“Die Nachtigall” von Kristin HANNAH

Bewertung: 4 von 5.

Es mangelt nicht an literarischen Aufarbeitungen der menschlichen Tragödien rund um den 2. Weltkrieg und der im Namen des Nazi-Rassenwahns begangenen Ungeheuerlichkeiten.
Unabhängig davon kann es von dieser Form der Aufklärung und Bewältigung angesichts der Größenordnung des Geschehens kein “Zuviel” geben. Aber natürlich kann es – wie bei jeder anderen Thematik auch – unterschiedliche Formen und Qualitäten geben.

HANNAH legt einen Roman vor, der den Krieg aus der Perspektive des besetzten Frankreichs betrachtet. Die Hauptakteure sind zwei Schwestern, die zwar gemeinsam in einer sehr schwierigen Familiensituation aufgewachsen sind, sich dann aber aufgrund ihrer Persönlichkeiten und ihrer Lebenswege weit voneinander entfernen und entfremden.
Beide erleben unterschiedliche Facetten des Alltagslebens in dem unter der deutscher Besetzung leidenden Frankreich.
Der zentrale Spannungsbogen der erzählten Handlung entsteht dadurch, dass die äußeren und innerfamiliären Dynamiken in einer dramatischen Weise miteinander verknüpft werden. Wie häufig bei zeitgeschichtlichen Romanen gibt es auch bei der Nachtigall eine zweite Ebene, die einen Rückblick aus einer späteren Perspektive ermöglicht.

Neben den allgemeinen Einblicken in Armut, Hunger und den alltäglichen Überlebenskampf der in der Heimat verbliebenen Frauen und Kinder bietet das Buch spezielle Hintergrundinformationen über das geteilte Frankreich: Neben der geografischen Grenze zwischen dem von Deutschen besetzten und regierten Teil und dem “freien” Gebiet (mit einer kooperierenden französischen Verwaltung) gab es auch einen inneren, menschlichen Graben, der Schicksalsergebene, Mitläufer und Kollaborateure von den Menschen trennte, die passiv oder aktiv Widerstand leisteten.

Diese “Résistance” wird von der jüngeren der beiden Schwestern in einer geradezu heldenhaften Form praktiziert und von HANNAH auch entsprechend zelebriert. Das führt aber nicht zu einer Glorifizierung dieser Figur, die – ebenso wie die ältere Schwester und der gemeinsame Vater – als “echte” Menschen dargestellt werden (mit allen Schwächen, Zweifeln und inneren Brüchen).
Klar ist aber: Wer in diesen Zeiten als Frau das eigene Überleben und das der Kinder zu sichern versucht, ist von Abgründen umgeben: Jeder Widerspruch, jede Frage zu viel, jeder Einsatz für die Ausgesonderten kann zu Entlassung, Verhaftung, Folter oder Tod führen. Quartieren sich noch feindliche Soldaten in das eigene Haus ein, wird jeder einzelne Tag zur Bewährungsprobe mit ungewissem Ausgang.

Für manche Fragen gibt es keine “richtigen” Antworten, die einen unversehrt lassen könnten; auch das macht die Autorin nachvollziehbar: Darf ich zum Schutz fremder jüdischer Kinder das Leben meiner eigenen Kinder gefährden? Kann ich angesichts grausamer Gewalt und der Unabwendbarkeit massiver Übergriffe meine Würde bewahren? Gibt es so etwas wie einen respektvollen Umgang mit dem Feind, wenn zwischendurch seine Menschlichkeit hervorlugt? Wie weit geht Solidarität und Loyalität angesichts einer tödlichen Bedrohung?

HANNAH schafft es mit einem bemerkenswert stimmigen Stil, die unglaubliche Härte der geschilderten Vorgänge mit einer warmherzigen Empathie für die leidenden und mutigen Menschen zu verbinden. Letztlich kann man nachvollziehen, wie Menschen es vielleicht doch schaffen können, nicht zu verzweifeln und aufzugeben. Die angebotenen Antworten lauten letztlich: Es geht einmal um das Bedürfnis, im Einklang mit den eigenen humanen Grundwerten zu leben und daraus Kraft zu schöpfen, der/die zu bleiben, der/die ich sein will. Und die andere Antwort ist zugleich banal und erschöpfend: Liebe (in allen Facetten) ist vielleicht das stärkste Motiv von allen!
Wer unbedingt will, mag das kitschig finden. Dieses Buch hilft auf jeden Fall, daran zu glauben.

Wem so ein Buch zu persönlich und emotional ist, kann ja auf ein historisches Sachbuch zurückgreifen. Wer sich jedoch auch selbst gerne anrühren lässt, ist mit diesem menschenfreundlichen Roman gut bedient.



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