“Imperium der Schmerzen” von Patrick Radden KEEFE

Bewertung: 4.5 von 5.

Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die in den USA durch die “Opioid-Krise” ausgelöst wurden, sind bei uns nur in einem stark reduzierten Ausmaß ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. In den Staaten waren die gesundheitlichen und finanziellen Auswirkungen dieses Schmerzmittel-Skandals dramatisch und haben in den letzten Jahren zu heftigen juristischen und politischen Konflikten geführt.
Kurz gesagt geht es um einen geradezu epidemischen Missbrauch einer bestimmten Gruppe von Schmerzmitteln (vor allem OxyContin), deren Suchtpotential über viele Jahre hinweg zwar bekannt war, von den Verantwortlichen aber konsequent verheimlicht und geleugnet wurde.

Der preisgekrönte Investigativ-Journalist KEEFE hat in seinem opulenten Buch das Entstehen des Problems exemplarisch in Form einer Familienchronik aufgearbeitet. Das Besondere an seinem Ansatz ist, dass er auf der Ebene der persönlichen Details tief in die Persönlichkeitsprofile und Beziehungsdynamiken der Familie Sackler eindringt, dies aber nicht in die Form eines dokumentarischen Romans zu Papier gebracht hat (was angesichts der Materialfülle sicher möglich gewesen wäre). Stattdessen ist er einem journalistischen Stil treu geblieben, so dass sich das 640-Seiten-Buch (Hörbuch 24 Std.) wie eine geradezu endlose ZEIT- oder SPIEGEL-Titelgeschichte liest.

Im Mittelpunkt der Darstellung steht nicht die Aufarbeitung der Daten über Umfang und Folgen des Arzneimittel-Skandals (diese Informationen bekommt man natürlich auch). Es geht dem Autor um drei große thematische Bereiche:
– Er will aufzeigen, welche persönlichen (psychischen) und innerfamiliären Strukturen dieser konkreten Familie dazu beitragen konnten, dass ein solches Ausmaß an Täuschung und Verantwortungslosigkeit entstehen konnte.
.- Er deckt die Mechanismen eines Wirtschaftssystems auf, in dem Gier und Egoismus sich so ungebremst entfalten können.
– Mit schonungsloser Klarheit zeigt KEEFE die Verstrickung zwischen Wirtschaft, Politik und Justiz auf, in der Vertuschung, Korruption und Untätigkeit entscheidend für die ungebremste Ausweitung der Katastrophe waren.

Wenn man sich diesem Buch mit einem Sachinteresse zuwendet, wird man zunächst auf Hunderten von Seiten von den Psychogrammen der Familiendynastie der Sacklers erwartet. Als Leser/in muss man sich also zunächst darauf einlassen, dass man sich dem eigentlichen Thema mit einem langen Vorlauf nähert.
Die Darstellung der beteiligten Personen, ihrer biografischen Wurzeln und ihrer Beziehungsdynamik ist außerordentlich detailliert und psychologisch nachvollziehbar geschildert. Als Leser/in kann man das Gefühl bekommen, dass man schon eine Art “Familienbiografie” gelesen hat, bevor es so richtig losgeht.
Der geradezu atemberaubende Tiefgang der Analyse beschränkt sich aber nicht auf die Persönlichkeiten; mit gleicher Akribie stellt KEEFE auch die jeweiligen finanziellen und wirtschaftlichen Einzelschritte nach, die aus einem kleinen Familienbetrieb einen Pharma-Großkonzern wachsen ließ.

In allen Facetten der Darstellung beeindruckt das Buch dadurch, dass man durch Fakten und eindeutig belegte Zusammenhänge geradezu “erschlagen ” wird. Zwischendurch erwischt man sich bei der Frage, wie man überhaupt ein solch dichtes und feingewebtes Netz an Fakten und Hintergründen erstellen kann. Man spürt praktisch auf jeder Seite, wie viele Tausend Stunden an Recherche eingeflossen sein müssen.

Natürlich muss kein Mensch das alles wissen, um die Opioid-Krise verstehen und bewerten zu können. Da könnte ein Wikipedia-Artikel reichen.
In diesem Buch passiert aber etwas anderes: KEEFE überzeugt seine Leserschaft dadurch, dass er exemplarisch so in die Tiefe geht, dass einfach kein Raum für Relativierungen oder Ausflüchte mehr übrig bleibt: Alles wird erklärt, alles ist nachvollziehbar, alles wird gründlich belegt.
Genau so wird dann ein vermeintlich “ausgewalzter” Einzelfall zu einem Lehrstück über ein ganzes wirtschaftliches und politisches System. Statt Meinung oder Parolen liefert KEEVE ein solches Paket an Beweisen, dass wohl jede/r Skeptiker irgendwann kapitulieren muss.

Wir haben es also bei diesem Buch mit einem exzellenten Beispiel von Aufklärungs-Journalismus zu tun, dessen Bedeutung und Wirkung über die eigentliche Thematik hinausreicht.
Man sollte sich aber im Klaren darüber sein, dass das Buch ein Ausmaß an Zeit und Konzentration erfordert, das über die Ressourcen durchschnittlicher Sachbuchleser wohl deutlich hinausgeht.

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