Verständnis für Frust
Es ist für viele Menschen verständlicherweise irritierend und auch ärgerlich, dass ein – etwas respektlos und provokant auftretender – junger YouTube-Blogger offenbar mehr Einfluss auf die Wahlentscheidung einiger Hunderttausend junger Wähler genommen hat als dies monatelange Bemühungen von engagierten Wahlkämpfern vermocht haben. Das fühlt sich sicher frustrierend und ungerecht an.
Und vielleicht hat es auch etwas Bedrohliches, wenn man erleben muss, wie eine medial gehypte Einzelmeinung so plötzlich bundesweite Bedeutung bekommen kann – an allen anderen seriösen und etablierten Kanälen vorbei.
Ich selber habe allerdings keine besondere Sorge bzgl. dieser potentiellen „Indoktrination“, weil ich davon überzeugt bin, dass das Rezo-Video nur deshalb diese durchschlagende Wirkung entfalten konnte, weil es passgenau eine sowieso vorhanden Stimmung getroffen und verstärkt hat. Ohne „Fridays for Future“ wäre das Video in der Subkultur steckengeblieben, aus der es stammt.
Freude und Genugtuung
Ich gönne es den engagierten jungen Leuten und unserer Gesellschaft, dass durch den Erfolg der GRÜNEN der Eindruck entstanden ist, dass sich in unserer oft geschmähten Demokratie Engagement und ein inhaltlich begründeter Protest auszahlt. Man kann etwas bewegen!
Man muss dafür keine Autos anzünden, Polizisten verprügeln oder Bomben legen. Man muss dafür auch nicht unseren Staat und seine Institutionen aushöhlen oder verunglimpfen (so wie es übrigens sehr viele ach so kluge Erwachsene vor unseren Augen tun).
Vielleicht hat diese Europawahl eine ganze Generation für unser demokratisches System gewonnen! Dieser Effekt könnte weit über die tatsächlich Veränderungen von Mehrheitsverhältnissen hinausgehen. Was kann unserer Gesellschaft besseres passieren, als dass jetzt in Tausenden von Schulklassen und Familien über den Zusammenhang zwischen den Schüler-Demonstrationen und dem Wahlverhalten der Erst- und Jungwähler diskutiert wird?
Spaltung überwinden
Aber es gibt auch aus meiner Sicht ein Problem. Und zu dessen Lösung werden wir Erwachsene gebraucht:
Während nämlich die Jungen jedes Recht zur Polarisierung haben, sollten wir dafür sorgen, dass es keinen dauerhaften Riss in unserer Gesellschaft gibt. Diesmal meine ich nicht den zwischen Arm und Reich, sondern die Aufspaltung in zwei Lager mit grundsätzlich verschiedenen Werten und Zielen.
Auf der einen Seite stehen u.a. die jungen Klimaschützer, die GRÜNEN und die engagierten Wissenschaftler, die inzwischen eine breite bürgerliche Schicht davon überzeugt haben, dass Nachhaltigkeit nicht nur ein wünschenswertes, sondern ein überlebenswichtiges Prinzip für diesen Planeten darstellt. Dieses Milieu ist bereit, im Bereich von Konsum und materiellem Wohlstand deutliche Einschränkungen hinzunehmen und sieht sich eher dem Ziel einer gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten eines – im Prinzip auch weltweiten – Gemeinwohls verpflichtet.
Dem gegenüber stehen die Gruppierungen, die den Erhalt gewohnter kultureller Identitäten und eigene bzw. nationale wirtschaftliche Interessen in den Mittelpunkt stellen und dabei unbestreitbar auch ehrliche Sorgen vor einer Gefährdung der erreichten sozialen Sicherheit und Stabilität haben.
Zwischen dem grünen Milieu und dem durch die AfD vertretenen rechten Rand des politischen Spektrums erscheinen diese Gegensätze aktuell unüberwindbar. Mir liegt die Gruppe dazwischen am Herzen.
Ich wünsche mir, dass der Gesprächsfaden nicht abreißt. Man sollte überall – auch im privaten Bereich – darauf achten, dass man mit einem arroganten oder elitären Auftreten die „Unentschiedenen“ nicht in die rechte Ecke treibt. Auch wenn man gute Gründe hat, seine Überzeugungen als „richtig“ (auch im Sinne wissenschaftlicher Belege) zu bewerten, sollte man Brücken bauen und nicht abreißen.
Es gibt auch bei den gerade „abgestraften“ Parteien verantwortungsvolle und engagierte Menschen, auf deren Sachverstand und Erfahrung man nicht verzichten kann. Da muss man nicht bei den Zuspitzungen von Rezo stehenbleiben.
Und es gibt bestimmt in Verwandtschaft, Bekanntschaft und Nachbarschaft Menschen, die anders denken, aber trotzdem ansprechbar sind. Weil es (noch) gemeinsame Ziele und Grundwerte gibt. Natürlich können wir auch mit den jungen Leuten auf die Straße gehen; aber zusätzlich könnte es unser Job sein, den Zusammenhalt im Alltag zu pflegen. Auch mal zwischen den Milieus (damit meine ich natürlich keine Anhänger einer menschenverachtenden rechtsradikalen Gesinnung).