Darf man die Serben nicht mögen?

Meine Betrachtung kommt ein paar Tage zu spät. Angesichts der zeitgeschichtlichen Zusammenhänge erscheint mir das akzeptabel.

Es gab mal wieder einen dieser Gedenktage. Es ging um die Greueltaten serbischer Milizen an tausenden Bosnischen Männern unter den Augen von UNO-Soldaten in Srebrenica vor 25 Jahren.

Es geht mir nicht um die Vergangenheit. Ich spüre Unverständnis und Befremden gegenüber der Unfähigkeit “der Serben”, zu bedauern, zu trauern, zu bereuen oder sonst auf irgendeine Weise Verantwortung zu übernehmen. Statt dessen fanden aufgeheizte und gewalttätige Demonstrationen gegen die eigene Regierung statt, die (endlich) nach politischen Lösungen der Kosovo-Frage sucht.

Ich weiß: Es gibt keinen “Volkscharakter”. Es gibt mit Sicherheit jede Menge vernünftige, friedfertige und liebenswerte Menschen in Serbien. Vielleicht zeichnet die Berichterstattung über dieses Land auch ein einseitiges Bild. Kann alles sein.

Was ich sagen kann: Alles, was bei mir in den letzten Jahrzehnten über die Mentalität und die politische Kultur in diesem Land angekommen ist, wirkt auf mich zutiefst unsympathisch (nationalistisch, militaristisch, dogmatisch). Und deshalb spüre ich Vorbehalte und gehe auf Distanz.

Ich mag wohl die Serben nicht besonders. So richtig schlimm finde ich das nicht. Für mich ist es auch okay, wenn jemand “die Deutschen” nicht mag.

Serbien soll in die EU aufgenommen werden. Manche begründen das damit, dass man dieses “schwierige” Land dann besser “einbinden” könne. Ich bin nicht ganz sicher, ob wir nicht schon genug schwierige Mitglieder haben.

Aber das sollen andere entscheiden. Mein Bauchgefühl kann da wohl nicht helfen.

Schicksalsfragen…

Ich bin ja – wie sicher alle Leser/innen wissen – ein leidenschaftlicher Sportbanause. Und auch die zahlreichen diffizilen Aspekte des Transgendertums gehören nicht zu meinen Lieblingsthemen. Gerade habe ich gemerkt, wie sich das anfühlt, wenn die beiden Bereiche zusammenfließen.

Auf ZEIT-online wurde ich mit den offensichtlich existenziell bedeutsamen Problemen und Konflikten konfrontiert, die sich nach einer Geschlechtsanpassung für den Spitzensport ergeben: Werden “normale” (das sagt man natürlich nicht) weibliche Sportlerinnen benachteiligt, wenn sie mit ursprünglich männlichen Konkorrentinnen zu tun bekommen? Oder werden die (inzwischen) weiblichen Athletinnen diskriminiert, weil sie in den Frauenwettbewerben nicht zugelassen werden (weil noch biologische männliche “Vorteile” in ihnen stecken)?. Darüber wird in den USA schon erbittert gestritten – auch vor Gericht.

Was soll man tun? Die Geschlechtergrenzen ganz aufheben oder den jeweils individuellen Hormonstatus erheben und den Körperbau vermessen? Wo sollen dann die Grenzen liegen?

Fragen über Fragen, alle bisher offen und ungelöst…

Eins kann ich am dieser Stelle schon verraten: Die Antworten darauf interessieren mich nicht im geringsten…

Vielleicht stimmt das nur zum Teil: Vom sportlichen Aspekt wäre mir das wirklich völlig egal. Allerdings wäre ich aus eher grundsätzlichen Erwägungen etwas irritiert, wenn man (mal wieder) wegen einer winzigen Minderheit alle bisherigen Selbstverständlichkeiten in Frage stellen würde…

Die Rechtspopulisten warten nur auf solche Beispiele, um sich als Garanten des “gesunden Menschenverstandes” in Szene zu setzen…

Easy Rider?

Es geht mal wieder um die Freiheit. Oder darum, was wir darunter verstehen. Man könnte auch fragen: um wessen Freiheit eigentlich?

Motorradfahrer demonstrieren für ihr Recht, ohne Einschränkungen ihrem Hobby nachgehen zu können. Der auf Toleranz getrimmte Bürger denkt: “Man kann ja auch nicht alles verbieten…”
Viele Menschen in landschaftlich attraktiven Gebieten (kurvige Straßen in grüner Umgebung) wünschen sich auch Freiheit: von Lärm, Abgasen und völlig überflüssigem Verkehr.

Wie soll eine demokratische Gesellschaft solche Konflikte lösen? Sind immer die, die auf eine Fehlentwicklung hinweisen, die Doofen, weil sie den anderen “den Spaß” verderben? Droht in einer “Verbotsgesellschaft” die Diktatur des Langweiler-Mainstreams? Oder ist die freiheitsverliebte Toleranz-Gesellschaft dem Untergang geweiht?

Die entscheidende Frage scheint mir zu sein, ob wir uns trauen, gesellschaftlich relevante Ziele auch zu verfolgen. Bzw. ob wir irgendwann kapieren, dass sich eine gewünschte oder gar notwendige Entwicklung nicht von selbst ergibt.
Wir müssen tatsächlich entscheiden, wie wir in Zukunft leben wollen!

Geht’s auch ein wenig konkreter? Was würde ich denn vorschlagen?

Nun, für mich wäre erstmal klar, dass das “Fahren als Selbstzweck” in einer nachhaltigen Gesellschaft, die der drohenden Klima-Katastrophe etwas entgegensetzen möchte, nicht (mehr) zu den “geschützten” Lebensinhalten gehört. Mobilität ist ein hohes Gut – egal aus welchen Gründen man von A nach B gelangen möchte. Wenn man aber von A nach A möchte, weil der Weg das Ziel ist, sieht das anders aus.

Daraus folgt: Wir sollten uns für alle Mobilitäts-Konzepte einsetzen, die nicht die Art des Fortbewegens zum Fetisch bzw. Genussmittel macht, sondern die Funktionalität des Ankommens – bei minimaler Belastung von Umwelt und Mitmenschen.
Damit wären alle Arten von Hobby- und Statusgeräten raus, die in den meisten Fällen einzig den Zweck haben, die Jugendträume großer Jungs zu erfüllen: hochgezüchtete PS-Protzmaschinen mit zwei, drei oder vier Rädern (natürlich auch alle Wasserfahrzeuge, deren einziger Sinn es ist, Adrenalin beim Nutzer und Ohrenschmerzen bei den unfreiwilligen Zuhörern zu erzeugen).

Wie setzt man sowas durch? Richtig: durch Umsteuern, Anreize und Einschränkungen!
Man muss es nur wollen, genauso wie das Rauchverbot oder eine grüne Landwirtschaft.

Meine spontane Liste:
– allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzungen auch auf Autobahnen
– PS- und Lärmgrenzen für alle zukünftigen Autos und Zweiräder
– Verbot reiner “Spaßgeräte” (Quads, Jet-Ski, Kleinstflugzeuge)
– Sperrung von typischen “Raserstrecken” für Motorräder
– konsequente Besteuerung von Fahrzeugen nach Lärm, Verbrauch und Schadstoffausstoß
– Ausbau und stärkere Subventionierung moderner Verkehrskonzepte
– (weitgehend) autofreie Innenstädte

Und dann? Einfach nur immer den Leuten was wegnehmen? Wo ist die Perspektive?

Ich hätte kein Problem damit, zukünftig bestimmte Gebiete bereitzustellen, in denen Menschen ihre Lust nach dynamischer Fortbewegung ausfahren können. Voraussetzung wäre natürlich, dass dabei kein CO2 emittiert würde (erste E-Motorbikes gibt’s schon, fehlt nur noch der regenerative Strom). Gerne sollte mit dem Eintritt in diese Raserzonen auch das zusätzliche Risiko für Unfall-Behandlungskosten abgedeckt werden.

Es geht mir also nicht um das Verbieten als Selbstzweck. Es geht um die Prioritäten und darum, dass die Kosten der individuellen “Freiheit” nicht auf die Allgemeinheit abgewälzt werden.

Es nervt mich zusehends, dass jede perverse Extrementwicklung der letzten 20 Jahre als Maßstab für die zu verteidigende Freiheit definiert wird! Das gilt für Energieverbrauch, PS-Wahnsinn, Hyperkonsum, Flug- und Kreuzfahrttourismus, Massentierhaltung oder Lebensmittelverschwendung.
Ist es nicht das denkbar größte Freiheitsziel, dass auch unsere Kinder und Enkel diesen Planeten noch bewohnen können?

Nicht wichtig, aber bemerkenswert…

Es sind oft die kleinen Nachrichten, die besonders berühren.
Wer wird heutzutage noch über den 386. Schwachsinn eines bekannten Präsidenten irritiert oder staunt gar über das systematische Abfackeln des Regenwaldes als offizielle Regierungspolitik?!

Liest man aber, dass zum ersten Mal seit über 50 Jahren eine neue Single der Rolling Stones den ersten Platz der deutschen “Hitparade” (so hieß das früher) innehat, so gerät man doch kurz ins Stutzen. Bei mir ist das ein angenehmes Stutzen…

Ist es nicht irre – so denke ich – dass inzwischen ein Großteil der (noch) lebenden deutschen Mitbürger (heute muss man ja ergänzen “und Mitbürgerinnen”) eine Welt ohne Rolling Stones gar nicht kennen, gar nicht erlebt haben!? Das sie so etwas wie ein selbstverständlicher Teil des Lebens sind: Meist nicht präsent, aber doch irgenwie immer da, Im Hintergrund, wie das Bundesverfassungsgericht oder die Versorgung mit Coca Cola.

Für die meisten Menschen sind solche “Institutionen” weder besonders wichtig noch besonders bewusst. Aber sie prägen unser Leben wie ein Grundrauschen, das man erst wahrnimmt, wenn es plötzlich verschwindet.

Wegen mir dürfen die Stones gerne noch ein bisschen dabeibleiben. Auch sie geben mir und meinem Leben eine innere Struktur, schaffen Heimatgefühle und sind ein Teil meiner ganz persönlichen Identität.
Dazu muss ich die beteiligten Personen nicht besonders sympathisch finden oder es toll finden, dass sie so reich geworden sind. Es reicht, dass sie da sind. Wie beruhigend: Es gibt noch Stabilität im Leben!

Nachbemerkung:
Eh’ ich es vergesse: Die Stones haben (nicht nur aus meiner Sicht) ein beeindruckendes musikalisches Lebenswerk hinterlassen. Ich könnte ohne mühe einen ganzen Abend damit bestreiten, nur die Titel zu hören, die ich wirklich bedeutsam finde (musikalisch und emotional).
Die neue Single (“Ghost Town“) finde ich auch gelungen…
(Nochmal 50 Jahre schaffen sie nun tatsächlich nicht mehr…)

Party-Szene?

Ich kann es nicht mehr hören!
Warum nennt man seit zwei Tagen die gewalttätigen Menschen, die in Stuttgart Menschenleben gefährdet und Eigentum verwüstet haben, verharmlosend “Party-Szene”?

Gehört es inzwischen zum üblichen Zeitvertreib, sich bei einer sich bietenden Gelegenheit gegen Polizeikräfte zu solidarisieren und Langeweile oder Frust in Gewalt abzuführen?
Als Event? Als antiautoritäre Befreiungsgeste?

Wie wohltuend und beruhigend muss das für diese Gruppierungen klingen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit weiter als Party-Szene bewertet fühlen. So schlimm kann es also nicht sein…
Für mich ist das unverständlich!

Die alte Auto-Welt

Wenn jemand der Illusion unterliegen sollte, dass sich das Ende der deutschen Auto-Fixierung schon auf einem guten Wege befände – dem (oder der) empfehle ich einen Wochenendausflug bei gutem Wetter Richtung Ostwestfalen; z.B. in das nette Örtchen Lippstadt.

Dort ist die Auto-Welt noch in Ordnung. Samstag abends und Sonntag vormittags werden sie gezeigt, die kleinen Flitzer oder die kraftvollen PS-Protze. Eine Runde durch die Kneipen-Straßen und ihrem Publikum gehört zum Pflichtprogramm – fast wie in den US-Filmen der 60iger Jahre.
Hier – abseits der Großstädte und Metropolen – steht das Auto noch für Freiheit, Stil und Genuss; von Auto-Scham keine Spur!

Auf dem Weg von und zur Autobahn gibt es jede Menge blitzblank-geputzte Edelkarossen zu sehen, die ungeduldig darauf warten, dass ihrem technischen Potential endlich mal wieder ein angemessenen Raum gegeben wird.

Als Kleinwagen-Hybrid-Fahrer, der möglichst entspannt mit 4,0 l Durchschnittsvorbrauch von A nach B kommen möchte, fühlt man sich ein bisschen fremd in dieser scheinbar so selbstgewissen Dinosaurier-Welt.

Es ist vermutlich ganz gut, dass ich mich einer solchen Konfrontation mit der Realität nicht allzu oft aussetze. Auf den Fahrradtrassen in Essen kann man so schön von einer Verkehrswende träumen…

“Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens” von Richard David PRECHT

Ein Buch von Precht zu lesen, ist für mich eine gewisse Herausforderung:
Finde ich – so lautet die selbstgestellte Aufgabe – wenigstens hin und wieder mal eine Stelle, an der ich im permanenten zustimmenden Nicken innehalten kann und sich zumindest mal ein zögerlicher „Ja-Aber-Gedanke“ ausbildet?
Beim Thema „Künstliche Intelligenz“ (ich spreche jetzt nur noch von „KI“) hatte ich eine kleine Hoffnung auf solche inneren Abgrenzungs-Momente, da der Autor erfahrungsgemäß mit seinem Digital-Skeptizismus über meine eher ambivalente Haltung hinausgeht.
Ich war dabei nicht besonders erfolgreich…

Precht tritt mit seinem aktuellen Buch bescheiden auf: Er nennt es einen „Essay“. Im Gegensatz zu den letzten essayhaften Publikationen von HORX und BLOM handelt es sich aber bei seiner aktuellen Abhandlung um ein ausgewachsenes Sachbuch. Man muss keine inhaltliche Unterforderung befürchten, weil nur ein oder zwei Grundgedanken in aufgeblasener Form dargeboten würden. Precht behandelt die (potentiellen) Auswirkungen der KI-Revolution auf das „Menschsein“ sowohl breit als auch mit Tiefgang.

Niemand wird von Precht erwarten, dass es um die technologischen Aspekte der KI geht. Hier meldet sich ein gesellschaftlich engagierter Philosoph zu Wort. Ein fasziniertes Staunen angesichts der Fähigkeiten und Möglichkeiten der KI-Entwicklung ist nicht seine Sache.
Natürlich nennt Precht im Laufe seiner Betrachtungen auch sinnvolle und vielversprechende Anwendungen der KI, aber diese stellen nur ein leises Grundrauschen dar gegenüber seinen sehr grundsätzlichen, kritischen und warnenden Perspektiven.

Jetzt muss ich – möglicherweise – eine Erwartung enttäuschen: Ich werde an dieser Stelle nicht durch die Grundthesen dieses Buches führen (dann wäre dieser Text ein eigener Essay). Die Inhalte kann man sich an anderen Stellen problemlos erschließen (im Netz gibt es jede Menge aktueller Precht-Auftritte; außerdem auch jede Menge anderer Rezensionen).
Aber die – aus meiner Sicht relevantesten – Themen-Komplexe sollen kurz benannt werden:
Precht beschreibt
– die erschreckende Ignoranz der KI-Propheten gegenüber den ökologischen Herausforderungen,
– die grundlegenden Irrtümer bei der Gleichsetzung von menschlicher und digitaler Intelligenz (bei denen die leibliche und emotionale Gebundenheit unserer kognitiven Leistungen ausgeblendet wird),
– die „inhumanen“ Konzepte und Visionen der Technik-Gurus aus dem Silicon-Valley (die den gegenwärtigen Menschen-Typ durch Verschmelzung mit digitalen Komponenten „erweitern“ oder durch die Entwicklung einer „starken“ KI ersetzen wollen – einige mit dem Fernziel, das ganze Universum zu erobern),
– das völlig einseitige Menschenbild der KI-Enthusiasten (in dem es keine Alternativen zu dem endloser Bedürfnis nach Kontrolle, Weiterentwicklung und Selbstoptimierung gibt),
– die Unmöglichkeit, ethische und moralische Prinzipien in digitale Strukturen zu pressen (es sei denn, man würde der Moral einen streng „utilitaristischen“ Anstrich geben – was Precht total ablehnt).

All diese (und einige andere) Überlegungen führen zu den zentralen Fragen:
Ist die angekündigte KI-Zukunft wirklich mit unseren Vorstellungen vom „Menschsein“ kompatibel?
Wenn nicht – warum sollten wir diesen Weg gehen? Warum sollte er alternativlos sein?
Warum lassen wir uns von den Vertretern bestimmter (wirtschaftlicher) Interessen einreden, das es eine Art Naturgesetz in Richtung KI gibt?
Warum fangen wir nicht endlich an, für unsere Vorstellungen von menschlicher Zukunft einzutreten?

Wo bleibt das „ja, aber…“?
Nun, das zustimmende Nicken war tatsächlich kaum zu stoppen.
Es gibt ein paar kleine Zweifel; hier ein Beispiel: Ich bin z.B. nicht so sicher wie Precht, dass der Mensch in seiner jetzigen biologisch-evolutionären Ausstattung wirklich in der Lage ist, die selbstverursachten Untergangsrisiken aus eigener Kraft zu bewältigen. Ich halte zukünftige „Eingriffe“ in die menschliche Hard- und Software nicht unbedingt für erstrebenswert – aber vielleicht für notwendig. Möglicherweise können wir uns in ein paar Jahrzehnten tatsächlich einen „Menschentyp“ nicht mehr leisten, der einen charakterlosen Primitivling zum mächtigsten Mann der Welt macht.
In wenigen Punkte schießt auch ein Precht mal über‘s Ziel hinaus: Ich glaube nicht, dass sich Dawkings Standardwerk „Das egoistische Gen“ als ein Beispiel für den Vorwurf eignet, dass man der Evolution einen bewussten Plan und Willen unterstellt.
Aber das sind Peanuts angesichts der Fülle von anregenden Gedanken und Reflexionen.

Ein wenig länger diskutieren würde ich – wenn ich jemals diese Möglichkeit bekäme – Prechts etwas fundamentalistisch wirkende Forderung, man dürfe niemals Entscheidungen auf KI-Systeme übertragen, die sich konkret auf die konkrete Zukunft von Menschen auswirken (z.B. bei der Personalauswahl, im Straßenverkehr, bei der Kreditvergabe oder bei medizinischen Fragen). Ich würde ihn fragen wollen, warum er denn die menschlichen Entscheidungs-Algorithmen grundsätzlich als „wertvoller“ betrachtet. Kann er sich wirklich keine Fälle vorstellen, in denen menschengemachte (systematische) Fehlentscheidungen und Diskriminierungen durch den Einsatz einer KI zum Positiven korrigiert werden könnten?

Ein wenig geärgert hat mich seine Ausführungen zur Beschränktheit der Gültigkeit von statistischen Aussagen für den Einzelfall. Es wirkt ein wenig naiv, jetzt der KI vorzuwerfen, dass sie bei Entscheidungen auf der Basis von Datenanalysen ja nicht die Besonderheiten und den Kontext des Individuums berücksichtigen würde. Zwar räumt Precht letztlich ein, dass das auch ohne KI – wie ich finde unvermeidlich – stattfindet; trotzdem bekommt die KI auch diesen Minuspunkt aufs Konto. Wie sollte denn – so frage ich mich – eine hochkomplexe und vielfältig vernetzte Gesellschaft ohne
Wahrscheinlichkeits-Abschätzungen auskommen? Was müssten wir dann alles in Frage stellen?!
Da hat auch ein Precht mal nicht zu Ende gedacht oder ein wenig unlauter argumentiert (finde ich).

Trotzdem gibt es diese eindeutige Bilanz:
Dieses Buch ist weit mehr als eine etwas ausgeweitete Zusammenfassung bekannter Standardargumente. Wer sich in den kommenden Monaten und Jahren mit den philosophischen und ethischen Implikationen der KI auseinandersetzen will, kommt an dieser Vorlage von Precht wohl kaum vorbei. Selbst wenn man ihm nicht in allen Punkten zustimmt, so bietet er doch so etwas wie einen Referenzrahmen für den weiteren Diskurs.

Empfehlung: Lesen (oder hören; der Autor liest selbst – ziemlich schnell).

“Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit” von Rutger BREGMAN

Ein durch und durch überraschendes und faszinierendes Buch!

Normalerweise fange ich eine Rezension nicht mit meiner Bewertung an. Es fällt mir hier aber schwer, sie zurückzuhalten. Weder möchte ich meinen Drang disziplinieren, dieses Buch vorweg zu loben, noch möchte ich das Risiko eingehen, dass jemand vielleicht vorzeitig das Lesen abbricht und dann die entscheidende Botschaft nicht bekommt.

Ich habe wirklich schon eine Menge Sachbücher gelesen – psychologische, philosophische, soziologische, politische, historische, naturwissenschaftliche – aber dieses Buch ist tatsächlich anders als alle anderen.
Es ist ein wissenschaftliches und zugleich ein sehr persönliches Buch. Es beinhaltet Themen aus allen genannten Disziplinen und bringt sie in einen ganz besonderen Zusammenhang. Diese Verbindungen, dieser rote Faden, entspringt nicht einer “sachimmanenten” Logik, sondern der subjektiven Motivation des Autors, einem niederländischen Historikers und Journalisten (es handelt sich übrigens um einen relativ jungen Mann – ganz anders als die Hörbuch-Stimme es vermuten lässt).

Anders als es der Untertitel des Buches suggeriert, wird hier keineswegs eine zusammenhängende, irgendwie chronologische Geschichtsschreibung der Menschheit geboten. Aber es wird eine andere Geschichte über die Gattung Mensch erzählt!
Es ist ein – offensichtlich sehr persönliches – Anliegen des Autors, seine positive Sichtweise der menschlichen Natur einer anderen Erzählung entgegenzustellen; einer negativen Erzählung die – seiner Überzeugung nach – auf zahlreichen Missverständnissen, Verzerrungen, Auslassungen, Fehlinterpretationen und auch eindeutigen Lügen beruht.

Nun ist BREGMAN aber kein von einer Mission beseelter naiver Gutmensch, der sein privates Glaubensbekenntnis unter die Leute bringen will.
Ganz anders: Der Mann hat Biss!
In einer an Hartnäckigkeit, empirischer Gründlichkeit und Aufwand kaum zu übertreffender Art und Weise nimmt er sich eine ganze Reihe von – scheinbar willkürlich – ausgewählten Einzelthemen vor und tut, was er offenbar am liebsten tut und am besten kann: Er zerstört Mythen und vermeintliche Gewissheiten über die so “egoistische und grausame Natur” des Menschen, die nur durch intensivste zivilisatorische Eingriffe halbwegs im Zaum gehalten werden kann.

Er schreibt u.a. über:
– das (meist sehr vernünftige und solidarische) Verhalten von Menschen in Notsituationen und bei Katastrophen,
– die (überraschend ausgeprägte) Neigung von Soldaten, auch mitten im Krieg das Töten zu vermeiden,
– die erstaunlichen Erfolge von alternativen Modellen, mit Straftätern und Gefangenen umzugehen.

In einige Themen verbeißt sich der Autor förmlich. So stellt er sehr gründlich und anschaulich seine These dar, wie der – durch die Evolution auf “freundlich” getrimmte – Jäger und Sammler durch Sesshaftigkeit, Landnahme und Besitz erst einige unsympathische Charakterzüge entwickelt hat. Auch die Kultur der Osterinseln und deren so schockierendes Ende wird von BREGMAN sehr systematisch aufgerollt und in ein völlig verändertes Licht gestellt. Der (erschreckenden) Botschaft des weltberühmten Romans “Herr der Fliegen” stellt er eine wahre Geschichte entgegen, die so erfreulich anders verlaufen ist. Ein Kapitel über amerikanische Polizeigewalt liest sich wie ein Kommentar zu den gerade aktuellen Ereignisse in den USA (Stand Juni 2020).

Stärker als alles andere hat mich aber die (nachvollziehbare) Infragestellung einiger grundlegender experimenteller Befunde aus der Sozialpsychologie berührt und geradezu schockiert. Dabei ging es um nicht weniger als die bekanntesten “Indizien” für die Verführbarkeit und Bösartigkeit des Menschen (z.B. das “Gefängnis-Experiment von Zimbardo oder das Gehormsakeits-Experiment von Milgram).
In weiten Teilen geht es bei dieser akribischen Analyse von Daten und Schlussfolgerungen nicht um neue Interpretationen, sondern um die Aufdeckung von Fälschungen und Betrug!
Eigentlich kaum zu glauben!

Was fängt nun BREGMAN mit all dem an?
Er unterfüttert unermüdlich und faktenreich seine Grundthese, dass der Mensch eine Grundanlage zur Kooperation und Empathie in sich trägt. Er ist überzeugt davon, dass es sich auf allen Ebenen lohnt, seinen Mitmenschen erstmal mit Vertrauen zu begegnen, dass es sinnvoll und effektiv ist, auch benachteiligten oder gestrauchelten Menschen würdevoll zu begegnen. Für ihn ist klar belegt, dass das Verhalten der Menschen sehr häufig die Art des erfahrenen Umgangs wiederspiegelt, dass Fehlverhalten oft das Ergebnis von Diskriminierung und negativen Zuschreibungen ist.

Der Autor vermittelt und bewertet zwar eine Menge Fakten und Befunde, sein Schreibstil ist aber eindeutig journalistisch. BREGMAN schreibt für den interessierten Laien. Er fängt den Leser dadurch ein, dass er “Geschichten” erzählt – nicht trocken und nüchtern, sondern spannend und lebensnah. So wird Erkenntniszuwachs zum Vergnügen!

Selten hat mich ein Buch so überrascht, irritiert und stellenweise schockiert – selbst in Bereichen, in denen ich mich seit einigen Jahrzehnten (durch Studium und Beruf) ganz gut auskennen sollte. Gleichzeitig habe ich ein sehr menschliches, optimistisches und anrührendes Buch genossen, das Mut zur Menschlichkeit macht.
Angesichts der faszinierenden Einblicke und Erkenntnisse fallen gelegentliche Längen oder Redundanzen nicht ins Gewicht.

Für mich ist es eines der besten Sachbücher, die ich jemals gelesen habe!

Die App ist da!

Die deutsche Gründlichkeit hat mal wieder zugeschlagen: Es musste die “weltbeste” App sein, weit ab von jedem Verdacht, irgendein Datenschutzrisiko zu beinhalten.
Und natürlich ist sie freiwillig, freiwillig, freiwillig!

Ich bin gespannt, ob es trotzdem eine Boykott- und Ablehnungsszene geben wird. Einfach, weil man ja gegen das sein muss, was irgendwie “staatlich” ist. Weil Staat bedeutet ja offensichtlich, Kontrolle, Ausspionieren, Datensammeln.
Der Staat ist ja irgendwie immer der Gegner.

Vielleicht bin ich ja naiv. Es liegt wohl daran, dass ich noch nie in einem Unrechtsregime leben musste. Ich bin irgendwie mit dem Gefühl aufgewachsen, dass der Staat ein absolut notwendiger Dienstleister ist, der – letztlich in meinem Auftrag und meistens in meinem Interesse – Dinge für mich regelt und bereitstellt, die mir sonst sehr fehlen würde.

Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich habe schon bei dem Volkszählungs-Konflikt in den 1970-iger Jahren nicht wirklich verstanden, warum der Staat nicht wissen sollte, wo wie viele Personen leben. Tatsächlich habe ich damals – trotz grundsätzlich “progressiver” Einstellung – nicht protestiert, sondern war als Volkszähler unterwegs (habe von meinem Verdienst u.a. die stilbildende “Deep Purple in Rock” gekauft).

Von mir aus dürfte es auch einen zentralen Speicher der Corona-Daten geben. Aber wenn das nicht sein muss – ums so besser!
Ich möchte nur keine endlosen Diskussionen hören und sehen über die “Restrisiken” dieser App. Ich glaube, ich wäre kein sehr geduldiger Gesprächspartner.

Ein schlauer Mensch hat die Tage – sinngemäß – gesagt: Jeder Smartphone-Besitzer, der ein Google-, Facebook- oder Microsoft-Konto hat, sollte zwangsverpflichtet werden, auch die Corona-App zu installieren. Die Auswirkungen auf die persönliche Durchleuchtungs-Dichte wäre selbst mit den empfindlichsten Instrumenten nicht messbar.

Also bitte: Installiert die App und beschäftigt euch dann mit wesentlichen Dingen!

Nachtrag:
Ich habe gerade die – verständliche – Frage bekommen, ob die App denn unter den aktuellen Bedingungen überhaupt noch so sinnvoll sei.
Meine Antwort: Ich sehe in einem möglichst flächendeckenden Runterladen der App auch ein gesellschaftliches Zeichen, eine Art Volksabstimmung für Vernunft und Verantwortung.

Lachs

Komischer Titel für einen Blogbeitrag von mir?

Ich habe heute eine 90-minütige Dokumentation über den Lachs als Lebewesen und die Lachsindustrie als Wirtschaftsfaktor gesehen. Das Ergebnis: Viel Information, differenzierte Aufklärung und emotionales Berührtsein.

Ich wusste schon von der Problematik der industriellen Lachs-Produktion – durch eine ZEIT-Titelgeschichte aus dem letzten Jahr. Auch das Lesen hat damals etwas ausgelöst: Ich war seitdem häufiger (fast immer) bereit, für “Bio-Lachs” deutlich mehr zu bezahlen.

Dieser Film macht die Zusammenhänge deutlicher und vor allem eindrücklicher. Es geht – wie so oft – um Maßlosigkeit, Wachstumsfetischismus und Verantwortungslosigkeit.
Beleuchtet werden viele Aspekte: Die Romantik der ursprünglichen Lachsfischerei, die sprunghafte Entwicklung der “Zuchtfarmen” in Norwegen (und inzwischen auch in Chile), die Umweltschäden und die unsäglichen Lebensbedingungen, die geplante Steigerungsdynamik für die nächsten Jahre.

Am meisten hat mich das Interview mit einem norwegischen Geschäftsmann (Exporteur) erschüttert, der schildert, wie stolz er über jedes Flugzeug ist, das mit ca. 30 Tonnen Lachs zu den wohlhabenden Kunden in Asien oder zu den Golfstaaten startet. Oder die Geschichte eines Norwegers, der es geschafft hat, den norwegischen Lachs in Japan (und dann weltweit) als Sushi-Spezialität einzuführen. Einfach ein Irrsinn!
Und diese Menschen spüren offenbar noch nicht einmal eine kleine Ambivalenz hinsichtlich ihres – jedem ökologischen Gedanken widersprechenden – Tuns.
Der ganze Wahnsinn solle sich in den nächsten Jahren noch verfünffachen.

Guten Appetit!
Ich glaube, ich kann jetzt auch auf Bio-Lachs (weitgehend) verzichten.

(Die Sendung lief auf ARTE).