“Nachmittage” von Ferdinand von SCHIRRACH

Bewertung: 4 von 5.

Dieses Buch lebt im Kern von Begegnungen, die der Autor an besonderen Orten und in besonderen Settings hat – mit besonderen Menschen, die etwas Besonderes zu erzählen haben. Kurz gesagt geht es um sehr persönliche Kurzgeschichten, für die der Autor selbst die Rahmenhandlung bildet.

Von SCHIRRACH zieht diese Menschen und ihre Geschichten offenbar geradezu magisch an. Ohne Zweifel hilft ihm dabei seine Prominenz als international beachteter Autor, der nicht nur ein weites Netzwerk von Kontakten hat, sondern auf seinen zahlreichen (Lese-)Reisen offen für Zufallsbekanntschaften ist. Nach seiner – spontan wirkenden – Entscheidung, sich auf die jeweilige Situation einzulassen, ist er ein vorbehaltloser Zuhörer und lässt sich von den ungewöhnlichen Erlebnissen seiner Gesprächspartner/innen verzaubern.
Wobei – das wäre einzuräumen – nicht ganz klar ist, ob dieser Zauber eher in den Geschichten selbst oder in der typischen Erzählweise des Autors steckt. Von SCHIRRACH hat einen eigenen Stil: Er schreibt unaufgeregt, kann mit sparsamen sprachlichen Mitteln auf wenigen Seiten eine deutlich spürbare Atmosphäre schaffen und verdichtet emotionale und existentielle Themen auf eine Weise, die berührend – aber eben nicht aufregend – ist.

Besonders eingefangen wird man in den Kurzgeschichten, an deren Ende ein Überraschungs-Effekt wartet. Geschickt wird man als Leser/in in eine Wahrnehmungs- und Bewertungshaltung gelockt, die dann urplötzlich wie ein Ballon zerplatzt: Manchmal ist es eben anders, als es scheint und als man so gerne zu denken geneigt ist.
Das kann eine erhellende Erfahrung sein…

Der Autor ist sowohl ein exzellenter Beobachter als auch ein Menschenfreund. Er urteilt nicht, er hat Verständnis für Mängel und Schwächen, interessiert sich nicht für das Laute und Glitzernde, sondern für die feinen und leisen Aspekte der menschlichen Existenz.
Manchmal lugt sein Grundthema hervor, gelegentlich wird es auch explizit angesprochen: Wir sind beschränkte und vergängliche Wesen, sollten uns nicht zu wichtig nehmen und nicht zu viel erwarten. Vor allem aber sollten wir uns bewusst sein, dass wir unser Menschsein nur in der Begegnung mit anderen und in der Spiegelung durch andere entdecken und verwirklichen können.
Die Begegnungen, an denen uns der Autor teilhaben lässt, zeugen von diesen Momenten des Erkennens: Sowohl die Erzählenden, als auch der Zuhörer machen eine Erfahrung, die sie ohne das Gegenüber nicht möglich wäre. Und jede bedeutsame Erfahrung eines Anderen hat das Potential, auch uns und unser Leben zu berühren und zu verändern.

Von SCHIRRACH zeigt mit diesem “Büchlein” (175 großzügig bedruckte Seiten), dass man sich nicht durch dicke Roman-Wälzer arbeiten muss, um anregende und nachdenklich stimmende literarische Denk- und Fühlanstöße zu gewinnen.
Vielleicht ist man zwischendurch ein wenig neidisch auf ein Leben, das offensichtlich so viele verschiedene Situationen und Erlebnisse ermöglicht. Aber es entsteht auch eine leise Ahnung, dass die ein oder andere bedeutsame Begegnung wohl auch in der eigenen Umgebung möglich sein könnte – wenn man nur dafür offen wäre und vielleicht mal hin und wieder die starren Muster des Alltags verlassen würde.

3 Antworten auf „“Nachmittage” von Ferdinand von SCHIRRACH“

  1. Endlich eine Buchbesprechung, bei der ich mitreden kann (weil ich das Büchlein bereits gelesen habe). Ich kann meine Gefühle natürlich nicht so eloquent zusammenfassen wie der Rezensent, aber er spricht mir aus dem Herzen. Ich habe erst vor kurzem Ferdinand von Schirach für mich entdeckt und seine Schreibweise hat eine Sogwirkung auf mich. Vor allen Dingen, wenn man seine Stimme beim Lesen im Kopf mitlaufen lässt. Ein zutiefst menschlicher Autor, der aus seiner schier unendlichen Erfahrung schöpft. Ob eine Erzählung eine halbe Seite oder 10 Seiten umfasst – es hat sich für mich immer ein persönlicher Gewinn ergeben. Dafür bin ich dankbar.

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