“Die Erfindung des Lebens” von Hanns-Josef ORTHEIL

Es gibt Bücher, die einem Zeitvertreib und Unterhaltung bieten. Es gibt Bücher, die eine schöne oder spannende Geschichte erzählen. Und es gibt Literatur: die Kunst, mit Sprache umzugehen.
Dieses Buch demonstriert zweifelsfrei ein hohes Ausmaß dieser Kunst.

Schauen wir zunächst nach dem Unterhaltungswert:
Geboten werden fast 600 Seiten (Taschenbuchausgabe); das liest man nicht mal so zwischendurch weg. Das Buch fordert heraus: man muss sich schon einlassen – auf Details, auf sehr genaue Beobachtungen, auf Selbstreflexionen. Es ist keine leichte Kost – aber auch keineswegs schwer verdaulich. Als Lohn für die Mühe winkt ein besonderes und nachhaltiges Leseerlebnis.
Insgesamt bekommt man sicher eher Tiefgang als entspannte Unterhaltung.

Und die Geschichte?
Der Titel deutet es an: Es geht um die Geschichte eines sich entwickelnden Lebens. Der Ich-Erzähler (und damit vermutlich weitgehend auch der Autor) berichtet davon, wie aus einer extrem problematischen Kindheit (Mutter und Kind sind jahrelang stumm) heraus sich eine facettenreiche und tiefgründige (Künstler-)Persönlichkeit entwickelt. Dabei wird in bewundernswerter Klarheit und Genauigkeit herausgearbeitet, dass gerade mit den – zunächst erschwerenden – individuellen und familiären Besonderheiten der Grundstein für diesen Prozess gelegt wird.
Inhaltlich hat die Geschichte mit einigen großen Themen zu tun:

  • mit der Bedeutung und Entwicklung von Sprache und Kommunikation
  • mit der Beziehung zwischen (sehr besonderen) Eltern und einem ungewöhnlichen Kind
  • mit Natur und Landschaft und der Kunst, diese präzise wahrzunehmen
  • mit der individuellen und familiären Verarbeitung von biografischen Lasten und Traumata
  • mit – insbesondere – klassischer Musik (der Erzähler wird Pianist)
  • mit der Stadt Rom und dem zugehörigen Lebensgefühl

Es ist sicherlich nicht notwendig, dass man spezielle Interessen für eine dieser Bereiche mitbringt; aber der Genuss des Lesens kann sicherlich dadurch noch intensiviert werden.

Der Rest ist – wie schon angedeutet – Literatur!
Man kann nur staunen, wie perfekt es dem Autor gelingt, dieses Panorama von detailverliebten Beobachtungen, nuancierten Empfindungen und differenzierten psychologischen Prozessen aufzufächern. Das alles passiert mit einer geradezu leidenschaftlicher Gründlichkeit und Tiefe.
Man bekommt von Seite zu Seite immer stärker das sichere Gefühl: Dieser Mensch kann das, was er vermitteln will, ohne jede Einschränkung auch sprachlich ausdrücken. Da bleibt kein Rest!

Im Vergleich zu dem bereits früher besprochenen Buch stellt „Die Erfindung des Lebens“ sicher die höheren Anforderungen. Zum Einstieg in der Schreibwelt von ORTHEIL eignet sich daher „Das Kind, das nicht fragte“ vielleicht noch eher.

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