15.03.2020

Was soll man vor Beginn einer Woche schreiben, in der es zu einer Art “Ausgangssperre” kommen könnte?

Da bin ich im Moment etwas sprachlos.

Melde mich morgen wieder.

13.03.2020

Ich klage an: Der Corona-Virus betreibt Altersdiskriminierung!

Was ist nicht alles passiert in den letzten Jahrzehnten, um der Diskriminierung jeder erdenklichen Minderheit entgegenzutreten. Inzwischen ist alles erlaubt – jede/r/s Religion, sexuelle Präferenz, Kleidung, Körperkult, Weltanschauung, Partnerschaftsmodell. Familienkonstellation, Ernährungsregel, usw.
Niemand wird – zumindest offiziell – wegen irgendwas benachteiligt.
Das ist sicher ein gesellschaftlicher Fortschritt, auf den unsere liberale Demokratie stolz sein kann (auch wenn es die ein oder andere Übertreibung gab und gibt…).

Und jetzt kommt dieser bekloppte Virus und sagt: Ob ihr schwer erkrankt oder vielleicht auch sterbt, hängt in erster Linie von eurem Alter ab. Je nachdem, wie alt ihr seid, ist euer Leben (am Ende dieser Pandemie) zu 0,7% oder zu 25% zu Ende (statistisch betrachtet, im Falle einer Infektion, die wiederum zu ca. 70% wahrscheinlich ist).

Ups! Was ist auf einmal mit der stetig steigenden Lebenserwartung los?
Darf so ein hergeflogener Virus das einfach auf den Kopf stellen? Gibt’s da nicht irgendwo eine Gleichstellungsbeauftragte?

Das klingt vielleicht irgendwie lustig (soll es natürlich auch).
Aber das ist nur eine Übersprungshandlung, eine Bewältigungstechnik.
Ich finde es tatsächlich in keiner Weise amüsant, mich mit einer altersbedingten Sterblichkeitswahrscheinlichkeit von ca. 4% in diesem Jahr konfrontiert zu sehen (im – durchaus wahrscheinlichen – Falle einer Infektion).
Okay – das ist immer noch eine gute Überlebensrate – aber diese beruht darauf, dass alle Systeme funktionieren und die ernsthaft Erkrankten noch gut versorgt werden.

Ich gönne es den jüngeren Menschen, dass sie in dieser Krise eine größere Sicherheit haben. Es wäre total ungerecht und unnatürlich, wenn es umgekehrt wäre.
Ich weiß ja auch, dass ich allein durch mein Alter jedes Jahr eine höhere Sterblichkeitswahrscheinlichkeit habe, ist ja logisch.
Aber: Das muss ja nicht noch durch Corona potenziert werden!
Muss es wirklich das Alter sein? Darf nicht berücksichtigt werden, wo man gerade steht im Leben, was man noch vorhat, was einen alles interessiert, wen man alles mag und liebt?

Okay. Ich sollte fair und faktenorientiert bleiben. Wozu bin ich Psychologe?
Natürlich wird nicht nur unser (biologisches) Alter entscheiden, sondern letztlich unser Immunsystem, das auch von vielen anderen Faktoren beeinflusst wird. Eben auch von unserer Psyche.
Also – bei aller demütigen Schicksalsergebenheit: In eine ängstliche oder fatalistische Mutlosigkeit zu verfallen, wäre kontraindiziert! Seien wir selbstfürsorglich und hoffnungsfroh! Behalten wir eine lebensbejahende Grundhaltung; tun wir Dinge, die uns und unser Leben bereichern!
Dafür ist es vielleicht gar nicht so schädlich, dass man aufgrund der besonderen Situation mal innehält und seine Prioritäten überdenkt.

Wir sollen Sozialkontakte einschränken. Das ist sicher vernünftig – soweit es um größere Gruppen von eher anonymen Personen oder um besonders gefährdete Menschen geht.
Das kann aber nicht die Richtschnur sein für den Umgang mit den paar Menschen, die unser Leben wirklich im Kern bereichern und einen Teil unserer Identität ausmachen. Diese Menschen brauchen wir, um unsere positive Lebensenergie zu erhalten.

Es ist sicher eine Zeit zum Innehalten und zur Besinnung, zum Nachdenken, zu Gesprächen, zu einem gutes Buch; für die wirklich bedeutsamen Menschen.
Das alles gilt unabhängig vom Alter.

12.03.2020

Vermutlich könnte man in den nächsten Wochen und Monaten jeden Tag über den Corona-Virus reden. Es würde wohl nie langweilig werden.
Man könnte die Situation mit früheren Krisen vergleichen, könnte die Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik, Zukunftsperspektiven und die menschliche Psyche betrachten.
Vielleicht werden die Zeiten ja so schwierig, dass eine solche Fixierung auf ein Thema sogar angemessen erscheint.

Heute – jedenfalls – ist die Verbindung zwischen Trump und dem Virus daran.

Das ist ein außerordentlich interessantes Thema – denn der Virus macht sich ausgerechnet in Wahlkampfzeiten breit.
Was macht ein Trump mit einem Gegner, der sich nicht durch “twitter-tweets” provozieren, nicht durch “fake-news” beirren und nicht durch einen “perfect deal” einfangen lässt? Der sich sogar gegenüber dem Slogan “america first” taub stellt? Dem man nicht mit Anwälten und dem Zorn der “real americans” drohen kann?

Ein paar Sachen gehen noch!
Man könnte z.B. sagen, dass andere Schuld sind. Das könnten ja die gegnerischen Demokraten sein: Haben die nicht die ganze Sache erfunden oder hochgespielt, nur um den so einzigartig erfolgreichen Präsidenten zu schaden?
Und wenn es den Virus nun doch gibt: Haben nicht diese Europäer die Verbreitung ermöglicht, die wegen ihrer bekloppten humanistischen Ideen dauernd irgendwelche Ausländer reinlassen – statt ihre Grenzen durch angemessene Mauern zu schützen (“gab es da nicht schon mal irgendwo gute Ansätze…?”).
Und wenn ich (Trump) dann doch handeln muss: Dann sperre erstmal die Europäer aus – egal wie viele Infektionen schon im Land grassieren (weil das mit den eigenen Tests nicht geklappt hat).

Wir werden es sehen: Ein Land, in dem Egoismus Staatsräson ist und ein allgemeine Krankenversicherung als Sozialismus gilt – so ein Land wird ganz sicher mit dem Virus die größten Probleme kriegen.
Nach dieser Krise werden solche Dinge wie “ein starker, fürsorglicher Staat”, eine “funktionierende Verwaltung” und “eine ausgebaute Infrastruktur” eine hohe Wertschätzung genießen. Weltweit.
Wer auf persönlichen Reichtum statt auf ein geordnetes Gemeinwesen setzt, wird die globalen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte nicht meistern!
Die Klimakrise lässt grüßen!

“Der Wal und das Ende der Welt” von John IRONMONGER

Bewertung: 4 von 5.

Dieses Buch hat mir eine besondere Erfahrung vermittelt: Ohne dass ich es vorher ahnte, hat es mitten in der Corona-Krise eine Hintergrundgeschichte aufgespannt, die eine gravierende Grippe-Epidemie zum Thema hat. So hatte ich in den letzten Tagen sozusagen auf einer zweiten -literarischen – Ebene eine Art Prognose, wohin eine solche Epidemie auch führen könnte.
Natürlich sagt diese zeitliche Koinzidenz nichts über die Qualität des Buches aus. Für mein Leseerlebnis hat es aber tatsächlich eine Rolle gespielt.

Erzählt wird folgende Geschichte: Ein vermeintlich gescheiterter Banker (genauer gesagt Analyst) setzt sich aus seinem Büro ab und landet nach einer Autofahrt sozusagen am Ende der Zivilisation. In einem kleinen, abgeschiedenen Fischer-Örtchen spielt er offensichtlich mit dem Gedanken, seinem nutzlos gewordenen Leben ein Ende zu setzen. Er wird gerettet. Dabei spielen ein Wal und die ca. 300 Einwohner des beschaulichen Ortes eine Rolle.
Ich will natürlich nicht die ganze Geschichte nacherzählen. Joe wird sehr schnell ein integriertes Mitglied dieser Dorfgemeinde und trägt maßgeblich dazu bei, dass sich dieser Ort in einer besonderen Weise auf die allseits verbreitete Grippe-Epidemie vorbereitet. Natürlich entstehen auch persönliche Beziehungen und auch an diesen lässt uns der Autor teilhaben.

Die erzählerische Dynamik speist sich auch daraus, dass es Rückblenden in das – so ganz andere – Leben des Londoner Finanzzentrums gibt. Aus dem Kontrast dieser beiden Subkulturen werden letztlich die entscheidenden Botschaften des Buches herausdestilliert: Es geht in diesem Buch um Gemeinschaft und Solidarität, die ganz offensichtlich im Gegensatz stehen zu einem rein auf den egoistischen Vorteil bezogenes Handeln und Wirtschaften.

Und nun zur Einordnung:

Der Autor erzählt so etwas wie ein modernes Märchen. Entscheidend sind dabei weniger die Einzelheiten der Handlung, sondern die „Moral von der Geschicht“.
Die Figuren sind durchweg sympathisch oder leicht ambivalent gezeichnet, richtig böse Menschen gibt es in diesem Buch nicht. Das ist sicher ein Teil der Botschaft.
Das märchenhafte des Buches liegt darin, dass man sich eine tatsächliche Umsetzung der beschriebenen Ereignisse in die Realität doch nicht ganz vorstellen kann. Insbesondere das groß zelebrierte Solidaritäts-Ereignis am Ende des Buches hat eher einen symbolischen Wert; man muss das alles nicht wörtlich nehmen.
Eine nette, vielleicht etwas sehr wohlmeinende Story mit viel moralischem Impetus. Das ist kein Buch für Intellektuelle, sondern eher für Menschen, die positive Geschichten mögen.

Insgesamt mochte ich dieses Buch, es ist menschenfreundlich und stimmt hoffnungsvoll.
Gegen Ende wurde meine Toleranz in Bezug auf das Abdriften ins Kitschige doch etwas stark strapaziert. Alles ziemlich dick aufgetragen, eben was fürs Herz. Ist ja okay…
Letztlich endet das Buch doch noch ganz originell. Immerhin.

Die echte (Corona-)Epidemie geht auch nach dem Lesen des Buches weiter. Der Grundgedanke, dass Menschen auch im echten Krisenfall nicht gleich zu egoistischen Monstern werden müssen, kann natürlich als Apell für die Realsituation betrachtet werden. Wir werden sehen, wie weit uns das Gemeinschaftsgefühl in den nächsten Monaten trägt.

“Das Ende der Illusionen” von Andreas RECKWITZ

Dies ist das zweite Buch des populären Soziologen Reckwitz, das ich innerhalb der letzten Wochen gelesen habe.
Während es im ersten Buch (“Die Gesellschaft der Singularitäten“) darum ging, die gesamte gesellschaftlicher Entwicklung der sog. “Spätmoderne” auf dem Hintergrund einer gemeinsamen Schablone zu betrachten (eben der Tendenz zur Singularität), spannt Reckwitz in seinen fünf Beiträgen der Bogen ein wenig weiter.

Diese fünf Aspekte betreffen:
– die Veränderungen im Kulturbereich und Kulturbetrieb
– die Entwicklung einer neuen gesellschaftlichen Klassen-Aufteilung
– die Ablösung eines industriellen Kapitalismus durch einen “kognitiv-kulturellen” Kapitalismus
– die Ausrichtung weiter Teile der Gesellschaft auf das Ziel der “Selbstverwirklichung” und dessen Folgen
– die Frage nach einem notwendigen und neuen politischen Rahmen für unsere Gesellschaft insgesamt (er nennt ihn: “einbettenden Liberalismus”)

Das klingt alles sehr abstrakt; ein wenig nach Soziologen-Kauderwelsch.
Und zugegeben: Wer Sätze mit mehr als zwei Fachbegriffen oder Fremdworten nicht mag, sollte nicht zu diesem Buch greifen.
Wer sich an gut hergeleiteten Analysen von zeitgeschichtlichen Entwicklungen erfreuen und die damit verbundenen “Aha-Erlebnisse” genießen kann, der ist bei Reckwitz genau richtig.

Was bekommt man?
Letztlich bekommt man ein beschreibendes und z.T. auch erklärendes Gerüst für ganz unterschiedliche Phänomene in Wirtschaft, Konsum, Bildung, Reisen, Wohnen, Partnerschaft, usw.
Damit werden bestimmte – gut nachvollziehbare – Beobachtungen (z.B. bzgl. der Wertigkeit von bestimmten Ausbildungen oder Berufsbildern) nicht als interessante Einzelphänomene betrachtet, sondern in einen verbindenden Kontext gesetzt. Viele Veränderungen ergeben – gemeinsam betrachtet – einen Trend. Aus solchen Trends ergeben sich neue Gewohnheiten, Bewertungen und letztlich auch Strukturen.
Mit Distanz und aus analytischer Perspektive betrachtet erkennt dann der Soziologe eine eine neue gesellschaftliche Epoche. In diesem Fall die “Spätmoderne”.

In den fünf Aufsätzen werden zwar unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, es geht aber immer um die gleiche Grundbetrachtung. Es gibt daher große Überschneidungen; die entscheidenden Begrifflichkeiten tauchen immer wieder auf.
Lesbar und verständlich sind die Kapitel aber auch für sich alleine.

Für psychologisch interessierte Menschen ist das Kapitel über die “Selbstverwirklichung” und ihre emotionalen Kosten ein wahrer Genuss. Es macht einfach total viel Spaß, einen Soziologen über ursprünglich psychologische Konzepte “reden” zu hören. Man möchte am liebsten die Grenzen zwischen den beiden Fachgebieten öffnen, sich auf einer gemeinsamen intellektuellen Spielwiese treffen und in einem fairen Wettkampf um die treffenderen und erkenntnisreicheren Konzepte antreten.
Mir hat es großes Vergnügen bereitet, mich selbst einzuordnen in den Irrungen und Wirrungen der Selbstverwirklichungs-Euphorie; man kann ganz gut über sich selber schmunzeln, man fühlt sich durchaus auch mal erwischt…

Okay, ich will niemandem dieses Buch als amüsante Nachttisch-Lektüre verkaufen. Es bleibt ein wissenschaftliches Fachbuch, es bleibt Lese-Arbeit.
Das (optisch) kleine und unscheinbare Büchlein ist inhaltsschwer – auch weil die Schrift recht kleingedruckt ist.

Und der Vergleich der beiden Bücher?
Das fällt mir schwer. Das Singularitäten-Buch ist auf jeden Fall das “schönere” Buch; es macht deutlich mehr her. Es ist noch systematischer aufgebaut als das hier besprochene Nachfolgewerk. Es gibt einen großen roten Faden.
Trotzdem ist man wohl als jemand, der Reckwitz und seine Theorien kennenlernen will, mit dem “Ende der Illusionen” besser bedient. Der Ansatz ist noch ein wenig breiter und nicht so stark zugeschnitten auf eine Hauptthese.

08.03.2020

Man gibt uns ein Gefühl des Umsorgtwerdens.
Krisenstäbe treffen sich, Politiker treffen sich. Es werden Empfehlungen ausgesprochen, mit zunehmender Dringlichkeit.
Das ist gut und richtig. Auch ich verlasse mich darauf, dass es Notfallpläne für den Fall gibt, dass die sensiblen Schnittstellen unserer hochkomplexen Grundversorgung in Gefahr zu kommen drohen.
Da wird es Urlaubssperren und Dienstverpflichtungen geben (müssen).

Es gibt auch aktuelle Pläne und angekündigten Entscheidungen, die mich irritieren:
Steuersenkungen sollen vorgezogen werden, Kurzarbeitergeld soll fließen, Konjunkturprogramme werden vorbereitet.
Ich frage mich: Muss schon bei den ersten zarten Auswirkungen das Pulver aus vollen Rohren verschossen werden? Wissen wir schon, was insgesamt auf unsere Gesellschaft zukommt? Ist es wirklich vordringlich, den privaten Konsum anzuheizen, angesichts einer völlig unklaren Perspektive? Könnte es nicht sein, dass wir die Milliarden, die jetzt eine erste wirtschaftliche Delle ausgleichen sollen, später für weit dringendere, existenzielle Aufgaben benötigen?

Noch allgemeiner gefragt: Welches Signal brauchen wir? Dass alles so weitergehen kann wie bisher? Teile der Wirtschaft kommen zum erliegen – der Staat richtet es so schnell und so perfekt, dass keiner was merkt?

Wie lange soll das funktionieren? Wie lange will man den Leuten vormachen, dass die Corona-Krise nicht mit Zumutungen verbunden sein wird?
Glaubt man wirklich, die Spielchen aus der Klimapolitik ließen sich auf das Virus übertragen? Nach dem Motto: “Es ist zwar schlimm und wir müssen was tun – aber es darf keiner spüren?”

Müsste es nicht genau umgekehrt sein? Müsste nicht die Konfrontation mit den unvermeidbaren Zumutungen der Epidemie eine Art Modell dafür sein, dass wir auch mit den mittel- und langfristigen Bedrohungen mutiger und konsequenter umgehen sollten. Auch die Bekämpfung der Klimakrise wird in einigen Bereichen ans Eingemachte gehen (müssen).

Ich bin für jede Art von Hilfe und Unterstützung – aber hört auf den Menschen vorzugaukeln, es ginge ohne Zumutungen ab.
Und spart die Ressourcen für den Fall, dass aus Zumutungen echte Not wird.

“Was auf dem Spiel steht” von Philipp BLOM

Ja, schon wieder so ein Zukunfts-Buch. Nicht nagelneu, von 2017.
Es reiht sich ein in die Veröffentlichungen von Harari, Yogishwar, Lesch, Welzer, Precht und anderen. Diese Autoren und ihre Bücher beobachten, analysieren und kommentieren aktuelle Tendenzen in Wissenschaft, Gesellschaft, Wirtschaft, Technik und Politik.
Sie tun das nicht aus einer neutralen Position heraus. Sie wollen aufklären, warnen – und sie wollen etwas bewahren: unseren demokratischen Rechtsstaat.

Was ist nun das Besondere an dem Buch von Blom?

Blom ist Historiker (das verbindet ihn z.B. mit Harari). Er erklärt, aus welchen Entwicklungssträngen heraus sich unser aktuelles Gesellschaftsmodell entwickelt hat. Er beschreibt dann die besonderen Charakteristika unser Art zu leben. Dabei spielt aus seiner Sicht die Konzentration und Fixierung auf einen “Hyperkonsum” eine entscheidende Rolle.
Er stellt dann dar, warum dieses Wirtschafts-Modell nicht zukunftsfähig ist, nicht sein kann.
Schließlich verwendet der Autor ein großes Kapitel darauf, ein mögliches Szenario aufzuspannen, wie der Übergang in eine nachhaltige Lebensweise von statten gehen könnte. Nicht als Prognose, sondern als einen exemplarischen Verlauf.

Ich habe das bewusst nüchtern und “trocken” dargestellt. Natürlich um Inhaltsangabe und Bewertung zu trennen.
Es passt aber auch: Blom ist kein emotionaler Demagoge, er wirkt nicht aufgeregt.
Blom argumentiert engagiert, aber sachlich. Man kann sich seinen Analysen kaum verschließen, man fühlt sich informiert, aufgeklärt, mitgenommen. Der Mann braucht nicht zu lärmen – er hat die Realität (die Fakten und Daten) auf seiner Seite.
Dieses Buch lässt sich einfach gut lesen; man kommt mir dem zustimmenden Nicken kaum hinterher. Vieles weiß man schon, hat man in anderen Zusammenhängen schon gelesen. Das macht aber nichts – denn Blom fügt neue, erhellende Perspektiven hinzu.

Einen echter Mehrwert stellt seine Transformations-Utopie dar. Hier traut sich jemand, mal durchzuspielen, was es denn wirklich bedeuten könnte, wenn es einen konsequenten Wechsel geben würde. Das Szenario wird insbesondere dadurch glaubwürdiger, dass es kein Schönwetter-Idealbild beschreibt. Im Gegenteil: Erst eine echte Krise hat die Umstellung erzwungen und sie verläuft alles andere als reibungslos. Das erzeugt kein wohliges Gefühl – aber es schafft endlich mal eine Grundlage für Überlegungen und Planungen: an was müsste man alles denken, damit bestimmte chaotischen Entwicklungen vielleicht eben nicht eintreten. Und welche – schon jetzt sichtbaren – gesellschaftlichen Experimente wären zu unterstützen, damit sie den Weg in die Nachhaltigkeits-Zukunft weisen können.

Ein anregendes Buch. Ein Buch zum “Weltverstehen”.
Für mich persönlich das ultimative Kompliment!

06.03.2020

Ich weiß nicht, wie es euch geht.
Ich werde von Tag zu Tag etwas nachdenklicher.

Wir machen wohl alle in diesen Tagen ein paar neue Erfahrungen. Mit der Welt um uns herum und vielleicht auch schon mit uns selber.
Wie gehen wir um, mit den Unsicherheiten und leichten Zweifeln?
Bisher war doch immer alles gut, alles irgendwie übertrieben – all die anderen vermeintlich so großen Gefahren (SARS, Ebola, Schweinepest, Grippe-Wellen). Letztlich alles Rohrkrepierer – viel Wind und heiße Luft.

Fühlt sich manches vielleicht doch im Moment schon ein wenig anders an? Kommen bei den so selbstgewiss geappten Ulk-Bildern und -Videos zum “Corona-Wahnsinn” inzwischen ungeliebte andere Empfindungen hoch?
Und wenn denn doch……

Da bleiben jetzt tatsächlich schon echte Flugzeuge am Boden. Da fehlt den leibhaftigen Ärzten die Schutzkleidung, Da fällt auf einmal auf, dass fast alle Medikamente inzwischen in China und Indien hergestellt werden.
Ups! So hatten wir uns die Globalisierung nun doch nicht vorgestellt…

Aber hatten wir nicht immer letztlich doch alles unter Kontrolle – in den letzten 70 Jahren? Gut, das mit der Kuba-Krise war knapp, und der eine sowjetische Fehlalarm hätte um Haaresbreite den atomaren Showdown ausgelöst…
Aber sonst: Alles gut geregelt und für den Rest gut versichert!
Wir leben schließlich in Deutschland: gut Verwaltung, gute Ingenieure, der Notarzt braucht nur fünf Minuten…

Wissen wir (meine Generation), wie sich echter Kontrollverlust anfühlen könnte?
Okay – wir kennen das aus dem privaten Bereich: Wir spüren unsere Machtlosigkeit bei persönlichen Tragödien, bei Unfall, Krankheit und Tod.
Aber dass unsere so gut geölte (Wortspiel!) Wirtschafts- , Konsum-, Gesundheits- und Reisewelt ins Wanken geraten könnte, kommt uns doch ziemlich fremd vor – geradezu unwirklich.

Aber es kommt näher. Schleichend, in kleinen Dosen.
Selbst coole Typen kaufen mal ein paar Sachen auf Vorrat ein (schadet ja nichts…).
Dann die Börsenkurse, ausbleibende Lieferungen, stillstehende Bänder.
Und dann kommen die Gedanken, dass die Menschheit zwar schon viele Krisen gemeistert hat – wir aber keine Erfahrungen damit haben, wie eine so komplexe, vernetzte, hochspezialisierte und extrem technisierte Gesellschaft mit größeren Belastungsproben umgeht.
Ist das Eis, auf dem wir uns bisher so selbstsicher bewegt haben nicht in Wirklichkeit verdächtig dünn?
Haben wir genug Puffer? Wenn plötzlich an den sensiblen Schaltstellen unserer Infrastruktur (bei Strom, Wasser, Medizin und Grundversorgung) nicht nur Material, sondern auch Menschen fehlen? So echte Spezialisten? Weil sie erkrankt sind oder aus Angst vor Ansteckung nicht zur Arbeit kommen?

Es geht mir nicht um Horrorszenarien oder Panikmache.
Ich finde es nur spannend, sich selbst und seine Mitmenschen zu beobachten.
Verschieben sich schon die eigenen Prioritäten? Denkt man vielleicht schon daran, dass man auf die ein oder andere Sache tatsächlich verzichten könnte – wenn man dadurch nur von ernsteren Folgen verschont bliebe?

Ich wäre schon inzwischen jedenfalls sehr froh und erleichtert, wenn ich in 6, 12 oder 24 Monaten noch das Gefühle hätte, in der gleichen (halbwegs sicheren und geordneten) mitteleuropäischen Welt leben zu dürfen.

“Mister Aufziehvogel” von Haruki MURAKAMI

Eine schwierige Aufgabe: Wie schreibt man eine angemessene Rezension, wenn man das Buch eines Lieblingsautors ziemlich schlecht findet.
Es hilft nichts: Man muss sich der Realität stellen.

Ich habe die unnachahmliche Art von Murakmi, Romane zu schreiben, schon mehrfach beschrieben (zuletzt hier). Es hat immer etwas damit zu tun, dass eine zweite Ebene sich in eine zunächst oft belanglose Alltagswelt schiebt. In dieser Ebene gelten die physikalischen Grundgesetze nicht mehr; Realität, Traum und Fantasie vermischen sich genauso wie gewöhnliche Lebensräume sich mit abstrusen örtlichen Gegebenheiten abwechseln. Erstaunlich oft sind das übrigens unterirdische Höhlen, Brunnen oder Schächte. In diesem Roman sind die Brunnen der absolute Hit…

Auch in dem Aufziehvogel wird zunächst eine unspektakuläre Welt beschrieben. Die eines jungen Ehepaares, das auf keiner Ebene das Zeug mitzubringen scheint, einen langen Roman mit Inhalt füllen zu können. Es riecht nach Banalitäten; es wir gekocht und Kleidung von der Reinigung abgeholt.
Aber innerhalb weniger Tage füllt sich das Leben des männlichen Protagonisten (und Ich-Erzählers) mit einer ganzen Anzahl von – teilweise völlig skurrilen – Personen, die verblüffend viele Bezüge zu dem Bruder seiner Frau aufweisen. Ein Bruder, der im Laufe des Romans vom Unsympathen zum Hassgegner wird.

Ich will erst gar nicht anfangen, die Handlungsfäden aufzuzählen, die sich im Laufe der Zeit zu einem fast undurchdringlichen Knäuel verstricken und dabei immer stärker in die “Schattenwelt” abdriften, in der alle möglichen Grenzen zerfließen.

Ich bin normalerweise sehr tolerant, wenn es Murakami mal zu doll treibt mit seinen Verrücktheiten; das ist irgendwie eingepreist – weil man ja dafür auch etwas Besonderes bekommt.
Für mich funktioniert das bewährte Modell aber bei diesem Roman nicht.
Das hat folgende Gründe:
– Es gibt im Aufziehvogel extrem minutiöse Schilderungen von sadistischer Gewalt (das wertet für mich jedes Buch ab, grundsätzlich).
– Mir fehlt ein Thema, das mich auf einer persönlichen Ebene berührt oder betrifft (es geht inhaltlich viel um die japanische Militärgeschichte des 2. Weltkrieges).
– Das surreale Spiel mit den unterschiedlich Erzählebenen und die immer neuen Absurditäten haben mich in dieser Geschichte irgendwann nicht mehr fasziniert oder unterhalten, sondern nur noch genervt. Es ist einfach zuviel des Guten.

Vielleicht reichte diesmal mein literarisches Verständnis nicht. Vielleicht habe ich übersehen, welch vielsagenden Metaphern in diesem Roman bedeutende Aussagen über unsere Welt machen. Kann alles sein.

Ich empfehle diesen Murakami jedenfalls nicht.
Das nächst Mal, wenn ich ein Buch beim ersten Durchgang abbreche, werde ich diesem Gefühl trauen und auf den zweiten Versuch verzichten.


03.03.2020

Es ist ein bisschen zum Verzweifeln.

Die USA sind eine große und mächtige Nation. Die Demokratische Partei hat eine lange Geschichte und eine Reihe von Präsidenten gestellt. Am einige kann man sich erinnern: Kennedy, Carter, Obama.

Im Moment geht es darum, einen Kandidaten / eine Kandidatin zu finden, die einem der umstrittensten Amtsinhaber aller Zeiten mit einer gewissen Erfolgschance entgegentreten könnte. Es gibt sehr viele gute Gründe, den aktuellen Präsidenten abzuwählen; er bietet dafür eine kaum zu übertreffende Zahl von Angriffspunkten.

Und jetzt soll die ganze Sache daran scheitern, dass es niemanden gibt, der so viel Kompetenz, Persönlichkeit und Zuversicht ausstrahlen kann, dass er/sie die Partei hinter sich bringen kann?
Kaum zu fassen. Wie kann das sein?

Heute Nacht fällt eine Vorentscheidung.
Es gibt berechtigte Zweifel, ob die dazu führen kann, dass noch eine echte “Wechselstimmung” durch das große Land wehen kann.
Es wäre traurig und für viele wichtige Themen extrem nachteilig, wenn ein so ignoranter und charakterloser Präsident wegen der Schwäche seiner Gegner im Amt verbliebe…