Man hatte geglaubt, dass nach Wahlkampf und Regierungs-Bildungs-Marathon ein wenig Ruhe in dieses Thema kommt. Jetzt kocht es wieder hoch – so hoch, dass einige Beobachter heute von einer Regierungskrise sprechen. Zumindest aber von einem einzigartigen Showdown zwischen Merkel und Seehofer.
Mich interessiert hier nicht der parteipolitische Aspekt. Natürlich geht es um die Bayern-Wahl und die potentiellen AfD-Wähler. Mich interessiert das Grundsätzliche: Warum treibt die Leute das Thema so um, dass darauf riesige politische Suppen gekocht werden können?
Es geht hier um ein vermintes Gelände. Man kann schnell auf die falsche Seite geraten; vernichtende Urteile sind rasch gefällt. Man verteidigt schließlich Prinzipien und heere Grundsätze, die emotional verankert sind.
Deshalb eine Vorbemerkung: Ich bin ein solidarischer und mitfühlender Mensch. Ich möchte, dass die reichen Länder dieser Welt erheblich mehr Verantwortung für die Krisen und Nöte auf diesem Planeten übernehmen. Ich bin dafür, dass dafür auch Reichtum und Wohlstand umverteilt wird. Ich bin Lichtjahre entfernt von einem “Deutschland zuerst”. Ich will, dass Menschen in akuter Not so gut wie möglich geholfen wird.
Auf dieser Basis bitte ich die folgenden Ausführungen zu bewerten.
Was ich merke, ist eine zunehmende Diskrepanz zwischen idealistischen Maximalforderungen und ausgeklügelten formaljuristischen Regelungen auf der einen Seite und dem Gerechtigkeitsempfinden bzw. dem “gesunden Menschenverstand” von normalen Menschen auf der anderen Seite.
Auf Unverständnis stoßen z.B. Regelungen und Diskussionen zu folgenden Punkten:
- Warum muss eine Nothilfe für drangsalierte Menschen darin bestehen, dass man diese gleich möglichst vollständig und perspektivisch dauerhaft in eine weit entfernte, unbekannte und sehr viel wohlhabendere Gesellschaft integriert?
- Warum wird zunächst so getan, als ob man die Hilfestellung für eine unbegrenzte Anzahl von Menschen leisten könnte – wo sich doch jeder ausrechnen kann, dass nicht alle in Frage kommenden Anwärter auf diesem chaotischen Planeten in unser Land passen würden?
- Warum werden nahezu alle Versuche, Abläufe und Verfahrensweisen zu vereinfachen und damit handhabbarer zu machen, mit allen Verästelungen des deutschen Rechtssystems zu verhindern versucht? Ist es nicht z.B. tatsächlich völlig absurd, bei der Klärung der Herkunft von Menschen, die ihre behauptete Herkunft nicht nachweisen können, das Auslesen ihrer Handys aus Datenschutzgründen zu verbieten?
Das soll reichen. Es geht mir nicht um die Einzelfragen. Ich möchte mich den Grundwidersprüchen nähern. Weil in diesen Widersprüchen die Antwort darauf lauert, warum die Asyl- und Flüchtlingsfrage unser Land spaltet.
Zwei Beispiele:
Grundwiderspruch I:
Während wir auf der einen Seite permanent so tun, als ginge uns der Rest der Welt kaum etwas an, wenden wir auf die paar Menschen, die es bis nach Deutschland geschafft haben die volle Wucht des deutschen Systems an. Mit allen Detailregelungen und rechtlichen Finessen.
Statt mit Hilfe eines gerechteren Handelssystems oder einer massiven Ausweitung von Entwicklungsprojekten die Lebensgrundlage von Millionen Menschen in ihrer Heimat zu verbessern, stellen wir für diejenigen, die sich durchgeschlagen haben (sicher oft nicht die Ärmsten und Schwächsten) zuhauf Lehrer und Sozialarbeiter und Sicherheitskräfte ein.
Grundwiderspruch II:
Weil wir dann irgendwann merken, dass wir das Problem mengenmäßig nicht in den Griff bekommen, sourcen wir die unschönen Begrenzungsmaßnahmen aus, damit wir hier vor Ort den Schein der Prinzipientreue und Rechtsstaatlichkeit wahren können. So werden auf der einen Seite – letztlich auch in unserem Auftrag – Menschen unter unwürdigsten Bedingungen an der Weiterflucht gehindert, während sich im “perfekten” Deutschland Hunderttausende Verwaltungsgerichtsverfahren türmen und alle möglichen Ausnahmegründe dafür sorgen, dass auch abgelehnte Bewerber nicht abgeschoben werden können.
Natürlich habe ich keine fertigen Lösung für diese und andere Widersprüche. Ich glaube nur, dass es gut wäre, sie ohne die bisherigen Tabus und Denkverbote zu diskutieren.
Warum ist das so schwierig?
Weil die Sachfragen längst für prinzipielle Auseinandersetzungen stehen!
Ein Gedankenspiel: Stellt euch vor, die unterschiedlichen Vorschläge zum Umgang mit Asylanten und Flüchtlingen würden völlig losgelöst von grundsätzlichen politischen Ausrichtungen ganz pragmatisch diskutiert. Man würde sich schlichtweg fragen, wie man mit – gerne großzügig – eingesetzten Mitteln den größten Output erreicht, wie man falsche Anreize verhindert und sich für alle nachvollziehbar auf die Linderung der existenziellen Nöte (Leib und Leben) konzentriert.
Stellt euch vor, bestimmte Positionen würden dabei nicht von Gruppen vertreten, die sowieso ein unsolidarisches, nationalistisches und/oder fremdenfeindlich-rassistisches Weltbild vertreten. Und die Gegenposition würde nicht von Menschen vertreten, die sympathisch, mitfühlend, weltoffen und auf der Suche nach einer gerechteren Welt sind.
Würde man dann wirklich lange darüber diskutieren, ob Sachleistungen für Menschen, deren Überleben man sichern will, irgendwie diskriminierend oder gar menschenunwürdig sind? Müsste man darüber streiten, ob eine medizinische Feststellung des Lebensalters die Persönlichkeitsrechte von vermeintlich Minderjährigen verletzt?
Was ich sagen will: Wir graben uns in unseren Positionen fest, weil wir nicht wollen, dass die “anderen” sich durchsetzen. Wir wollen die Wut, die Intoleranz, den Hass der Rechten nicht. Also müssen wir uns vermeintlich auf die anderen Seite schlagen und fordern dann im Extremfall “offene Grenzen für alle” – wie die Linken zuletzt. Da könnte man auch gleich Eintrittserklärungen für die AfD verteilen…
Wir haben ein schlechtes Gewissen angesichts der schreienden Ungerechtigkeiten der Welt, in der es uns so unglaublich gut geht; wir wollen die Guten sein – jetzt, wo die Hilfsbedürftigen auf einmal vor Ort sind. Das ist alles verständlich und legitim.
Es ist nur ein Problem, dass die Leute, die – aus nachvollziehbaren Gründen – auf die Widersprüche, Grenzen und Risiken hinweisen, sich lange nur bei den Krakelern und Deutschtümlern gehört gefühlt haben. Offensichtlich nehmen viele irgendwann eher Hass und Gewaltbereitschaft in Kauf als sich weiter durch eine wohlmeinende Beschwichtigungsrhetorik einlullen zu lassen.
Wir müssen die “Vernünftigen” aus diesem inhumanen Milieu zurückholen. Wir müssen breit darüber diskutieren, welche “unverrückbaren” Prinzipien angesichts der Realitäten der Welt vielleicht auch aufgegeben werden müssen.
Vielleicht muss man in einer Welt, in der viele Millionen von Menschen formal einen Rechtsanspruch auf Asyl in Deutschland hätten, andere Formen der Solidarität und Menschlichkeit finden als genau diesen individuellen Rechtsanspruch in der jetzigen Ausgestaltung. Ich weiß es nicht. Ich frage nur.
(Bevor es jemand anmerkt: Ich kenne auch den geschichtlichen Hintergrund.)
Ich will nicht weniger tun, sondern mehr! Ich merke nur, dass wir uns im Klein-Klein verlieren. Ich glaube nicht daran, dass es ein großer Fortschritt sein wird, wenn jetzt nicht Seehofer sondern Merkel diesen aktuellen Machtkampf gewinnt (und ein paar Leute erstmal über die Grenzen gelassen werden, um dann nach einem rechtsstaatlichen Verfahren doch gehen zu müssen).
Wir müssen viel grundsätzlicher über unsere Ziele und die besten Methoden diskutieren. Wir sind ein reiches Land. Wir können deutlich mehr geben. Aber wie können nicht die ganze Welt retten.
Aber das, was wir tun, sollte effizient und nachhaltig sein – und nicht irgendeiner unrealistischen “reinen Lehre” dienen – mit dem Ergebnis, dass die AfD dann bald bundesweit über 20% kommt.