Chemnitz und das “wirsindmehr”-Konzert

Ja, es war gut, dass dieses Konzert stattgefunden hat und dass es so viele friedliche Besucher hatte. Und ich finde es auch kleinkariert, unseren Bundespräsidenten dafür zu schelten, dass er sich nicht vorher jede Textzeile durchgelesen hat, die von den dort auftretenden Gruppen jemals gesungen wurde.

Trotzdem wurde meinem Gefühl nach in Chemnitz eine Chance vertan.

Ein solches Konzert hätte ein viel stärkeres Signal für Integration und Solidarität senden können, wenn es ein breitere musikalisches und politisches Spektrum abgedeckt hätte. In der dargebotenen Form hat es ganz sicher die wichtigen Menschen, die weder rechts noch links fest verankert sind, genau nicht erreicht.
Es war ein Fest zur Selbstvergewisserung einer links-alternativen Szene. Das ist nicht verwerflich – aber ich hätte mir etwas anderes gewünscht. Ich hätte mir ein Konzertereignis gewünscht, bei dem auch Künstler/innen des gesellschaftlichen Mainstreams aufgetreten wären. Wäre das geschehen, hätte man eindrucksvoll unter Beweis stellen können, das “wirsindmehr” eben nicht bedeutet, dass es mehr linke Punk-Fans als Rechtsradikale gibt, sondern das sich eine breites gesellschaftliches Spektrum gegen einen menschenverachtenden Mob stellt.

Mir schein mehr und mehr das Problem zu sein, dass die Grenzen bzw, Unterschiede zwischen Unzufriedenheit, Sorgen, Abstiegsängsten und sozialen Problemen auf der einen und “Rechts-Sein” auf der anderen Seite zunehmend verschwimmen. Gegen etwas sein, bedeutet scheinbar im Moment für immer mehr Menschen, rechte Positionen einzunehmen oder sich zumindest dort mit anzusiedeln. Weil man sich da besonders gehört fühlt, weil es den Etablieren dort besonders wehtut.
Wir sollten Kontakt mit denen behalten, die diesen Weg (nach rechts) eigentlich nicht gehen wollen. Lasst uns im Gespräch bleiben mit den vielen Menschen, die tatsächlich ganz anders denken als wir, ohne deshalb gleich “unanständig” zu sein. Es sind viel mehr als wir dachten….

Mir ist nicht bekannt, ob sich die Veranstalter von Chemnitz um andere Darbietungen bemüht haben. Ich weiß nicht, welche etablierten Künstler (außer den Toten Hosen) so spontan gekommen wären.
Dass ein solcher breitere Rahmen nicht stattgefunden hat, finde ich jedenfalls bedauerlich.

Organspende und Jens Spahn

Ich bin nicht gerade ein Fan von Jens Spahn. Die Art, in der er sich als Gegenfigur zur eher liberalen Merkel-CDU in Stellung gebracht hat, war mir nicht sympathisch. Ich verfolge aber mit Interesse seine Bemühungen, sich im schwierigen Gelände des Gesundheits-Dschungels zurechtzufinden und erste Zeichen (z.B. bei der Pflege) zu setzen.

Seinen Vorstoß für eine Neuregelung der rechtlichen Bedingungen für Organspenden finde ich mutig und begrüßenswert. Hier setzt sich offenbar jemand für ein Thema ein, das dringend eine sachgerechte Lösung benötigt, bei dem man sich aber nicht nur Freunde macht. Das Thema ist kontrovers und wird hoch-emotional diskutiert.

Meine Meinung zu diesem Thema war schon immer eindeutig: Die Möglichkeit, durch Organtransplantationen Leiden zu vermindern und Leben zu retten wiegen eindeutig schwerer als alle vorstellbaren Bedenken.

Ich will an dieser Stelle nicht die gesamte inhaltliche Diskussion wiedergeben; das kann man bei Bedarf überall nachlesen. Es geht mir um die Gewichtung.
Es gab in dem Transplantations-System ganz offensichtlich Schwächen, Fehler, Missbrauch und sogar kriminelle Machenschaften. So wie übrigens überall in der Medizin und der Psychotherapie, der Pädagogik, der ….
Auch steht ohne Zweifel fest, dass man bei Fragen um Leben und Tod etwas genauer hinschauen möchte und keine Hau-Ruck-Lösungen akzeptiert.
Aber all das ist zu vernachlässigen gegenüber der realen und konkreten Chance, Tausende von Leben zu retten, jedes Jahr.

Vielleicht sollte man sich mal zum Vergleich kurz daran vor Augen führen, wie viel uns offenbar einzelne Menschenleben wert sind, wenn ein paar Jungs in einer thailändischen Höhle eingeschlossen sind, ein Terrorist in Barcelona in eine Menschengruppe rast oder ein Mann in Chemnitz von zwei Ausländern ermordet wird.
Ich will das nicht kritisieren oder relativieren – aus meiner Sicht kann man einem einzelnen Menschenleben gar nicht genug Bedeutung beimessen.
Ich frage nur: Warum kann man nicht mit einem ähnlichen Mitgefühl und einer vergleichbaren Prioritätensetzung einen Rahmen dafür schaffen, Menschen eine Chance auf Weiterleben zu geben, die nichts anderes benötigen als ein Organ eines Toten?

Wer sich aus religiösen oder sonstigen Gründen – z.B. weil er sich nicht der Definition des “Hirntodes” ausliefern will oder das Prinzip der Selbstbestimmung bis in Tod zelebrieren möchte  – dieser menschlichen Solidarität verweigern will, der wird ja das Recht dazu haben (ob er trotzdem als Empfänger für ein Spenderorgan in Frage kommen sollte, könnte man diskutieren).
Aber unsere Gesellschaft darf und müsste doch ein Interesse daran haben, es als “Normalfall” zu betrachten, dass Organe genutzt werden dürfen – unter all den vorgeschlagenen Rahmenbedingungen.

Es geht wohl letztlich – ähnlich wie bei dem Thema des Sozialen Pflichtjahres – um das Verhältnis zwischen der Freiheit des Individuums und den Interessen der Gemeinschaft, in der und durch die der Einzelne erst all diese Möglichkeiten und Privilegien erwerben und entfalten konnte, die er dann oft so selbstgewiss gegen jeden Anspruch auf Solidarität verteidigen will.

Für diese Zusammenhänge (wieder?) ein stärkeres Empfinden zu entwickeln, sehe ich als eine der dringendsten Aufgaben der nächsten Jahre an. Auch für die Hass- und Wutbürger, die in unserem System nur noch als eine Ansammlung von Ausbeutung und Bösartigkeit sehen können.

Herrn Spahn wünsche ich jedenfalls  in dieser Sache viel Erfolg und wünsche mir mehr Politiker, die sich zugunsten des Gemeinwohls auch mal aus der Deckung wagen.

“Wir sind nicht wir” von Matthew THOMAS

900 Seiten Amerika, also Mittelschicht-Ostküsten-USA. Die richtige Dröhnung für 10 Tage Urlaub, in dem die Hitze kaum andere Aktivitäten zuließ.

Ich habe schon immer gerne amerikanische Romane gelesen. Das hat weniger damit zu tun, dass ich jemals ein kritikloser Amerika-Fan gewesen wäre. Aber ich fand es spannend, diese Kultur, diesen wichtigen Teil der Welt, zu verstehen. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der die USA so etwas wie die Leitkultur für West-Europa war. Der Rest der Welt, insbesondere Asien,  war noch nicht so sichtbar und bedeutungsvoll. Was in Amerika passierte, schien unsere eigene Zukunft vorwegzunehmen.
Meine erste richtig große Reise führte mich 1975 quer durch die Staaten. Auch das hat vielleicht mein Interesse an diesem Land nachhaltig geprägt.

Soweit die Vorrede; jetzt zum Buch.

Es steckt viel typisches weißes Amerika in diesen 900 Seiten: der Kampf um den Wohlstand, die Bedeutung des passenden Hauses, die Sorge um die richtige Ausbildung der Kinder, Baseball, College, Kirchgänge, Familienrituale, usw.

Das alles bildet aber nur den detailreich beschriebenen Hintergrund für die eigentliche Geschichte. Es ist die Geschichte einer Krankheit, die das Leben einer Familie über viele Jahre bestimmt. Die Krankheit heißt Alzheimer.

Dass diese heimtückische Krankheit im Gehirn des Vaters vor sich hin wütet, bleibt dem Leser über viele Kapitel verborgen. Genauso wie es sich für die Familie darstellt. Vielleicht ahnt es der Leser etwas früher als die Ehefrau und der Sohn. Wann es der Betroffene selbst ahnt, erfährt man nie.

Was dem Autor gelingt: Er schreibt einen Roman über Amerika, der auch ohne das Thema „Alzheimer“ ein tolles Portrait einer bestimmten Art amerikanischen Lebens gewesen wäre – und er schreibt einen Roman über Alzheimer, der auch ohne die kulturellen Bezüge ein beeindruckendes Protokoll eines allmählich fortschreitenden Persönlichkeitszerfalls gewesen wäre.
Der Autor hat also eigentlich zwei Bücher in einem geschrieben.

Über die sprachlichen und schriftstellerischen Fähigkeiten von Matthew Thomas könnte man sicherlich viel schreiben. Man findet – besonders im ersten Teil – Sätze, die man am liebsten ausschneiden möchte (okay, heute fotografiert man sie mit dem Smartphone).

Einen solchen Mammut-Roman ganz ohne Längen zu schreiben, ist vermutlich unmöglich. Ich hatte nur ganz selten das Gefühl, dass es jetzt ist des Guten zu viel wäre. Ich bin sicher, dass die Ausführlichkeit und die Redundanz einiger Schilderungen ein gewolltes Stilmittel sind, um ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie sich das Leben mit dieser Krankheit tatsächlich auch anfühlt – eben in gewisser Weise auch spiralenförmig endlos…

Insgesamt ein tolles Leseerlebnis – wenn man an einem der beiden Thematiken interessiert ist und sich die Zeit nicht gerade irgendwo abknapsen muss.

“Vor dem Denken” von John BARGH

Dieses Buch, bei dem als Untertitel auch der überfrachtete Begriff “das Unbewusste” auftaucht, ist eine Mischung zwischen sozialpsychologischem Fachbuch und einer populärwissenschaftlichen Abhandlung. Es ist ein Fachbuch, weil viele Untersuchungen präsentiert und in einen theoretischen Rahmen eingebunden werden; es ist populärwissenschaftlich, weil es locker und leicht aufbereitet ist, den “normalen” Leser nicht überfordert und Bezüge zu dem persönlichen und wissenschaftlichen Lebensweg des Autors aufweist.

Worum geht es?
Der Autor nimmt sich einiges vor, er legt die Messlatte ziemlich hoch. Er will nicht weniger präsentieren als ein in sich stimmiges Modell über die Bedeutung der “nicht-bewussten” Prozesse auf das menschliche Verhalten. Er scheut sich nicht, in diesem Zusammenhang auch den Aspekt der Willensfreiheit mit zu behandeln und auch Hinweise auf den eigenen Alltag und  auf erweiterte Möglichkeiten der Selbstbestimmung des eigenen Handelns anzubieten.

Für jemanden wie mich, der sich den Grenzen der “autonomen Selbstbestimmung” bzw. der “Willensfreiheit” sowohl philosophisch als auch neurowissenschaftlich schon ein wenig genähert hat, bietet der Zugang von BARGH tatsächlich eine Überraschung. Der Autor ist ein reinrassiger Sozialpsychologe und betrachtet das gesamt Themenspektrum aus dieser Perspektive. Darauf muss man erstmal kommen!
Das bedeutet konkret, dass er jede Menge sozialpsychologische Untersuchungen anführt, in denen nachgewiesen wird, dass bestimmte Erfahrungen, Reize oder Informationen Auswirkungen auf Bewertungen, Entscheidungen oder Verhalten haben, die Versuchspersonen danach zeigen. Und zwar – und das ist der Clou – ohne dass sie sich dieser Einflussfaktoren bewusst sind. Sie denken also subjektiv, dass sie “eigene” Entscheidungen/Meinungen usw. ausdrücken (auf rein rationaler Grundlage), tun dies aber ganz offensichtlich nicht unbeeinflusst von den zuvor “angestoßenen” Konzepten/Themen/Vorurteilen.
Zusätzlich macht er facettenreich deutlich, wie hilfreich vorbewusste, im Hintergrund laufende innere Prozesse bei der Lösung komplexer Probleme sein können.

Das ist alles recht interessant und überwiegend auch sehr einleuchtend und es erweitert sicher auch die grundsätzlichen Diskussionen über das Ausmaß der viel beschworenen Autonomie des ICHs. Trotzdem hinterlässt das Buch auf einigen Ebenen einen etwas zwiespältigen Eindruck:

  • Etwas störend ist der immer wieder spürbare Alleinstellungsanspruch des  – eigentlich sehr sympathisch rüberkommenden – Autors: Es gibt kaum Bezüge zu Nachbardisziplinen. Man hat ein wenig den Eindruck, er bewegt sich in einem abgeschlossenen Terrain und die Sozialpsychologie sei die einzige relevante Wissenschaft, die zum Thema etwas zu sagen hätte.
    Ein extremes Beispiel dafür ist sein Vorschlag, sein eigenes Verhalten durch eine geplante Manipulation der eigenen Umgebung besser im gewünschten Sinne zu steuern (ganz platt: wer weniger Alkohol trinken will, hat am besten keine gut sortierte Hausbar). Man erfährt in diesem Buch jedoch nicht, dass die Selbststeuerung durch “Stimulus-Kontrolle” eine seit Jahrzehnten praktizierte verhaltenstherapeutische Technik ist.
  • Das Buch ist – wie gesagt – gut lesbar und die großen Zusammenhänge werden immer wieder aufgegriffen. Das ist vielleicht didaktisch sinnvoll, führt aber doch zu einer ziemlichen Redundanz. Bestimmte Formulierungen kann man irgendwann mit zusammen mit dem Autor auswendig herbeten..
  • Der gute Professor BARGH ist ein netter Typ. Er hat früher Rock-Musik gehört und auch selbst im Lokalradio Patten aufgelegt. Offensichtlichist war er auch ein engagierter Vater und hat sich voller Enthusiasmus seinem Beruf gewidmet, der sicher auch seine Berufung war. Er feiert mit diesem Buch auch ein wenig sich selbst und sein Lebensweg. Das ist alles nicht schlimm – es sei denn, man wäre etwas sensibel im Bereich Selbstverliebtheit…

Und die Bilanz:
Ein anregendes Buch. Durchaus lohnenswert.
Aber es steht sehr für sich allein. Es betrachtet ein riesiges Thema aus einer speziellen Perspektive – so als ob es die anderen Zugänge nicht gäbe.
Damit bietet es nicht eine Gesamtsicht über all die Prozesse, die vor und neben dem bewussten Denken stattfinden, sondern den Ausschnitt, der sich durch den ganz persönlichen Forschungsweg des Autors aufgetan hat.
Wenn man das weiß und so auch  – vielleicht zur Ergänzung anderer Aspekte – will, dann ist das Buch eine gute Wahl.

“Die Mitte der Welt” von Andreas STEINHÖFEL

Der Auto schreibt Kinder- und Jugendbücher. Erzählt wird hier die Geschichte eines jugendlichen Homosexuellen.
Ist damit alles Wesentliche gesagt?
Nein. Nicht mal in Ansätzen!

Es handelt sich weder um ein Buch speziell für Jugendliche noch um ein typisches Buch über das “coming-out” eines schwulen Jungen.
STEINHÖVEL hat ein Buch über das Leben und die Liebe geschrieben. Eines der besten Bücher, das ich je gelesen habe.

Ja, die meisten Hauptfiguren sind Jugendliche. Ein Geschwister-Paar (davon ist der Junge der Ich-Erzähler) und zwei bis drei wesentliche Peers aus ihrem Umfeld. Dazu kommt die – allein lebende und extrem nonkonformistische – Mutter und zwei ihrer Freundinnen. Und dann gibt es noch ein paar Männer. Viele unwichtige – denn die Mutter hat einen beträchtlichen Verschleiß – und wenige wichtige.

Der Drive der Geschichte speist sich aus mehreren fast gleichberechtigten Quellen: Der Familiendynamik zwischen den Geschwistern und ihrer – meist so unmütterlichen – Mutter, dem Outsider-Status dieser Familie in einem schlossähnlichen Gebäude außerhalb eines bürgerlichen Städtchens, der platonischen Freundschaft des Erzählers zu einer Mitschülerin und seine erste Beziehung zu einem besonderen Jungen, um dessen Liebe er so sehr kämpft. Nahe dabei ist noch ein lesbisches Pärchen und im Hintergrund lauert ein unbekannter Vater irgendwo in Amerika.

Aber was sagt schon die Aufzählung der beteiligten Figuren?! Diese Figuren werden vom Autor in einer meisterhaften Form zum Leben erweckt. Diese Figuren haben Ecken und Kanten, sind alles andere als vorhersehbare Durchschnitts-Personen. Sie sind sicher in bestimmten Aspekten überzeichnet, sind alle auf der Suche, sind verletzlich und verletzend und sind doch deshalb – und gerade deshalb – so unglaublich menschlich.

Die Suche nach “wirklicher” Liebe, nach wahrhaft intimer Begegnung, ist wohl das zentrale Thema dieses Entwicklungs-Romans. Diese Suche ist in den scheinbar wahllosen Affären der Mutter ebenso zu erahnen, wie in dem Kampf  der Schwester um mütterliche Liebe und in dem verzweifelten Versuch des Protagonisten, bei seinem vergötterten Traum-Jungen neben der körperlichen auch die emotionale Vereinigung zu finden.
Eine Botschaft dabei: Es ist schwer, jemanden zu lieben, der sich als Person nicht voll und ganz einlassen kann oder will. So jemand kann zwar als Projektionsfläche für Sehnsüchte und Begehren dienen, kann zum Sexualpartner werden – aber eine erfüllte und erfüllende ganzheitliche Begegnung ist letztlich unmöglich.

Es geht in diesem Buch auch um Aufbrüche:  ins Erwachsensein, in die eigene Identität, in die weite Welt.

Dieses Buch ist alles andere als platt pädagogisch. Seine Lebensweisheiten werden  – und das macht die Kunst aus – nebenher und indirekt vermittelt. Durch die emotionale Identifikation mit den Akteuren und ihren Geschichten.

Man liest dieses Buch einfach gerne. Es ist unterhaltsam, anrührend und spricht viele Kernthemen des Menschwerdens und Menschseins nachvollziehbar und intelligent an.
Der Autor ermutigt seine Leser, zu ihren ureigensten Zielen und Sehnsüchten zu stehen – auch wenn das bzgl. der gesellschaftlichen Bewertung vielleicht einen hohen Preis hat. Umwege sind erlaubt, Scheitern ist erlaubt. Nur nicht aufhören, das Leben und die Liebe zu suchen!

(Das Buch ist übrigens 20 Jahre alt. Es ist zeitlos!)

“Liebe Sachsen” von SILVIA

Liebe Sachsen,

dies ist ein Brief an Euch, die wir uns nicht kennen und er entspringt meinem Bedürfnis verstehen zu wollen, was in eurem doch so wunderschönen Bundesland passiert.

Aber ich beginne von vorne. Elf Jahre habe ich im Ausland gelebt und nun beschlossen, wieder zurück nach Deutschland zu gehen. Meine Wahl  fiel auf Sachsen. Vor einigen Tagen, ich befand mich auf einem Grillfest von deutschen Einwanderern, kam nun dieser, mein  Wunsch und meine Planung in der gutgelaunten und fröhlichen, Würstchen verspeisenden Runde, zur Sprache. Die Reaktion der Anwesenden verschlug mir erstmal dieselbe. „Wie kannst du dahin ziehen wollen, da leben doch die Rechten, die Faschos.“ war einer der nettesten Kommentare, weil er zumindest die Möglichkeit beinhaltete zu antworten. Ihnen zu erzählen, dass mich mit Sachsen nicht nur die Tatsache verbindet, dass meine Kinder dort ein zuhause gefunden haben und dass ich als Jugendliche aus dem Westen viele Reisen in dieses Bundesland machen durfte und es mir vertraut scheint.

All dies fand  kein Gehör, mit dem die Skepsis und die Ablehnung meiner Zuhörer überwunden werden konnten.

Oh ja, die Ossis und die Wessis. Ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern, als ich gebannt vor dem Fernseher saß, die Berichterstattung über die Öffnung der Grenze verfolgte und dann wie viele andere auf den Marktplatz von Lübeck eilte, auf dem sich schon eine ungemein große Zahl von Menschen versammelt hatten. Menschen aus dem Osten und Menschen aus dem Westen. Deutschland war wieder vereint. Ich kann mich aber auch sehr gut daran erinnern, wie ich Tage später skeptisch den Versprechungen lauschte, in denen Herr Kohl blühende Landschaften versprach, wie ich fassungslos miterlebte, dass die Menschen, die in Massen in Lübeck anscheinend völlig  berauscht vor den Läden standen, die Markenjeans für unsere „Brüder und Schwestern aus den alten Bundesländern“ zu Spottpreisen anboten und sie dann in einen Kaufrausch verfielen. Für mich gab es einiges, das sie aus ihrem bisherigen Leben stolz hätten präsentieren können. Aber das taten sie nicht. Der Westen versprach das Paradies, der Osten übergab sich und seine bisherigen Werte ohne Wenn und Aber den Versprechen aus dem Westfernsehen.

Leise Zweifel überkamen mich, schon damals. Diese friedliche Revolution. Warum  hatte sie stattgefunden? Reisefreiheit, keine Bespitzelungen mehr, keine Unterdrückung durch eine festgefahrene, verrostete, sozialistische Führungsriege, die Gedankenfreiheit einschränkte und vorgab, was richtig oder falsch war. Und jetzt? Waren meine Zweifel berechtigt? Ging es nicht wirklich darum eine Demokratie leben zu wollen, Eigenverantwortung zu übernehmen und als freier Staatsbürger nicht mehr alleine Die Politiker für das eigene Leben in die Pflicht zu nehmen.

Sachsen war einmal ein Land, das lange vor unserer Gegenwart  Fremden erfolgreich ermöglichte, sich zu integrieren, es war ein tolerantes Land, in dem sich Kultur und Kunst frei entfalten konnten. Lange vor unserer Zeit, das stimmt. Wie kann es sein, dass gerade in Sachsen so viele Menschen leben, die anscheinend wissen, wogegen sie kämpfen, aber nicht wissen, wie sich Hass in der Sprache und in den Gedanken verselbständig. Er wird zum Aushängeschild für eine Welt wird, in der man nicht mehr kritisch betrachten kann, wer man ist, sondern nur noch darüber spricht, wen man ausgrenzt und wen man verachtet.

Ich glaube zu verstehen, dass Ihr  Euch verraten fühlt. So viele Versprechungen und so viel Ernüchterung. Was bleibt, ist der Blick in die Vergangenheit, in der, ähnlich wie heute, die „Mächtigen“ Eure Gegner waren, Ihr aber eingebettet in einen menschlichen Zusammenhalt Euch geborgen fühlen konntet. Später dann musstet Ihr erfahren, dass dieses Gefühl in der Gemeinschaft oft auf einer Lüge aufgebaut war, aber die Sehnsucht danach ist geblieben. Welche Heimat wünscht Ihr Euch? Ich bin stolz auf dieses Land Deutschland. Vergleiche ich es mit anderen Ländern, so erlebe ich, dass es uns in Deutschland gelungen ist, aus der Vergangenheit zu lernen und wir das Wissen um die Zerbrechlichkeit von Frieden und Rechtsstaatlichkeit genutzt haben, eine funktionierende Demokratie aufzubauen. Das war nicht leicht und ist weiterhin eine Herausforderung, wenn wir diese erhalten wollen. Wenn ich nun lese, dass die AFD bei er nächsten Wahl die stärkste Kraft in Sachsen werden könnte, fällt es mir zum einen schwer, dem Vorwurf, dass „die Sachsen“ Menschen mit rechtsradikalen, ja faschistischen Gedanken und Zielen sind, zu widersprechen, zum anderen kann und mag ich nicht glauben, dass „Wir sind das Volk“ bedeutet, dass Ihr Euch erneut einem System von Ausgrenzung, Intoleranz und Verachtung unterordnen wollt.

Gut oder Böse als Maßstab für Entscheidungen? Emotionen statt Sachwissen? Wisst Ihr, dass Mitglieder dieser Partei am 26.Juni dieses Jahres Journalisten, die vom Kyffhäusertreffen berichten wollten, als „Bazille, „dreckige Fotze“ beschimpft haben? (Artikel von Boris Rosenkranz) Dies ist nur ein Beispiel von vielen, in denen man doch wahrlich ins Grübeln kommen könnte, wem man da vertraut.

Liebe Sachsen, ich möchte weiterhin in Euer schönes Bundesland ziehen. Ich bin überzeugt davon, dass unabhängig von dem prognostizierten Wahlergebnis den größten Teil der Menschen die Sehnsucht nach einem friedlichen Miteinander vereint. Und daher freue mich darauf, auf der Straße, in den Kneipen und beim Metzger über notwendige Verbesserungen  und die Gestaltung unserer Welt zu diskutieren. Für uns und unsere Kinder.

“Fräulein E.” von SILVIA

Fräulein E.

Vor einiger Zeit begann ich damit, meine Habseligkeiten darauf zu überprüfen, ob sie im Falle meines Ablebens für die Nachwelt von Interesse sein könnten. Mit kritischem Blick durchforstete ich meine geliebten Staubfänger. Was würde wohl mit meinem kleinen Holzelefanten passieren, der ohne Stoßzähne, aber innig geliebt, für das Glück in meinem Universum sorgt. Diese Frage kann ich mir durchaus realistisch, aber mit Bauchgrimmen, beantworten. Er würde in einem Müllsack landen und verzweifelt darüber nachsinnen, ob er seiner Aufgabe nicht gerecht wurde. Da dies Ereignis ihn nach meinem Ablehnen treffen wird, könnte man etwas zynisch sagen, dass er tatsächlich versagt hat und sein Schicksal somit durchaus verdient hat. Vielleicht sollte ich aber fürsorglicher Weise, ihm bereits zuvor ein angemessenes Begräbnis zukommen lassen?
Sie fragen sich nun, wie man auf derartige schräge Gedanken kommen kann und diese nun auch noch zu Papier bringt. Dass mir derartige Überlegungen nicht fremd sind, könnte ich zu einem späteren Zeitpunkt noch aufklären, dass ich nun darüber schreibe, hat etwas mit einem mich berührenden Ereignis am gestrigen Vormittag zu tun.
Auf einem Flohmarkt erstand ich eine braune Wildledermappe. Der Betrag von nur einem Euro, den ich dafür hinterlassen musste, gab mir das Gefühl, mal wieder meine Schnäppchenseele liebevoll gestreichelt zu haben. Kurze Zeit später, genussvoll einen Kaffee schlürfend, öffnete ich diese Mappe und fand zu meiner Überraschung sorgfältig sortierte Papiere eines gewissen Fräuleins Karin E. aus den 60iger Jahren. Sie hatte sich als Fremdsprachensekretärin beworben, die Stelle bekommen, Karriere gemacht und dann, mit einem hervorragend Zeugnis bedacht, gekündigt. Das alles geschah in Frankfurt, ich aber saß mit diesen Unterlagen nun in Spanien in einer Bar. Welch eine merkwürdige Begegnung mit einem mir fremden Menschen, dachte ich, und Ratlosigkeit bemächtigte sich meiner Gedanken und meiner Fantasien.
Um diese, meine Fantasie, in geordnete Bahnen zu lenken, begann ich dem Fräulein E. eine Geschichte zuzuordnen. Die Tatsache, dass nun diese Dokumentenmappe vor mir lag und das Geburtsdatum von Fräulein E. ließen mich vermuten, dass diese gestorben sei. Wie aber kamen die Unterlagen von Frankfurt nach Spanien auf einen Flohmarkt? Sie war Fremdsprachensekretärin. Vielleicht war sie ausgewandert? Fräulein E. hatte gekündigt, als sie 28 Jahre alt war. Jetzt war ich sicher, sie hatte sich verliebt und geheiratet. Vielleicht einen Spanier? Abgesehen von diesen fantastischen Spielereien hatte ich eindeutig das Problem, dass ich bei der Vorstellung, die Papiere in einem Müllcontainer zu entsorgen, einen deutlichen Widerwillen verspürte. Nachdenklich packte ich erstmal alles zu meinen sonstigen Flohmarktschätzen und fuhr später gemeinsam mit Fräulein E. nachhause.
Sorgfältig legte ich die Hinterlassenschaft meiner neuen Bekannten neben den Computer in die Ablage, als mir der Gedanke kam, dass mir die ach so moderne Technik ja die Möglichkeit eröffnete, ganz distanzlos auf die Suche nach ihr zu gehen. Und siehe da, ich fand diesen Menschen, mit dem mich mittlerweile eine irrationale Beziehung verband. Sie war tatsächlich gestorben. Karin, bei unserem Vertrautheitsgrad nahm ich mir ungefragt das Recht heraus, ihr das Du anzubieten, hatte in Meran gelebt. Sie war verheiratet, hatte Kinder und Enkelkinder und gemeinsam mit ihrem Mann besaß sie eine Pension. Auch ein Foto fand ich und konnte nun dem Namen ein Gesicht zuordnen. Darauf wirkte Karin freundlich, gut frisiert und zufrieden.
Während der Betrachtung meldeten sich erste, leise Zweifel. Sie nun seelentechnisch in meiner eher unordentlichen und chaotischen Welt zu beherbergen, könnte durchaus konfliktreich für uns sein. Zu meinem Chaos gehört jedoch eine gewisse Portion Toleranz. Ihr zu Liebe würde ich nun meinen Schreibtisch aufräumen. Das tat ich. Als mir dabei mein kleiner Glückselefant ohne Stoßzähne in die Hände  fiel, staubte ich ihn liebevoll ab und erklärte ihm, dass ich ihn auf keinen Fall zu Lebzeiten entsorgen würde. Aber ich hoffe, dass ihm ein Schicksal bestimmt sein wird, das seinen Taten entspricht. Er könnte mir zum Beispiel zu einer guten Eingebung verhelfen, wie ich mich respektvoll und ohne Karin zu verärgern, von ihr verabschieden kann. Noch warte ich auf eine Antwort, aber ich bin sicher, er wird sie mir geben.

“Wie man die Zeit anhält” von Matt HAIG

Autoren überlegen sich immer wieder neue Rahmenhandlungen, um durch Eröffnung einer neuen, ungewohnten Perspektive den Fokus auf menschliche Grundthemen zu lenken. Sie tun das mit der Hoffnung, dass der “andere” Blick Aspekte ins Bewusstsein rückt, die sonst im Grundrauschen der Alltäglichkeit untergehen könnten.
Science-Fiction-Romane bieten oft so eine Außen-Perspektive: Aus der Sicht galaktischer Dimensionen oder gar fremder Intelligenzen werden vermeintliche menschliche Alternativlosigkeiten plötzlich in ihrer Absurdität entlarvt.

HAIG setzt diesmal kein Alien ein, um unseren Blick für das Wesentliche zu schärfen. Er spendiert uns einen wahren  “Zeit-Zeugen”, um uns das Thema Zeit in seiner existentiellen Breite nahe zu bringen.

Es gibt – so die Grundidee des Romans – ein paar Menschen auf der Welt, die zwar nicht unsterblich sind, aber mehr als die zehnfache Lebenserwartung haben wie wir Normalos (im Buch “Eintagsfliegen” genannt). Unser Ich-Erzähler ist einer dieser Auserwählten und er lässt uns sehr intim teilhaben an den besonderen Erfahrungen, die so ein Dasein mit sich bringen kann.

Zunächst mal ist es nämlich ein ziemlicher Stress, wenn man – inmitten von Kurz-Lebern – sich so unübersehbar dem Alterungsprozess entzieht (los geht es mit der Abweichung praktischer Weise erst in der Pubertät). Die Menschen mögen nämlich keine befremdlichen Ausnahmen – sie vermuten schnell Hexen und Teufel am Werk. Dazu kommt die persönliche Tragik, wenn auch geliebte Menschen in einem so völlig asynchronen Tempo altern.
Es gibt aber auch noch zusätzliche Gegenspieler und Verstrickungen, die noch ein wenig Spannungs-Würze ins Geschehen bringen.

Welche Erkenntnisse liefert uns der Autor mit Hilfe des durch die Jahrhunderte gleitenden Protagonisten?

  • Eine dramatisch verlängerte Lebensspanne macht das Dasein nicht automatisch reicher oder erfüllter
  • Das “eigentliche” Leben spielt sich nur in der Gegenwart ab
  • Einzelne Momente – z.B. in einer erfüllenden Begegnung mit einem geliebten Menschen – können alle objektiven Zeitabläufe außer Kraft setzen und sozusagen die Ewigkeit in sich tragen
  • Das Erkennen von geschichtlichen Zusammenhängen ist eine wichtige Erkenntnisquelle, die viel zu wenig genutzt wird
  • Das Befassen mit Geschichte kann darüber hinaus einfach auch Spaß machen
  • Im Einklang mit seinem wahren Wesen zu leben – ohne eine vermeintlich schützende Fassade – ist selbst dann die bessere Alternative, wenn damit Risiken verbunden sind
  • Es gibt nichts Wichtigeres als die Liebe

Das Ganze ist niveauvoll und unterhaltsam erzählt. Auch ein Spannungsbogen wird aufgespannt, dessen Auflösung ganz akzeptabel ist.
Und es ist eine witzige und originelle Idee, bei dem Rutsch durch die Jahrhunderte ein paar geschichtlichen Figuren persönlich zu begegnen.

Ein tolles Buch von einem begnadeten Erzähler, der sich wiederum als echter Menschenfreund erweist.

Was passiert gerade in und mit unserem Land?

Man traut seinen Augen und Ohren nicht!

Auf einmal steht alles zur Disposition: Die mühsam gebildete Regierung, die gewohnt Parteien-Landschaft, die politische Stabilität in unserem vermeintlichen Muster-Land.
Welches Unheil ist über uns hereingebrochen?  Ein kriegerischer Akt mitten in Europa? Eine Seuche ohne Gegenmittel? Eine Naturkatastrophe ungeahnten Ausmaßes?

Nein!
Die CSU will ein gutes Wahlergebnis in Bayern. Und dafür pokert sie mit einem unglaublich hohen Einsatz und nimmt dabei Kollateralschäden in Kauf, die kaum abzuschätzen sind.

Wann ist zuletzt vergleichbar verantwortungslos mit unserem Gemeinwesen umgegangen worden? Ich kenne die Antwort nicht – obwohl ich nun inzwischen weit  über 40 Jahre einigermaßen bewusst die politische Entwicklung verfolge.

Ich bin der letzte, der behaupten würde, dass bzgl. des Asyl- und Flüchtlingsproblems keinen Handlungsbedarf gäbe. Ich würde sogar soweit gehen, dass auch manche Postionen der CSU mit einer gewissen Logik behaftet sind.
Aber es besteht in keinster Weise eine akute Not- oder Ausnahmesituation, die es rechtfertigen würde, mutwillig eine Regierungskrise, mögliche Neuwahlen mit unkalkulierbaren Ergebnissen und eine dramatische Schwächung der deutschen Rolle in Europa herbeizuführen  – oder auch nur damit so unverfroren zu drohen.

Wir müssen im Moment zuschauen, wie man mit Dingen spielt, um die uns viele Menschen in Europa und weltweit beneiden. Es werden leichtfertig Berechenbarkeit und Stabilität unseres Landes als Zocker-Einsatz benutzt.
Wir sollten uns merken, wer das tut.
Es sind jedenfalls nicht die oft zitierten linken oder grünen Spinner!

 

Asyl- und Flüchtlingspolitik im Sommer 2018

Man hatte geglaubt, dass nach Wahlkampf und Regierungs-Bildungs-Marathon ein wenig Ruhe in dieses Thema kommt. Jetzt kocht es wieder hoch – so hoch, dass einige Beobachter heute von einer Regierungskrise sprechen. Zumindest aber von einem einzigartigen Showdown zwischen Merkel und Seehofer.

Mich interessiert hier nicht der parteipolitische Aspekt. Natürlich geht es um die Bayern-Wahl und die potentiellen AfD-Wähler. Mich interessiert das Grundsätzliche: Warum treibt die Leute das Thema so um, dass darauf riesige politische Suppen gekocht werden können?

Es geht hier um ein vermintes Gelände. Man kann schnell auf die falsche Seite geraten; vernichtende Urteile sind rasch gefällt. Man verteidigt schließlich  Prinzipien und heere Grundsätze, die emotional verankert sind.
Deshalb eine Vorbemerkung: Ich bin ein solidarischer und mitfühlender Mensch. Ich möchte, dass die reichen Länder dieser Welt erheblich mehr Verantwortung für die Krisen und Nöte auf diesem Planeten übernehmen. Ich bin dafür, dass dafür auch Reichtum und Wohlstand umverteilt wird. Ich bin Lichtjahre entfernt von einem “Deutschland zuerst”. Ich will, dass Menschen in akuter Not so gut wie möglich geholfen wird.
Auf dieser Basis bitte ich die folgenden Ausführungen zu bewerten.

Was ich merke, ist eine zunehmende Diskrepanz zwischen idealistischen Maximalforderungen und ausgeklügelten formaljuristischen Regelungen auf der einen Seite und dem Gerechtigkeitsempfinden bzw. dem “gesunden Menschenverstand” von normalen Menschen auf der anderen Seite.
Auf Unverständnis stoßen z.B. Regelungen und Diskussionen zu folgenden Punkten:

  • Warum muss eine Nothilfe für drangsalierte Menschen darin bestehen, dass man diese gleich möglichst vollständig und perspektivisch dauerhaft in eine weit entfernte, unbekannte und sehr viel wohlhabendere Gesellschaft integriert?
  • Warum wird zunächst so getan, als ob man die Hilfestellung für eine unbegrenzte Anzahl von Menschen leisten könnte – wo sich doch jeder ausrechnen kann, dass nicht alle in Frage kommenden Anwärter auf diesem chaotischen Planeten  in unser Land passen würden?
  • Warum werden nahezu alle Versuche, Abläufe und Verfahrensweisen zu vereinfachen und damit handhabbarer zu machen, mit allen Verästelungen des deutschen Rechtssystems zu verhindern versucht? Ist es nicht z.B. tatsächlich völlig absurd, bei der Klärung der Herkunft von Menschen, die ihre behauptete Herkunft nicht nachweisen können, das Auslesen ihrer Handys aus Datenschutzgründen zu verbieten?

Das soll reichen. Es geht mir nicht um die Einzelfragen. Ich möchte mich den Grundwidersprüchen nähern. Weil in diesen Widersprüchen die Antwort darauf lauert, warum die Asyl- und Flüchtlingsfrage unser Land spaltet.
Zwei Beispiele:

Grundwiderspruch I:
Während wir auf der einen Seite permanent so tun, als ginge uns der Rest der Welt kaum etwas an, wenden wir auf die paar Menschen, die es bis nach Deutschland geschafft haben die volle Wucht des deutschen Systems an. Mit allen Detailregelungen und rechtlichen Finessen.
Statt mit Hilfe eines gerechteren Handelssystems oder einer massiven Ausweitung von Entwicklungsprojekten die Lebensgrundlage von Millionen Menschen in ihrer Heimat zu verbessern, stellen wir für diejenigen, die sich durchgeschlagen haben (sicher oft nicht die Ärmsten und Schwächsten) zuhauf Lehrer und Sozialarbeiter und Sicherheitskräfte ein.

Grundwiderspruch II:
Weil wir dann irgendwann merken, dass wir das Problem mengenmäßig nicht in den Griff bekommen, sourcen wir die unschönen Begrenzungsmaßnahmen aus, damit wir hier vor Ort den Schein der Prinzipientreue und Rechtsstaatlichkeit wahren können. So werden auf der einen Seite  – letztlich auch in unserem Auftrag – Menschen unter unwürdigsten Bedingungen an der Weiterflucht gehindert, während sich im “perfekten” Deutschland Hunderttausende Verwaltungsgerichtsverfahren türmen und alle möglichen Ausnahmegründe dafür sorgen, dass auch abgelehnte Bewerber nicht abgeschoben werden können.

Natürlich habe ich keine fertigen Lösung für diese und andere Widersprüche. Ich glaube nur, dass es gut wäre, sie ohne die bisherigen Tabus und Denkverbote zu diskutieren.
Warum ist das so schwierig?
Weil die Sachfragen längst für prinzipielle Auseinandersetzungen stehen!

Ein Gedankenspiel: Stellt euch vor, die unterschiedlichen Vorschläge zum Umgang mit Asylanten und Flüchtlingen würden völlig losgelöst von grundsätzlichen politischen Ausrichtungen ganz pragmatisch diskutiert. Man würde sich schlichtweg fragen, wie man mit  – gerne großzügig – eingesetzten Mitteln den größten Output erreicht, wie man falsche Anreize verhindert und sich für alle nachvollziehbar auf die Linderung der existenziellen Nöte (Leib und Leben) konzentriert.
Stellt euch vor, bestimmte Positionen würden dabei nicht von Gruppen vertreten, die sowieso ein unsolidarisches, nationalistisches und/oder fremdenfeindlich-rassistisches Weltbild vertreten. Und die Gegenposition würde nicht von Menschen vertreten, die sympathisch, mitfühlend, weltoffen und auf der Suche nach einer gerechteren Welt sind.
Würde man dann wirklich lange darüber diskutieren, ob Sachleistungen für Menschen, deren Überleben man sichern will, irgendwie diskriminierend oder gar menschenunwürdig sind? Müsste man darüber streiten, ob eine medizinische Feststellung des Lebensalters die Persönlichkeitsrechte von vermeintlich Minderjährigen verletzt?

Was ich sagen will: Wir graben uns in unseren Positionen fest, weil wir nicht wollen, dass die “anderen” sich durchsetzen. Wir wollen die Wut, die Intoleranz, den Hass der Rechten nicht. Also müssen wir uns vermeintlich auf die anderen Seite schlagen und fordern dann im Extremfall  “offene Grenzen für alle” – wie die Linken zuletzt. Da könnte man auch gleich Eintrittserklärungen für die AfD verteilen…

Wir haben ein schlechtes Gewissen angesichts der schreienden Ungerechtigkeiten der Welt, in der es uns so unglaublich gut geht; wir wollen die Guten sein – jetzt, wo die Hilfsbedürftigen auf einmal vor Ort sind. Das ist alles verständlich und legitim.
Es ist nur ein Problem, dass die Leute, die  – aus nachvollziehbaren Gründen – auf die Widersprüche, Grenzen und Risiken hinweisen, sich lange nur bei den Krakelern und Deutschtümlern gehört gefühlt haben. Offensichtlich nehmen viele irgendwann eher Hass und Gewaltbereitschaft in Kauf als sich weiter durch eine wohlmeinende Beschwichtigungsrhetorik einlullen zu lassen.

Wir müssen die “Vernünftigen” aus diesem inhumanen Milieu zurückholen. Wir müssen breit darüber diskutieren, welche “unverrückbaren” Prinzipien angesichts der Realitäten der Welt vielleicht auch aufgegeben werden müssen.
Vielleicht muss man in einer Welt, in der viele Millionen von Menschen formal einen Rechtsanspruch auf Asyl in Deutschland hätten, andere Formen der Solidarität und Menschlichkeit finden als genau diesen individuellen Rechtsanspruch in der jetzigen Ausgestaltung. Ich weiß es nicht. Ich frage nur.
(Bevor es jemand anmerkt: Ich kenne auch den geschichtlichen Hintergrund.)

Ich will nicht weniger tun, sondern mehr! Ich merke nur, dass wir uns im Klein-Klein verlieren. Ich glaube nicht daran, dass es ein großer Fortschritt sein wird, wenn jetzt nicht Seehofer sondern Merkel diesen aktuellen Machtkampf gewinnt (und ein paar Leute erstmal über die Grenzen gelassen werden, um dann nach einem rechtsstaatlichen Verfahren doch gehen zu müssen).

Wir müssen viel grundsätzlicher über unsere Ziele und die besten Methoden diskutieren. Wir sind ein reiches Land. Wir können deutlich mehr geben. Aber wie können nicht die ganze Welt retten.
Aber das, was wir tun, sollte effizient und nachhaltig sein – und nicht irgendeiner unrealistischen “reinen Lehre” dienen – mit dem Ergebnis, dass die AfD dann bald bundesweit über 20% kommt.