es dann noch so ein geheimes älteres Filmprojekt, das irgendwie mit allem zusammenhängt…

Die Darstellung ist phasenweise recht Action-lastig: Man hat dann das (ermüdende) Gefühl, dass Kino-Szenen mühsam in Sprache übersetzt werden: Da knallt, explodiert und brennt es am laufenden Meter – braucht man das in dieser Ausführlichkeit?!

Die größte Schwäche des Thrillers ist allerdings der doch sehr konstruierte Handlungsfaden rund um diesen ominösen Film, der so erstaunlich zukunftsweisend war und wegen dem noch viele Jahre nach seinem Nichterscheinen erbittert gekämpft und gemordet wird. Diese Verwicklungen führen die Story doch recht weit von dem eigentlich sehr relevanten Thema des Buches weg.
Zwar kommt in der Endhandlung eine durchaus originelle Idee zum tragen, diese geht aber in dem übermäßig personalisierten Show-Down ziemlich verloren.

Insgesamt hat ELSBERG ein relevantes Thema ein wenig zu reißerisch bearbeitet und ist so deutlich unter dem möglichen Niveau geblieben.
Was allerdings bleibt, ist das klare Gefühl, dass alle Anstrengungen auf eine rasche und konsequente Vermeidung von weiteren Klimagas-Emissionen gerichtet werden sollten – statt auf eine zukünftige Super-Technologie zu hoffen.

“Lektionen” von Ian McEWAN

Bewertung: 4 von 5.

Man könnte im ersten Viertel dieses 720-Seiten-Werkes (24 Std. als Hörbuch) auf die Idee kommen, diesen Roman zu unterschätzen. McEWAN hetzt seine Leserschaft nicht gerade durch eine Handlung, die sich an der Biografie des Protagonisten (Roland) entlanghangelt.
Der Autor – “zufällig” genauso alt wie die Romanfigur – beschreibt nicht nur sehr detailliert die Lebens- und Beziehungsstationen von Roland, sondern nutzt diesen Roman ausgiebig dazu, eine ganze Reihe von bedeutsamen zeitgeschichtlichen Ereignisse und Stationen einzuweben. Da er uns auch eine familiäre Generation weiter in die Vergangenheit führt, reicht der Bogen von der “Weißen Rose” in den 1940igern bis kurz vor den Ukraine-Krieg.
Da kommt einiges zusammen, das zwar überwiegend aus englischer Perspektive betrachtet und bewertet wird. Aber der deutschen Leserschaft kommt zugute, dass ein Zweig der Familie aus Deutschland stammt und deshalb auch ein beträchtlicher Teil der Geschichte in Deutschland spielt. So spielen dann z.B. die Situation der zwei deutschen Staaten und Maueröffnung in Berlin durchaus eine zentrale Rolle.

In gewisser Weise hat McEWAN also zwei Bücher geschrieben: Eine Lebensgeschichte von ca. 70 und eine Zeitgeschichte von knapp 80 Jahren. Das gibt dem Autor viel Gelegenheit zum Rückblick, zur Aufbereitung und zur Bilanzierung. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich McEWAN in diesem Alterswerk ein literarisches Denkmal setzen wollte.

Die Themen im privaten Teil sind ganz überwiegend Beziehungsthemen: Es geht um einen selbst erlebten sexuellen Missbrauch des Roland (durch eine junge Klavierlehrerin), um eine frühe und intensive erotische Erfahrung (die durchaus sehr freizügig geschildert wird), um eine erste große Liebe, um das Verlassenwerden und das Alleinerziehen eines kleinen Sohnes, um eine späte zweite, tragische Liebe und um das Glück des Eingebundenseins in ein zugewandtes Familiensystem. Es geht gleich in zwei Konstellationen um den Umgang mit Verletzungen und Enttäuschungen, mit dem Ringen um Durchhalten, Aufarbeitung und Verzeihen. Irgendwann geht es dann auch um Krankheit und den verzweifelten Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben.

Neben diesen zentralen zwischenmenschlichen Themen spielt die Musik, das Klavierspielen, eine zentrale Rolle in diesem Roman: Rolands Begabung wird früh entdeckt und gefördert, kann sich dann aber doch nicht voll entfalten – begleitet ihn dann aber doch durch sein ganzes Leben.

Zwischendurch hat der Roman etwas Gemächliches, manchmal Anekdotenhaftes. Manchmal fühlt es sich an wie die ruhigen Erzählungen eines in die Jahre gekommen älteren Herrn. Dann wird auch mal über die englische Parteipolitik geplaudert und sich kritisch an der wirtschaftsfreundlichen “New Labour”-Politik von Tony Blaire abgearbeitet. Es wird von Besuchen und Begegnungen mit Bekannten und Familienmitgliedern erzählt – wie eben das Leben so manchmal dahinfließt.
Aber wenn man durchhält, setzt sich gegen Ende immer stärker das Gefühl durch, dass es lohnend und befriedigend war, sich durch dieses Leben führen zu lassen. Man ist gespannt darauf, ob und wie sich bestimme Kreise schließen. Man merkt so ganz allmählich, dass man nicht nur Roland, sondern auch ein paar Menschen seines sozialen Umfeldes in sein Leser-Herz geschlossen hat.

“Lektionen” ist ein zutiefst menschlicher, ein berührender Roman – nicht immer spektakulär, aber voller emotionaler Tiefen und Untiefen. Man erkennt von Kapitel zu Kapitel stärker, wie doppel- bzw. mehrfachdeutig der Buchtitel gemeint ist – denn dieses geschilderte Leben beinhaltet sehr viel mehr Lektionen als die schicksalsprägenden Klavierstunden der Kindheit und Jugend.

Die Sicht auf die frühe männliche Sexualität und der bilanzierende Rückblick auf ein langes, mit Zeitgeschichte gespicktes Leben sprechen vermutlich am ehesten ein reiferes männliches Publikum an – was natürlich andere Leser/innen nicht ausschließen soll.
Zumindest für diese Gruppe sind die “Lektionen” ein niveauvolles geistiges Futter.