„Zeitenende“ von Harald WELZER

Vor ziemlich genau zwei Jahren hat Harald WELZER ein Buch über das „Aufhören“ geschrieben; er meint das damals durchaus auch persönlich. Wie wir inzwischen wissen, hat er das nicht lange durchgehalten – zu reizvoll ist für ihn offenbar die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs.
Unter dem originellen Titel „Zeitenende“ begibt sich der Autor mitten hinein in die aktuellen politischen Strudel – auf gewohnt selbstgewisse und provokante Art.
Dieses Buch zu bewerten, ist für mich eine schwierige Aufgabe: Am liebsten würde ich es in zwei Teilbücher aufsplitten und könnte dann zwei klare, sehr unterschiedliche Rezensionen schreiben.
Fangen wir mit dem „guten“ Buch an: WELZER ist in seinen Analysen hinsichtlich des Versagens in der Klimapolitik bestechend klar. Er entlarvt die Unfähigkeit der Politik, sich auf die wahren Herausforderungen zu fokussieren und sieht allenthalben ein geradezu neurotisches Festklammern an der Wachstumsideologie. Niemand habe den Mut, sich zu notwendigen Wohlstandsverlusten zu bekennen und den „mündigen“ Bürgern auch etwas zuzumuten. Auf allen Ebenen beschreibt der Autor das Versagen der Eliten – einschließlich der Medien. Man gewinnt als Leser/in den Eindruck, WELZER mahne beherzte Führung an – statt eine Politik, die überwiegend in parteipolitischen Scharmützeln mit sich selbst beschäftigt sei.
Zu den positiven Seiten des Buches gehören auch seine Aussagen zur Bildungssituation und die Darstellung kreativer Lösungsbeispiele in verschiedenen Bereichen (Energie, Bürgerbeteiligung, Bildung).
In vielen Einzelbetrachtungen findet WELZER passende knackige Formulierungen, die inzwischen eine Art Markenzeichen geworden sind. Da macht das Lesen dann auch Spaß.
Die nervige Seite des Buches hat viel damit zu tun, dass WELZER gerne als Sieger (möglichst als der Klügste) vom Platz geht. Er, der nach allen Regeln der Kunst auszuteilen vermag, möchte gar nicht gerne Kritik erfahren. So nutzt er dieses Buch – in unangemessener Ausführlichkeit – dazu, Angriffe auf das (gemeinsam mit PRECHT verfasste) Buch über die deutsche Medienwelt („Die vierte Gewalt“) abzuwehren.
Natürlich lässt es sich der Autor auch in diesem Zusammenhang nicht entgehen, in der Diskussion um den Ukraine-Krieg nochmal nachzulegen: Er entdeckt in Politik und Medien geradezu eine Kriegsbegeisterung und vermisst die öffentliche Darstellung der Gegenstimmen.
Zwar hat er zweifellos Recht, wenn er Krieg und Aufrüstung als zivilisatorischen Rückschritt und als auch ökologischen Wahnsinn brandmarkt – unklar bleibt allerdings mal wieder, wie man ernsthaft die Auslieferung der Ukraine an Putins Regime ohne Waffenhilfe hätte verhindern können.
Geradezu genüsslich weidet sich WELZER an der überkommenen Selbstüberschätzung des Westens gegenüber den neuen Mächten im Osten und Süden. So zeige gerade der Ukraine-Krieg, wie autonom und selbstbewusst Länder wie Indien, Brasilien oder Südafrika (von China gar nicht zu reden) ihre eigenen Interessen verträten – ohne sich weiter in die Fänge des (bisher) dominanten Westens zu begeben.
Irritierender Weise kann der leidenschaftliche Kriegsgegner WELZER, der die früheren Sündenfälle des Westens immer wieder lückenlos aufzählt, die Absetzbewegungen von der Sanktionspolitik gegenüber Russland nur als eine Art willkommene Lektion betrachten. Gegenüber dem egoistischen und opportunistischen Kriegsgewinnlereien dieser Länder, die wegen günstiger Energiegeschäfte auf eine Verurteilung eines Angriffskrieges verzichten, fällt kein kritischer Blick. Erstaunlich!
WELZER macht sich auch Sorgen um die Demokratie, weil im Einklang zwischen Regierung und Leitmedien Volkes Stimme zu wenig Gehör fände – zuletzt bei den großen Themen Migration, Corona und Ukraine. Er prangert z.B. an, dass die Ministerin Bearbock formuliert habe, dass sie an der Unterstützung der Ukraine festhalten würde, egal wie die Mehrheiten dazu gerade ausfielen.
Also sollen Politiker/innen jetzt doch nicht mutig führen und Verantwortung übernehmen und ihr Verhalten in den großen Schicksalsfragen an Umfragen orientieren? Konnten wir nicht froh sein, dass in der ersten Corona-Phase tatsächlich klare Vorgaben bestanden und die Leitmedien das mittrugen?
Für WELZER sind eigentlich immer die Eliten Schuld. Auf der einen Seite beklagt er sich, dass die Politiker ihr Volk wie kleine Kinder behandeln würden; wenn dann diese mündigen Bürger den rechten Rand wählen, werden aber nicht sie, sondern wieder die politische Klasse dafür gescholten. Seltsame Logik!
Wie fasst man so etwas zusammen?
Die WELZER-Fans werden sich auch diesmal an seinem Stil ergötzen. Mindestens 50% des Buches besteht ohne Zweifel aus klugen Analysen und zukunftsträchtigen Ideen.
Wenn dieser Mensch nur nicht so überzeugt von sich wäre und daher oft so arrogant rüberkäme. Wenn es mal Spuren von Selbstzweifel und Selbstkritik gäbe. Wenn er sich mal vorstellen könnte, dass vielleicht der Ukraine/Russland-Mainstream doch nicht so viel dümmer sein könnte als er.
Vielleicht war es auch ein Fehler, sich dieses (Hör)Buch auch noch von ihm selbst vorlesen zu lassen…
Dieses Buch wird polarisieren. Es kontrovers zu diskutieren, kann sicher ein gewinnbringender Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs sein.
„Gegen Wahlen“ von David Van REYBROUCK

Das Buch des holländischen Historikers ist zuerst 2013 erschienen. Da ich bei Sachbüchern sehr auf die Aktualität achte, hat mich das bei dieser Buchempfehlung zunächst etwas irritiert. Diese Bedenken wurden weitgehend zerstreut.
Man kann sogar feststellen, dass die momentane Diskussion um sog. „Bürgerräte“ – gefordert z.B. von der „Letzten Generation“ – dem Buch eine brandaktuelle Note gibt.
Van REYBROUCK stellt in diesem überschaubaren Buch (170 Textseiten) eine kleine, aber feine Geschichte der demokratischen Auswahlverfahren dar. Dabei geht es um zwei Grunddimensionen, die sozusagen das Skelett dieses Textes ausmachen:
– Einmal geht es auf der Bewertungsebene um das Spannungsfeld zwischen Effizienz eines Regierungssystems und der Legitimität, die es gegenüber den Regierten geltend machen kann. Hier punktet die Demokratie allgemein erstmal bei dem Anspruch, die verliehene Macht rechtfertigen zu können; trotzdem wird schon eine Weile auch von einer Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie gesprochen. Bei der Effizienz lassen gerade nicht nur die aktuellen Rückschläge in der Klimapolitik sowieso ernsthafte Zweifel aufkommen.
– Auf der Ebene der Organisation demokratischer Spielregeln diskutiert der Autor die Auswahl der „Volksvertreter/innen“: Dem für uns so selbstverständlich erscheinenden System der Wahlen stellt er ganz unterschiedlich strukturierte Losverfahren gegenüber. Nicht als abstraktes Gedankenspiel, sondern als ernsthafte und gut begründbare Alternative (oder doch zumindest Ergänzung). Natürlich werden auch auf diese Fragestellung die Kriterien der Effizienz und Legitimität angewandt.
Der Autor führt uns durch die Geschichte der Demokratie und öffnet die Augen dafür, dass Wahlen keineswegs von Beginn an die natürliche Basis demokratischer Prozesse waren. Ganz im Gegenteil: In der zufälligen Zuteilung von zeitlich begrenzten Mandaten wurden in der Antike und der Renaissance die Ursprünge demokratischer Vertretungssysteme gebildet. Die historische Analyse des Autors ist geradezu vernichtend: Wahlen seien anfangs gar nicht als echter Weg in die Volksherrschaft gedacht gewesen; sie sollten vielmehr die Macht bestimmter privilegierter Gruppen zementieren.
Zwar hätte sich das „elektoral-repräsentative“ System weiterentwickelt, sei aber aktuell (Stand 2013) an kritische Grenzen gestoßen.
Auf den letzten 50 Seiten stellt Van REYBROUCK in einem international orientierten Überblick neue Ansätze von losbasierten Auswahlverfahren für ganz unterschiedliche Verfassungs- bzw. Regierungsorgane dar. In einer „Blaupause“ wird ein ausgefeiltes Modell des Zusammenspiels unterschiedlicher Entscheidungsinstanzen vorgestellt.
Für den Autor steht ohne Zweifel fest: Unsere Demokratien würden enorm davon profitieren, wenn „normale“ Bürger in einem begleiteten Prozess die Möglichkeit zur direkten Einflussnahme und Mitbestimmung bekämen.
Van REYBROECK hat ein gut recherchiertes und didaktisch vorbildlich aufbereitetes Buch über ein extrem relevantes Thema geschrieben. Den hier zusammengestellten Informationen, Analysen und den daraus abgeleiteten Vorschlägen wäre eine große Verbreitung und Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs zu wünschen.
Dazu wäre es sicherlich nützlich, eine aktualisierte Neuausgabe herauszubringen, die dann auch die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts berücksichtigen könnte. Zusätzlich sollte man bedenken, ob wirklich der extrem provokative Titel (inkl. Untertitel und Zitat auf der Buchrückseite) die optimale Verkaufsstrategie darstellt.
Dieses Buch hat erheblich mehr zu bieten als pure Provokation.
(Ob angesichts der ungelösten Menschheitsthemen tatsächlich demokratische Strukturen gegenüber „Expertokratien“ – die in schnell steigendem Umfang auf Analysen und Prognosen der Künstlichen Intelligenz basieren werden -Bestand haben können, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass wir in naher Zukunft gezwungen sein werden, dem Kriterium der Effizienz ganz eindeutigen Vorrang einzuräumen.)
„Demokratie braucht Religion“ von Hartmut ROSA

Der Soziologe Hartmut ROSA hat sich in den letzten Jahren mit den Themen „Resonanz“, „Beschleunigung“ und „Unverfügbarkeit“ einen Namen gemacht. Aus einer unideologischen Perspektive wies er auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen hin, die mit einem Weltzugang verbunden sei, der einseitig auf Naturbeherrschung, Funktionalität, Wohlstandssteigerung, Wachstum und technologische Kontrolle ausgerichtet ist.
Hier legt ROSA ein Büchlein zur Rolle von „Religion in der Demokratie“ vor, das aus einem Vortrags-Manuskript und einem (ziemlich irrelevanten) Vorwort von Gregor GYSY besteht. Rein formal (quantitativ) kratzt der Autor damit an der untersten Grenze von dem, was sich sinnvoller Weise in Buchform veröffentlichen lässt (80 „großzügig“ bedruckte Seiten für 12 €; ROSA beginnt auf Seite 17).
ROSA hat seinen Vortrag in einem kirchlichen Kontext gehalten (einem Diözesanempfang) und greift in seiner Rede mehrfach das Jahres-Motto „“Gib mir ein hörendes Herz“ auf. Es war ganz offensichtlich sein Anliegen, seinen Einladern eine gute Stimmung zu bereiten; so durchforstete er seine wissenschaftlichen Theorien auf alle Aspekte, die sich in einer positiven Schnittmenge mit der (katholisch-)christlichen Lehre und Praxis bringen lassen.
Ganz explizit stellt ROSA am Beginn seiner Ausführungen zwar die Frage, ob Religion für unsere aktuelle gesellschaftliche Situation noch mehr als ein überkommener Anachronismus sein kann. Doch es wird nach wenigen Seiten klar, dass er diese Möglichkeit in keiner Weise ernsthaft betrachten will. Der Autor wägt in diesem Text nicht ab, sondern bietet längst gefundene Antworten an.
ROSA stellt ein geradezu erstaunlich einfaches Gedankenkonstrukt vor:
Religion kann aus seiner Sicht das entscheidende – und sogar alternativlose – Gegenmodell zu all den (letztlich krankmachenden) Entfremdungserfahrungen sein, die mit unserer rastlosen, wachstumsverliebten und beziehungslosen Lebensweise verbunden sind.
Glauben und Religion werden so zu einem Allheilmittel stilisiert, das sich nicht nur dem Beschleunigungs- und Wachstumszwang, sondern auch der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in feindliche Lager und der allgemeinen Erschöpfung („Burnout“) entgegenstellen kann. Kurz gesagt: Religionen seien geeignet, sich dem entfremdeten „Aggressionsverhältnis zur Welt“ mit einem „hörenden Herz“ wirkungsvoll entgegenzustellen.
Wie machen sie das?
ROSA behauptet, die Kirchen verfügten „über Narrationen, über ein kognitives Reservoir, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann“. Er sieht die Erfahrung „Anrufbarkeit“, also die Resonanzerfahrung, als die entscheidende Qualität an.
Ausgehend von seiner (kurz zusammengefassten) Resonanztheorie führt ROSA aus, dass das Funktionieren unserer Demokratie auf die Qualitäten einer auf Resonanz basierenden Weltbeziehung angewiesen sei: Es müsse eine Rückbesinnung auf eine „ergebnisoffene Selbstwirksamkeit“ stattfinden, in der man sich von Erfahrungen und Meinungen anrühren lasse, ohne gleich nach Zwecken, Funktionalitäten und Rechthaben zu schielen.
Genau solche Erfahrungsräume – so ROSA – stellen die Religionen (mit ihren Traditionen und Riten) bereit – außerhalb von Leistungs- und Konsumzwängen, die Resonanzerfahrungen weitgehend ausschlössen.
Rosa sieht aber auch die Bedeutung der inhaltlichen Botschaften von Religion (und Esoterik), die dem „kalten und gleichgültigem Universum“ sinnstiftende und tröstende Antworten entgegensetzten. So könne dann eine Resonanzachse zwischen betendem Mensch und zuhörendem Gott entstehen.
ROSA ist überzeugt: Auf diese Räume und Kräfte kann unsere Demokratie nicht verzichten.
Um es auf den Punkt zu bringen: ROSAs Vortrag nähert sich in einem erstaunlichen Umfang dem Genre einer Predigt!
Dies mag man angesichts des Kontextes eines Vortrages für legitim halten; eine Veröffentlichung in Buchform erscheint mir aber für einen Wissenschaftler mit einem gewissen Renommee ein grenzwertiges Unterfangen zu sein.
ROSA unternimmt keinerlei Versuch, dem – unbestreitbar möglichen – religiösen Resonanzerleben andere, säkulare Resonanzquellen gegenüberzustellen: Er benutzt zwar einmal die Analogie der musikalischen Resonanz, spricht dann aber (anders als in seinem großen Resonanz-Buch) nicht über Kunst, Kreativität, Naturerleben, Liebe, Altruismus, Welterkundung, politisches Engagement, usw. In diesen und vielen anderen Feldern bzw. Tätigkeiten sind „Anrufungen“ und „ergebnisoffene Selbstwirksamkeit“ möglich, lassen sich persönliche Sinnerfahrungen, Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl erleben.
Und das alles ohne den Preis, sich bestimmten Glaubenssystemen mit z.T. abstrusen Dogmen zu unterwerfen.
ROSA enthält dem Auditorium (und damit leider auch den Lesern/Leserinnen) nämlich nicht nur mögliche Alternativen vor, sondern versäumt es auch, auf die Nebenwirkungen und Risiken hinzuweisen, die mit einer (zu) starken Hinwendung zu irrationalen Weltzugängen verbunden sein können. In einer Zeit, in der wir existentielle planetare Herausforderungen nur unter Berücksichtigung alle faktenorientierten Erkenntnisse meistern können, sind zumindest die wissenschaftsfeindlichen Auswüchse von Irrationalität, Mystik, magischem Denken und Empirie-Verweigerung keine harmlosen Privatangelegenheiten. Darauf macht nicht zuletzt die toxische Gemengelage zwischen fanatischen bzw. fundamentalistischen Glaubenshaltungen und -gemeinschaften auf der einen, und rechtspopulistischen und verschwörungstheoretischen Ideologien bzw. Gruppierungen auf der anderen Seite aufmerksam.
ROSAs Streitschrift für die Bedeutung der Religionen ist somit eine extrem einseitige Meinungsäußerung: als Vortrag im kirchlichen Setting sicher akzeptabel, als Veröffentlichung eines renommierten Soziologen ganz eindeutig zu kurz gegriffen – quantitativ und qualitativ.
„Gefährlich lecker“ von Chris van TULLEKEN

Der englische Arzt und BBC-Moderator van TULLEKEN hat ein Ernährungsbuch der besonderen Art geschrieben. Es ist kein Ernährungsratgeber im üblichen Sinne – es ist eher eine Kampfschrift gegen die Lebensmittel-Industrie. Der Autor führt mit dieser Publikation geradezu einen Feldzug gegen die Sorte von Nahrungsmitteln, die er zum Hauptfeind der Volksgesundheit erklärt hat: die „hochverarbeiteten Lebensmittel“ (HVL).
In zahlreichen Schleifen setzt sich van TULLEKEN mit den widerstreitenden Überzeugungen und Theorien auseinander, welche Nähr- und Inhaltsstoffe die größten Risikofaktoren für Übergewicht und andere ernährungsbedingte Volkskrankheiten darstellen. Diese – nicht immer ganz übersichtliche – Diskussion führt immer wieder zu seiner Erkenntnis, dass es (eher als die oft diskutierten Fette oder Kohlehydrate) die industrielle Verarbeitung und die dabei eingesetzten „fremden“ Zusatzstoffe seien, die schädlich wirkten. Und zwar einmal in direkter physiologischer Form, zum anderen aber auch dadurch, dass sie das Geschmacksempfinden auf eine Art und Weise manipulierten, die geradezu unvermeidlich zu langfristigen Verschlechterung der Ernährungsgewohnheiten führe.
Obwohl der Autor immer wieder um eine möglichst klare Definition von „hochverarbeiteten“ Lebensmittel ringt, wird immer wieder deutlich, dass eine klare Abgrenzung von anderen Risikoquellen (z.B. Zucker, Salz oder Kaloriengehalt) nicht immer möglich ist. Ein bisschen scheint der Streit in den Kreisen der Ernährungswissenschaftler auch ein Glaubenskrieg zu sein; an Kampfgeist fehlt es dem Autor jedenfalls nicht.
Beeindruckend sind einige Blicke hinter die Kulissen der Lebensmittel-Industrie: Der Autor stellt z.B. dar, wie generalstabsmäßig selbst dort um neue Marktanteile gerungen wird, wo ein „natürlicher“ Bedarf für Industrieprodukte weit und breit nicht zu spüren ist.
Der Schreibstil des Autors ist u.a. durch seinen engen biografischen Bezüge geprägt. Er kommt nicht nur auf seine berufliche Laufbahn zu sprechen, sondern geht konkret auf die Ernährungsgewohnheiten seines Bruders ein und stellt ausführlich ein eigenes Ernährungsexperiment dar. Es geht hier also um ein persönliches Sachbuch, in dem Privates, Anekdotisches und Wissenschaftliches bunt gemischt werden.
Das lockert dieses – immerhin 400 Textseiten starke – Buch auf, geht aber auch eine wenig auf Kosten der Seriosität.
Es gibt noch einen anderen Umstand, der die Wirkung des Textes für einen Teil des Publikums schmälern könnte: Der Autor kommt stellenweise doch ziemlich missionarisch rüber, für einen Sachbuchautor vielleicht sogar ein wenig zu überengagiert. Doch vermutlich wird ein anderer Teil der Leserschaft sich genau durch diese Leidenschaft angesprochen werden.
Zwischendurch hat der Text auch einen Selbsthilfecharakter: Der Autor schlägt auf der Basis persönlicher Erfahrungen konkret vor, sich durch eine Phase der bewussten Übertreibung aus den Fängen der „falschen “ Essgewohnheiten zu befreien.
Letztlich lernt man in diesem eine Menge über ein industrielles Ernährungs-System, das weite Teile der Bevölkerung von der Zubereitung und dem Genuss „echter“ Lebensmittel weitgehend entfremdet hat. Van TULLEKEN wird nicht müde zu verdeutlichen, dass die Verantwortung für die bedrohlichen gesundheitlichen Folgen eben nicht beim einzelnen Konsumenten liegt, sondern bei den Herstellern, die gezielt solche Rezepturen und Zusatzstoffe einsetzen, die ein hohes Risiko der Gewöhnung und Abhängigkeit beinhalten.
Es ist zweifellos ein Verdienst des Autors, dies in dieser Breite und Tiefe herausgearbeitet zu haben. Der Umfang dieses Unterfangens ist sicher nicht für jede/n Leser/in verlockend.
Eine verlegerische Besonderheit soll nicht unerwähnt bleiben: Anmerkungen und Literatur finden sich nicht im Anhang, sondern im Netz; das Buch wäre sonst nach 60 Seiten dicker geworden. Eine tolle Idee, die Papier, Gewicht und Geld spart, ohne den Zugang zu den Informationen wesentlich zu erschweren.
„Der letzte Sessellift“ von John IRVING

Im meiner Generation haben viele ihre ersten intensiven Erfahrungen mit zeitgenössischer Roman-Literatur John IRVING zu verdanken. Verschlungen wurden z.B. „Garp“ oder „Gottes Werk und Teufels Beitrag“. Das liegt ca. 40 Jahre zurück.
Mit seinem aktuellen Roman will es Irving, der vermutlich mit 81 Jahren am Ende seiner Schaffenskraft steht, noch einmal wissen: „Bin ich noch der Meister der weiten Spannungsbogen, der skurrilen Figuren und der absurd-verschachtelten Handlungsverläufe?“
Insgesamt kann man sagen: IRVING gibt nochmal richtig Gas, Schonung ist nicht angesagt. Ein Mainstream-Roman ist es nicht geworden und ein Wälzer (von fast 1100 Seiten bzw. 34 Std. Hörbuch).
Das Meta-Thema ist erotische Vielfalt, sexuelle Diversität. IRVING wirkt geradezu besessen von der Vision, dass Nähe, Intimität und Liebe am besten gedeihen, wenn sie sich über alle Normalitätsvorstellungen hinweg entfalten können. So lebt der Protagonist (Adam) – überraschender Weise ein Schriftsteller – in einem stabilen Kosmos von Personen, die entweder lesbisch werden oder schon immer waren, zu einer Transfrau geworden sind oder – wie der Schriftsteller und seine zwischenzeitliche Ehefrau – ausnahmsweise heterosexuell sind und bleiben.
Auch die Generationsgrenzen sind ziemlich durchlässig: Seine Mutter hat sich einst von einem Jugendlichen schwängern lassen und ihre Gefühle zu ihrem Sohn kratzt auch an den Grenzen der Mutterliebe. Doch – obwohl immer wieder von spektakulären Orgasmen und den Vor- und Nachteilen von Penissen die Rede ist – geht es letztlich um unlösbare Bindung und bedingungslose Loyalität.
IRVINGs Figuren sind – wie gewohnt – exzentrisch und schräg bis zum Anschlag, aber sie sind liebenswert und vor allem grenzenlos liebesfähig.
Wir begleiten die Gruppe einige Jahrzehnte durch ihr gemeinsames Leben. Diese Oase der Zuneigung, Solidarität, Intellektualität und künstlerischer Kreativität ist dabei umgeben von einer ignoranten und feindlichen Umwelt: Da sind die Spießer, die Schwulenhasser und die Transphoben. Die, die Aids als Strafe Gottes für Unmoral betrachten. Und natürlich die Rechten, die Reagans und später die Trumps.
Als Leser/in muss man damit leben, dass da wenig Raum für Differenzierung bleibt. Eine sympathische Normalität ist nicht IRVINGs Sache. Schrägsein ist Charakter und Modell – Mainstream ist im besten Falle uninteressant.
Der Handlungsfaden wird in zahllosen Zeitsprüngen entwickelt. Das Thema der sexuellen Identitäten ist auf mehreren Ebenen dominant. Letztlich bestimmt das Sein nicht nur die privaten Geschicke, sondern sichert den Lebensunterhalt der meisten Beteiligten. Zwei Autoren werden sogar mit der Vermarktung ihrer biografischen Erfahrungen richtig erfolgreich und reich.
Leicht zynisch könnte man also formulieren: Man dreht sich ziemlich stark um sich selbst und sein Anderssein. Letztlich sichert so – etwas zugespitzt formuliert – die Diskriminierung durch andere sogar die eigene Karriere. So wird die Identität zum zentralen Lebensinhalt.
Der Roman bewegt sich auf mehrere Erzähl- und Realitätsebenen und gewinnt dadurch an zusätzlicher Komplexität.
Da der Vater des Ich-Erzählers (Adam) ein bekannter Schauspieler geworden ist, werden immer wieder bestimmte charakteristische Szenen aus seinen Filmen einbezogen. Als Zugabe gibt es dann noch ein ganzes Arsenal an Gespenstern, die für einige der Figuren sichtbar sind. Nachdem diese zunächst eher historische Bezüge haben, werden nach und nach verstorbene Roman-Figuren selbst zu Gespenstern.
Im letzten Drittel des Buches wird sogar zwischendurch das Genre gewechselt: Weite Teile des Geschehens sind als Drehbuch verfasst.
Warum nun der Sessellift im Titel?
Wir befinden uns in einer Szene von Skilehrerinnen, Schneeschuh-Läufern und Pisten-Wächterinnen. Entscheidende und besonders dramatische Momente finden in oder in der Nähe von Skiliften statt.
Anstrengend wird das Buch durch die Maßlosigkeit der Wiederholungen: von Szenen, von Dialogen, von Betrachtungen.
Die Figuren und ihre Botschaften werden der Leserschaft regelrecht eingemeißelt. Es gibt nicht nur erzählerische Rückblicke, zusätzlich schauen auch die Figuren in ihren Dialogen gerne mal auf die erlebten Situationen zurück. Selbst die Filmzitate tauchen mehrfach auf. IRVING lässt nichts unversucht, um die Leserschaft an die entworfene Welt zu fesseln.
IRVINGs Buch ist das Gegenteil von einem leisen Roman: Es ist ein lauter, intensiver Roman. Es gibt von allem ziemlich viel. Oft auch zu viel (selbst von Zuneigung und Kontakt).
Wer noch einmal eine volle Dröhnung IRVING möchte, wird hier sicher nicht enttäuscht.
Gut vorstellbar ist aber auch, dass manche irgendwo auf der Strecke aussteigen – ich könnte es jedenfalls verstehen (auch wenn ich letztlich durchgehalten habe – das ist man dem „alten Meister“ ja dann doch schuldig).
„Gewalt und Mitgefühl“ von Robert SABOLSKY

Der amerikanische Biologe, Neurowissenschaftler und Primatenforscher SAPOLSKY hat hier vor einigen Jahren ein Monumentalwerk vorgelegt, das auch einen Vielleser vor eine gewisse Herausforderung stellt. Auf insgesamt ca. 1000 Seiten (inkl. Anhang) fasst er in einer fast zwanghaft wirkenden Gründlichkeit und Differenziertheit Forschungsbefunde zusammen, die den Zusammenhang zwischen dem menschlichen Verhalten (insbesondere dem Sozialverhalten) und dessen biologischen Grundlagen beschreiben bzw. erklären.
Zunächst ist eine Begriffsklärung fällig: Der Begriff „Biologie“ wird in diesem Buch in einem extrem weiten Sinne verstanden: Er beinhaltet alle wissenschaftlich untersuchbaren Einflussfaktoren, die sich in der Genetik, den Neurowissenschaften, der Anthropologie, der Tierforschung, der Psychologie und der Soziologie finden lassen. Es geht um die große Frage: Wodurch wird menschliches (Sozial-)Verhalten determiniert, was in unserer inneren und äußeren Umwelt beeinflusst also die Art, ob und wie wir kooperieren und uns bekämpfen – als Art und als Individuum, generell und in einer spezifischen Situation.
Umgekehrt würde das bedeuten: Was nicht durch dieses komplexe Zusammenspiel von beobachtbaren und messbaren Einflussgrößen erklärbar wäre, würde dann das Ergebnis einer „freien“ Entscheidung sein.
Schon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Autor diesen Spielraum für deutlich begrenzter hält, als es der Selbstwahrnehmung und der Alltagspsychologie entspricht.
Was das Lesen dieses akribischen Grundlagenwerkes so anstrengend macht, ist seine Genauigkeit und Differenziertheit. Immer wieder erwischt man sich beim Lesen dabei, dass man sich mal so eine richtig eindeutige Aussage wünscht, wie etwa: „Misshandlungserfahrungen in der Kindheit führen zu Gewalthandlungen im Erwachsenenalter“.
Der Autor macht deutlich, dass es zwar solche Zusammenhänge zweifelsfrei gibt, sie aber nur in Form von Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind. Und zwar nicht deshalb, weil ein großer individueller Entscheidungsspielraum des Einzelnen bleibt (wie die meisten argumentieren würden), sondern weil es eine geradezu unendliche Zahl von weiteren Einflussfaktoren gibt, die – meist in einem komplexen Wechselspiel – das Gewaltverhalten auch beeinflussen (z.B. genetischen Prägungen, neurologisch verfestigte Erregungskreisläufe oder Besonderheiten im Hormonsystem).
Da SAPOLSKY sich als seriöser Wissenschaftler begreift, verschont er seine Leser/innen nicht mit all den „Wenns“ und „Abers“. In der Regel beginnt eine Antwort auf die Frage nach einem Erklärungszusammenhang mit den Worten: „Es kommt darauf an.“ (Also auf die weiteren Umstände).
Die Verhaltenswissenschaft ist komplex, die Kausalitätsketten sind verworren. Genau das verführt die meisten Menschen dazu, im Zweifelsfall eben doch das autonome „Ich“ des Menschen als hauptsächliche Ursache für sein Verhalten zu postulieren.
Das Buch betreibt nicht nur Grundlagenforschung. Es reflektiert auch die Auswirkungen, die eine naturwissenschaftliche Betrachtung menschlicher Verhaltensursachen für das gesellschaftliche Zusammenleben und seine Regeln bzw. Institutionen hat. Es überrascht jetzt sicher niemanden mehr, dass SAPOLSKY auch hier irritierende Antworten und Lösungsvorschläge parat hat.
Wer sich auf diese Lese-Herausforderung einlässt erhält einen extrem weiten Einblick in den Forschungsstand der für menschliches Verhalten relevanten Fachdisziplinen (Stand 2017). Eingerahmt wird dieser Überblick von grundlegenden und schafsinnigen Reflexionen des Autors, die über die Summierung von Einzelbefunden weit hinausgehen.
Da SABLOTSKY dabei auch noch ein humorvoller und durchweg „cooler“ Typ ist, bleibt das Lesen keineswegs eine trockene Angelegenheit.
Wenn nur die Zusammenhänge nicht so kompliziert wären…
Auf SAPOLSKYs für den Herbst angekündigtes Buch über Willensfreiheit (also ihre Nicht-Existenz) werde ich mich bereits am Tag seines Erscheinens stürzen. Einige Tage später werde ich davon an dieser Stelle berichten.
„Blue Skies“ von T. C. BOYLE

Wenn die Verrücktheiten der amerikanischen Lebensweise auf die volle Dröhnung des Klimawandels treffen – dann könnte sowas entstehen, wie es BOYLE in seinem neuen Roman genüsslich ausmalt.
Der Autor tut erstmal alles dafür, dass sein Buch nicht gleich als Klimaroman zu erkennen ist. Er erzählt von den hippen Tendenzen, sich mit Hilfe von Insektenzucht möglichst fleischarm zu ernähren und von Schlangen, die als Haustiere und als eine Art Identitäts- und Image-Booster gehalten werden. In diesem etwas schrägen Kontext lernen wir die Protagonistin Cat, und dann nach und nach ihren Partner und ihre Familie kennen, wobei ihre Mutter (Ottilie) und ihr jüngerer Bruder (Cooper) besondere Bedeutung erlangen.
Rein strukturell geht im Weiteren in dieser Familie um Hochzeit, Schwangerschaft und Mutterschaft, Beziehungskrisen, hochdramatische persönliche Schicksalsschläge, familiäre Unterstützung und Bewältigungsversuche.
In zunehmendem Umfang wird diese Handlungsebene (die sich weiter mit dem Thema Schlangen herumplagt) von den Auswirkungen des Klimawandels unterwandert bzw. eingenommen. In den beiden Schauplätzen (Florida und Kalifornien) geht es um Dürre und Brände bzw. um Regen und Fluten; aber auch die Auswirkungen der Erwärmung auf das Wandern und Aussterben von Tier- und Pflanzenarten.
Irgendwann übernehmen dann das Klima endgültig die Regie über das familiäre Geschehen.
BOYLE seziert mit einer schonungslosen Akribie die Widersprüche und Absurditäten, mit denen das „American Way of Life“ auf die dramatischen Umwälzungen reagiert: So bleibt z.B. das morgendliche Bad im Pool und der Besuch hochpreisiger Restaurants eine ganze Weile unberührt von den Um- und Zusammenbrüchen in den Umweltbedingungen ringsum.
Und auf ein Schmiermittel ist immer und überall Verlass: Alkohol! Der Autor zelebriert geradezu die unfassbare Selbstverständlichkeit, mit der letztlich alle Protagonisten sich des Alkohols bedienen – als eine Art permanente Krücke, die das Leben unter unsäglichen Bedingungen noch halbwegs ermöglicht.
BOYLE trägt gerne dick auf; er ist kein Freund der leisen Töne. Seine Figuren wirken fast alle etwas überzeichnet – aber das ist kein Versehen, sondern sein Stil. Das muss an mögen – sonst kann schnell nervig werden.
Wer einen reinrassigen, ausgewiesenen Klima-Roman erwartet, wird möglicherweise etwas enttäuscht sein: Der Autor ist schon sehr in seine Rahmenhandlung (die mit den Schlangen) verliebt. Sein Zielpublikum besteht nicht aus Weltverbesserern, denen die jeweilige Handlung mehr oder weniger egal ist, wenn nur die Botschaft stimmt. Er will mit seinen Figuren und dem Plot in einer Art und Weise überzeugen, die auch ohne das Klima-Thema funktionieren würde. Und genau auf dieser Basis wird es dann so unausweichlich – weil es eben rein objektiv unvermeidlich ist.
Die Klimakatastrophe macht einfach alles andere platt. Vermutlich werden wir es erst glauben, wenn sie uns mit vergleichbarer Wucht trifft. An BOYLE wird das nicht liegen; er hat uns gewarnt.
(Ob man dazu so viel über Schlangen schreiben muss, ist Geschmackssache…).
„Das Ende des Romantik-Diktats“ von Andrea NEWERLA

Die gute Nachricht vorweg: NEWERLA bekämpft die romantische Liebesbeziehung nicht, sie will diese in unseren Gedanken und Gefühlen fest verankerte Idee von der höchsten Form von Intimität und Liebe nicht sturmreif schießen und nicht abschaffen.
Aber Sie will ihren Exklusivitätsanspruch, ihre Monopolstellung für den Bereich bedeutsamer und tragender Beziehungen in Frage stellen. Diesem Ziel ist dieses engagierte Plädoyer gewidmet.
Die Autorin (eine Soziologin) steuert das zentrale Thema von verschiedenen Seiten aus an: Sie setzt das Konzept der Romantischen Liebe in einen historischen Kontext, weist auf die vielen Enttäuschungen auf der Jagd nach diesem Beziehungsideal hin und konfrontiert es mit den aktuellen Realitäten des Internet-Datings und der durch Algorithmen gesteuerten Partnersuche.
Ihre Analyse ist eindeutig: Die Fixierung auf diese eine Beziehungsform tut uns nicht gut! Nicht nur, weil sie einen für viele unerreichbaren Traum zum alleinigen Maßstab für Lebensglück definiert, sondern weil sie eine fatale Abwertung der vielen anderen Möglichkeiten beinhaltet, beglückende Beziehungen zu leben und zu gestalten.
Mit geradezu trotziger Energie rüttelt NEWERLA an den gesellschaftlichen Mustern und Normen, will neue Freiräume schaffen, alternative Konstellationen aufwerten. Sie akzeptiert nicht, dass die klassische monogame Liebesbeziehung der einzige Ort sein soll, in dem Nähe, Intimität, Verbindlichkeit und Verantwortung gelebt werden kann.
NEWERLA setzt insbesondere auf verschiedene Spielarten der Freundschaft (gerne auch mit +) und fragt wiederholt, wieso wir sowohl bei unseren intimste Geheimnisse als auch bei der Planung unserer Zukunft eher auf eine noch frische Liebe setzen als auf gewachsene und bewährte platonische Beziehung.
Nicht verborgen bleibt in dem Text, dass die Autorin Sympathien für unkonventionelle Spielarten von Intimität und Liebe hat und dabei auch für jede denkbare Kombination mit erotischen Aspekten offen ist. Sich von der Idee einer „ewig-währenden“ Liebesbeziehung zu verabschieden, fällt ihr offensichtlich nicht besonders schwer. Es gelingt ihr aber gleichzeitig sehr gut, die Sehnsucht nach der „großen Liebe“ mit einem gewissen Respekt zu behandeln und nicht auf den Müllhaufen der Beziehungsgeschichte zu entsorgen.
Doch ein wenig überraschend ist dann im Schlussteil des Buches die Wendung zu einer gesellschaftlichen Perspektive. Die Autorin sieht in einer Öffnung und Erweiterung von Beziehungskonzepten nicht nur einen privaten Ausweg aus dem „Romantik-Diktat“, sondern erkennt darin eine Blaupause für einen gesellschaftlichen Wandel. In dem Maße – so argumentiert sie – wie die abgeschlossene Privatheit der Romantischen Liebe geöffnet und erweitert werde für experimentelle und fließende Formen von ganz verschiedenen Verantwortungsgemeinschaften, könne sich ein Klima des pluralistischen, demokratischen, inklusiven und solidarischen Zusammenlebens ausbilden. Nicht allen wird dieser Schwenk so ohne weiteres einleuchten.
Durchaus konkrete Bedeutung könnten allerdings Bestrebungen bekommen, auch anderen Formen von verbindlichen und stützenden Beziehungskonstellationen einen rechtlichen Rahmen zu geben.
Der Schreibstil der Autorin passt zum peppig gestalteten Cover. Mit einer schnörkellosen, leicht lesbaren Sprache entstaubt NEWERLA die Liebesideologie des vergangenen Jahrhunderts. Sie nimmt zwar auf andere Literatur und auf einzelne Untersuchungen Bezug, setzt den Schwerpunkt aber auf eine flüssige Argumentationslinie – die Details lassen sich in den Anmerkungen nachlesen.
Guckt man kritisch auf diese durchaus anregende Publikation, könnte einem vielleicht auffallen, dass das Ganze tatsächlich von einer sehr überschaubare Zahl von Grundgedanken getragen wird. Diese hätten sicher auch problemlos in einen Essay gepasst – dann ohne die manchmal spürbare Redundanz.
Trotzdem hat natürlich die etwas breiter und ruhiger angelegte Argumentationslinie ihre Vorteile: NEWERLA kann ausholen, Beispiele anführen und ihren Thesen feinere Facetten zufügen. Das Buch lässt sich bequem in ein paar Stunden lesen – enthält aber jede Menge Reflexions- und Diskussionsstoff. Wobei sicherlich die persönlichen Aspekte von offeneren und vielfältigen alternativen Beziehungskonzepten leichter nachvollziehbar sein werden als die angedeuteten gesellschaftlichen Implikationen.
„Geschenkt“ von Daniel GLATTAUER

Erzählt wir d eine nette, angeblich auf Tatsachen basierende Geschichte aus Wien, in der es um anonyme Geldzuwendungen an bedürftige Einzelpersonen oder wohltätige Initiativen geht, die sich gerade einer finanzieller Notlage ausgesetzt sehen.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein halb-gescheiterter Journalist (Gerold Plassek) mit einer gewissen Neigung zum Alkohol; er führt uns als Ich-Erzähler durch die Handlung.
Angereichert wird das Rätsel um die absenderlosen Wohltaten mit den familiären und beziehungsmäßigen Entwicklungen des Protagonisten, der sich zu Beginn der Story plötzlich in der Betreuungsverantwortung für den jugendlichen Sohn seiner Ex-Frau wiederfindet.
Die beiden Handlungsfäden sind eng miteinander verflochten und befruchten sich sozusagen gegenseitig.
Man bekommt ein bisschen mit aus der Welt des mehr oder weniger seriösen Journalismus. Eindeutig im Vordergrund steht aber die persönliche Erlebenswelt von Gerold, der durch das private und berufliche Geschehen ziemlich durcheinandergeschüttelt wird . In sofern handelt es sich um um so etwas wie einen (verspäteten) , der in Entwicklungsroman.
Das Ganze liest sich locker und flüssig, Vom Stil und Anspruch her handelt es sich um eine (selbst)ironische Urlaubslektüre- mit einem gewissen thematischen Tiefgang. Die Geschichte ist bzgl. des Spannungsbogens intelligent aufgebaut. Die vermittelten Botschaften sind allesamt menschenfreundlicher Natur.
Nervig sind – insbesondere in der ersten Hälfte des Romans – die immer wiederkehrenden Schilderungen kleiner oder größerer Trinkgelage mit einigen Kumpels, die er scheinbar zu jeder beliebigen Zeit in seiner Stammkneipe antrifft.
So richtig etwas falsch machen kann man mit diesem Roman (Baujahr 2014) eigentlich nichts. Stimmung und Botschaft sind insgesamt optimistisch und aufbauend. GLATTAUER ist ein Buch gelungen, das anregend und intelligent unterhält.
„Die spürst du nicht“ von Daniel GLATTAUER

Der aktuelle Roman des Wiener Journalisten und Autors GLATTAUER wirft ein sehr individuell gesetztes Licht auf die Situation von geflüchteten Migranten, die zwar in einem Wohlstands-Land (in dem Fall Österreich) gestrandet sind, die aber im gesellschaftlichen und privaten Leben nahezu unsichtbar bleiben.
Der Plot schafft einen entlarvenden Kontrast zwischen der etablierten akademischen Mittelschichts-Welt zweier einheimischer Familien und der prekären Lebenssituation einer von zahlreichen Schicksalsschlägen gebeutelten somalischen Flüchtlingsfamilie.
In einen Toskana-Urlaub darf die 14-jährige Tochter(Sophie Luise) der Hauptfigur (einer einer GRÜNEN-Politikerin) ihre somalische Mitschülerin mitnehmen; diese kommt dabei unter uneindeutigen Umständen ums Leben.
Der Roman beschäftigt sich mit den emotionalen bzw. moralischen Konflikten und den medialen, juristischen und politischen Folgen, die mit der Bewältigung dieser Situation für die Politikerin und ihre Familie verbunden sind.
GLATTAUER zeichnet nicht nur ein weitgehend stimmiges (wenn auch überzeichnetes) Psychogramm der beteiligten Personen (insbesondere der beiden Ehepaare, die gemeinsam in der Toskana waren), sondern lässt parallel den Wahnsinn der (sozialen) Medien in sein Buch einsickern: Auf jede Pressemeldung zum Fortgang der Ermittlungen wird eine Serie typischer Online-Kommentare und darauf bezogene Erwiderungen eingearbeitet: das pralle Social-Media-Leben in Bestform.
Auch der juristischen Aufarbeitung des Falles schenkt GLATTAUER seine Aufmerksamkeit – in Gestalt eines Kampfes zwischen David (einem Looser-Anwalt) und Goliath (einem unsympathischen Staranwalt).
Ein separater Handlungsfaden spinnt sich um die Sophie Luise, die sich in ihrem emotionalen Ausnahmezustand in einen mysteriösen Chat-Partner verliebt. Sie gerät in einen Strudel, in dem auch Drogen eine Rolle spielen. Querverbindungen zum Hauptthema des Buches sind nicht ausgeschlossen…
Ohne Zweifel wirkt die Geschichte ein wenig konstruiert; auch der moralistische Zeigefinger ist hin und wieder deutlich sichtbar. Die Nebenhandlung zwischen Tochter und ihrem „Freund“ lässt die ein oder andere Frage unbeantwortet.
Trotzdem bietet der Roman eine Menge Stoff zum Mitfühlen und Mitdenken. Er analysiert sehr klar die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit einer moralischen Herausforderung und legt wirkungsvoll und gekonnt den Finger in eine gesellschaftliche Wunde: Geflüchtete Menschen leben zwar unter uns, haben aber in den eingespielten Abläufen unseres Alltags und unserer Medien so gut wie keine eigene Stimme.
Ein lesenswerter Roman, der intelligente und tiefgründige Unterhaltung liefert.