“Lob der offenen Beziehung” von Oliver SCHOTT

Es handelt sich um ein kleinformatiges, schmales Büchlein, eher noch ein Heft. Darin findet sich ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen  Monogamie als unhinterfragtes Standardmodell für Liebesbeziehungen. Der  Autor hat ganz offensichtlich eine Mission. Er ist überzeugt, er will überzeugen. Er ist sicher, dass die besseren Argumente  auf seiner Seite sind. Er sieht sich als Aufklärer.

SCHOTT geht systematisch vor. Er erklärt, wie das Konzept der Monogamie sowohl historisch in der Gesellschaft als auch im individuellen Bewusstsein entstanden ist. Da er dabei realistischer Weise davon ausgeht, dass der Mensch auch ein emotionales Wesen ist, durchleuchtet er den Zusammenhang zwischen Normen, anerzogenen Selbstverständlichkeiten, gewachsenen Überzeugungen und als “natürlich” empfundenen emotionalen Prägungen.

Letztlich vertritt er folgende Kernaussagen:

  • Monogamie entspricht nicht der Natur des Menschen, sondern ist kulturell “gemacht” und daher hinterfragbar und veränderbar.
  • Sich dieser Norm unterzuordnen, schränkt die Lebens-, Entwicklungs- und Glücksmöglichkeiten von Menschen in Beziehungen extrem ein.
  • Die Vorgabe, andere Menschen nur nacheinander und nicht gleichzeitig (erotisch und/oder emotional) lieben zu können/dürfen, ist in sich widersprüchlich und verursacht jede Menge vermeidbares Leid.
  • Eifersucht – also das Bedürfnis nach Exklusivität in Beziehungen – ist überwindbar.
  • Es gibt lebbare Beziehungs-Alternativen.

Nun hängt die Qualität eines Buches ja “eigentlich” nicht davon ab, ob man die Überzeugungen des Autors teilt. Bei so einem emotional besetzten Thema gerät man aber schnell auf das Gleis der Verteidigung und Rechtfertigung eigener Haltungen. Verunsicherung ist schließlich unbequem und schafft Unruhe – die man sich am besten gleich wieder vom Hals schafft…
Ich will daher die Grundlage meiner Bewertung dieses Textes transparent machen.

Mit dem Thema “Nebenbeziehungen” beschäftige ich mich selbst sowohl praktisch als auch theoretisch seit mehreren Jahren; ein Buch dazu ist in Arbeit. Meine Reaktion auf dieses Buch ist daher geprägt von meinen emotionalen Reaktionen (als liebender Mensch) und von meiner eigenen thematischen Auseinandersetzung mit dem Thema.

Ich will die Frage beantworten, an welchen Punkten SCHOTTs vom Prinzip her überzeugende Darstellung  bei  mir Skepsis oder Widerstände ausgelöst hat:

  • Bei mir sind schnell Zweifel entstanden, ob der Autor den Zustand einer romantisch-symbiotischen Liebe wirklich aus eigener Erfahrung kennt. Natürlich hätte er auch ohne diesen Hintergrund alles Recht der Welt, für seine Thesen einzutreten. Aber es entsteht der Eindruck, dass sich SCHOTT an etwas abarbeitet, was ihm selbst doch irgendwie fremd und seltsam vorkommt. Er gibt sich zwar redliche Mühe, diese “Absonderlichkeiten” des menschlichen Seins zu verstehen – aber er bewegt sich da wie ein Anthropologe bei der Erforschung eines  unbekannten Urwald-Stammes.
  • Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass mir die innere Ambivalenz, das mühsame und schmerzhafte Abwägen von Positionen und Alternativen fehlt. Es ist alles so eindeutig. Wenn man sich auf seine Erkenntnisse und Argumente einlässt – so erlebt man den Autor – dann kommt man doch geradezu “zwingend” zu den gleichen Schlussfolgerungen.
    Was ist mit den inneren Kämpfen, mit dem “Sowohl-Als-Auch”?
  • Es hätte dem Buch und seiner Überzeugungskraft gut getan, wenn es mehr Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Arten von “Liebe” und zwischen unterschiedlichen Phasen eines Beziehungsverlaufs gegeben hätte. Zwar werden diese Aspekte vom Autor gestreift, letztlich kommt es dann aber immer wieder zu Pauschalaussagen, gegen die man sich dann innerlich zu Wehr setzt.
  • In dem Universum von SCHOTT sind Beziehungsmenschen starke, selbstbewusste, autonome Menschen auf der Suche nach erfüllender Selbstverwirklichung. Er scheint mir kein wirkliches Auge für Liebende zu haben, die in Beziehungen auch Sicherheit, Schutz und unbedingte Geborgenheit suchen. Weil sie vielleicht nicht die innere Kraft mitbringen, sich durch eine Nebenbeziehung ihres Partners nicht in Frage gestellt zu fühlen.
    Vielleicht gibt es auch einfach  – viel häufiger als er denkt – ein Bedürfnis nach Ruhe und Gewissheit, zumindest in diesem einen Lebensbereich.

Das soll reichen.
Für Menschen, die ihre eigene Position hinsichtlich der Monogamie und möglicher Alternativen mal (wieder?) überprüfen wollen, ist dieses Büchlein durchaus eine Empfehlung. Es ist anregend und engagiert geschrieben.
Wenn man es erträgt, mit einem “Überzeugungstäter” zu tun zu haben, ist es durchaus gewinnbringend zu lesen.
Es muss kein Nachteil sein, dass das eigene Urteil am Ende vermutlich weniger eindeutig ausfällt.

“Ich und die Menschen” von Matt HAIG

Schon wieder Science-Fiction?! Kann der Typ nicht mal wieder normale Bücher besprechen? Kann ich, kommt auch wieder. Aber dieses Buch kann und will ich euch nicht vorenthalten.
Noch vor wenigen Tagen war ich begeistert über den Zeitreisen-Roman von Elan MASTEI. Daher gestaltete sich der Start in das neue Buch etwas zögerlich. Was sollte danach schon noch kommen – außer einem Knick nach unten? Aber es kam anders.
Genug der Vorreden – ich sollte wohl weniger über mich und mehr über die Bücher schreiben…

Als Warnung an die Fans von Zukunfts-Technik: Der Science-Fiction-Anteil ist eher klein; er beschränkt sich weitgehend darauf, eine Rahmenhandlung zu liefern. Es geht um unseren bescheidenen Planeten.

Ein Alien wird auf die Erde geschickt. Seine Mission: Er soll verhindern, dass sich die Menschheit als Folge eines mathematischen Geniestreiches technologisch weiterentwickelt. Aus guten Gründen ist nämlich die weit überlegene Gattung aus einer fernen Ecke des Universums der Überzeugung, dass die Erdenbewohner ganz sicher nicht die notwendige emotionale und moralische Reife besäßen.
Also schlüpft ein Abgesandter der wohlmeinenden Aufpasser in die Gestalt und Rolle des überschlauen Mathematik-Professors, um in seinem Umfeld alle Spuren der spektakulären Erkenntnis zu tilgen.

Eigentlich wäre das eine Kleinigkeit für das mit Super-Kräften ausgestattete Alien in Professoren-Gestalt. Aber – man hat die Rechnung ohne die zweite Seite des menschlichen Seins gemacht! Der Mensch an sich ist nämlich nicht nur dumm, gierig und gewalttätig (das ist er ohne Zweifel auch) – sondern er ist auch ein fühlendes, empathisches und liebendes Wesen. Und seine einzigartiger Wert liegt gerade darin, dass er nicht perfekt, nicht unsterblich, nicht streng logisch-rational und nicht immun gegen Schmerz und Leid ist!

Kurz gesagt: Das Buch ist eine intelligente und anrührende Liebeserklärung an das menschliche Dasein – mit all seinen Unvollkommenheiten und Widersprüchlichkeiten. Es ist ein durch und durch menschenfreundliches Buch und weckt Aufmerksamkeit und Respekt für die alltäglichen Geschenke des Seins.

Natürlich wird hier der Plot nicht verraten. Schließlich sorgt so eine Handlung dafür, dass man bis zu Ende durchhält. Es geht um Liebe, um einen schwierigen Jugendlichen und einen liebenswerten Hund. Und natürlich gibt es auch echte Gefahren für alle Beteiligten.
Über allem steht die Einladung, die Chancen des Lebens wahrzunehmen und zu ergreifen – und dabei die richtigen Prioritäten zu setzen.
Dass damit die Glitzerwelt des Konsums, die kritiklose Übernahme irgendwelcher Ideologien oder die Dauerberieselung durch verdummende Medien nicht gemeint ist, kann der Autor überzeugend darstellen.

Gut – vermutlich könnte man dem Buch auch ein wenig Verklärung und Kitsch-Nähe anlasten; vielleicht ist manches zu vorhersehbar und idealisiert.
Vermutlich wäre dem Alien die Wandlung zum Menschen-Fan erspart geblieben, wenn er in irgendeinem übervölkerten Großstadt-Ghetto oder in einem Bürgerkriegs-Gebiet gelandet wäre – statt im gemütlichen Mittelschicht-Cambridge.
Aber geschenkt – es geht ums Prinzip! Ein im besten Sinne menschliches Leben ist möglich – trotz aller Unwahrscheinlichkeiten und Absurditäten des unendlichen Kosmos. Schon das ist ein unfassbares Wunder. Und genau dafür öffnet der Autor die Augen. Unterhaltsam – aber spürbar auch mit einem gewissen missionarischen Anspruch.

Bücher wie dieses können vielleicht tatsächlich dazu beitragen, dass ein paar Menschen mehr sich auf den Weg begeben, nach den wahren Schätzen dieser Welt Ausschau zu halten. Was könnte man als Autor mehr erreichen wollen!

“Ja, das Leben ist ungerecht” von SILVIA

Ja, das Leben ist ungerecht.

Ja, es gibt Menschen, die haben viel Geld und Menschen, die haben wenig Geld.

Manchmal fühlen wir uns gut und manchmal schlecht. Wir denken, wir haben keine Chancen gehabt und werden keine haben.

Ja, es gibt Menschen, die haben viel Macht und Menschen, die haben wenig Macht. Stopp!!!

Ihr habt doch gar nichts dagegen, dass es Menschen gibt, die viel Macht haben.  Aber welchen Menschen wollt ihr diese Macht geben? Genau, es sind Menschen, die euch sagen, dass ihr wichtig seid, auch ohne Geld und ohne den Glauben an eine Perspektive.  Menschen, die eure Ratlosigkeit in Wut verwandeln, die euch sagen, dass jeder von euch das Recht hat, sich zu wehren.  Das fühlt sich gut an, oder? Schaut ihr auch hin, welche Ideen diese Menschen euch vermitteln, wie ihr etwas verändern könnt? Sie scheinen euch ernst zu nehmen, nicht wahr? Sie benutzen Worte, die ihr versteht. Sie sagen euch, dass ihr euch wehren müsst und könnt.  Und da ist auf einmal das Gefühl, dass ihr nicht mehr alleine seid. Gemeinsam sind wir stark, sagt ihr. Das stimmt und das fühlt sich gut an. „Ich zuerst“ wird zum „wir zuerst“ und damit begebt ihr euch auf einen Weg in den Kampf.  Aber sagt mir, wann in eurem Leben hat ein solcher Kampf dazu geführt, dass sich die Situation für alle verbessert hat? Es gab Sieger und Verlierer. Mit etwas Glück gehörte man zu den Siegern, zumindest für den Moment.

Immer mehr Menschen auf dieser Welt glauben, dass es sie stark und groß macht, wenn sie gegen etwas sind und für sich selber kämpfen. Das ist nicht neu und war schon oft der Antrieb für Veränderungen. Aber, zumindest für die Zeit, die ich bisher hier auf dieser Erde verbracht habe, ist es neu, dass so viele Menschen das Ziel haben, zu zerstören. Dass so viele Menschen glauben, dass es der richtige Weg für sie ist, wenn sie „starken“ Führern folgen, die ihnen versprechen, dass alles besser wird, wenn sie nur egoistischer werden. Auch ich kenne das ICH und das WIR.  Aber in meinem Leben gab es immer nur eine gutes Ende in einem Streit oder einem Konflikt, wenn  mein ICH ein WIR wollte und nicht, wenn ich sagte oder dachte, dass mein ICH am Wichtigsten ist.

Ich bin mir sicher, diese Erfahrung kennt ihr auch. Es ist ein Weg, der schwieriger, mühsamer und langwieriger ist, aber es hat sich immer gelohnt. Verbitterung, Hass, Rache und das Bedürfnis nach Macht und Sieg sind schlechte Zutaten für ein friedvolles und menschliches Miteinander. Ich habe mich nie nach einer machtvollen Position gesehnt. Aber ich war auch nie still und untätig.  Aber wir brauchen Menschen, die machtvolle Positionen besetzen. Lass uns genau hinschauen, was sie vertreten. Welche Ideen  und Werte haben diese Menschen? Wollen sie uns benutzen  und wofür?

Ich wünsche mir, dass die Menschen auf ihre Kinder schauen. Was wünschen wir uns für unsere Kinder?

Ich möchte, dass sie in Frieden aufwachsen und leben können. Ich möchte, dass sie in uns ein Vorbild haben in ihrer Suche nach Glück und Zufriedenheit. Dass sie lernen, dass man Lösungen finden kann, wenn man Respekt und Achtung vor dem Problem und den anderen Menschen hat.  Ich möchte, dass ihre Neugier auf Wissen und das Leben lebendig bleiben darf.

Zurzeit sind die Konflikte auf dieser Welt für mich oftmals unüberschaubar und ich habe das Gefühl, dass es immer gefährlicher wird. Ich denke, dass geht vielen Menschen so. Aber lass uns unsere Sehnsucht nach Gemeinschaft und Wohlfühlen ernst nehmen. Wenn wir unsere Werte ernst nehmen, dann können wir vielleicht sagen „Wir zuerst“ und andere einladen, gemeinsam für ein faires  und friedvolles Leben zu stehen.

Und unsere Kinder werden stolz auf uns sein.

“Die beste meiner Welten” von Elan MASTAI

Mit Science-Fiction-Literatur ist das so eine Sache. Oft sind die Bücher so abgedreht, dass sie nur für eine eingefleischte Fan-Gemeinde taugen. Oder sie sind so banal, dass man sich fragt, warum sie eigentlich in der Zukunft spielen. Das hier besprochene Buch ist von solchen Makeln frei. Für mich ist es eines der unterhaltsamsten Zukunfts-Geschichten, die mir je unter die Augen (in meinem Fall: an die Ohren) gekommen sind.

Es geht um Zeitreisen – eines der klassischen Themen dieser Gattung.
Irgendwie gelingt es diesem Autor, die technischen Aspekte dieses Menschheitstraumes durchaus in einer kreativen physikalisch-spekulativen Art zu vermitteln – ohne dass aber das Gefühl entsteht, dass sich dieser Aspekt zu einem Selbstzweck entwickelt.

Im Vordergrund stehen Menschen und Beziehungen; Liebesbeziehungen und familiäre Beziehungen.
Der Ich-Erzähler und Zeitreisende findet sich und seine Liebsten in zwei parallelen Realitäten wieder und ist damit beschäftigt, irgendwie Ordnung in das damit verbundene Chaos zu bringen. Wobei das größte Durcheinander in seinem Gehirn entsteht – muss dieses doch mit (mindestens) zwei ziemlich unterschiedlichen Versionen seines Selbst umgehen.

Mich hat dieser Autor vor allem damit begeistert, dass er selbst ziemlich komplexe  – und manchmal auch etwas irrwitzige – Verstrickungen so erzählt, dass man sich nur zu gerne darauf einlässt. Mit der Zeit webt einen MASTEI in die  ihm geschaffene Welt so genial ein, dass man am liebsten gar nicht mehr auftauchen möchte.

Wie macht er das?

  • Er schafft interessante und differenzierte Figuren, die einem ans Herz wachsen oder doch zumindest interessieren
  • Er schreibt in einem angenehm lockeren, leicht selbst-ironischen Stil
  • Er spielt geschickt mit den verschiedenen Erzähl-Ebenen und macht zwischendurch sein Schreiben selbst auch zum Thema der Betrachtungen
  • Angenehm ist es auch, dass er kaum Standard-Techniken zur Spannungs-Steigerung benutzt; so gibt es z.B. nur in einem sehr eingegrenzten Ausmaß Action-Szenen oder Gewalt-Darstellungen

Fast hätte ich es vergessen. Es gibt ja auch noch ein philosophisch-psychologisches Kernthema:
Wie vertragen sich unterschiedliche Identitäten in einem Gehirn? Was macht das ICH aus? Ist es eher eine homogene Einheit oder setzt es sich aus verschiedenen Teil-Facetten zusammen? Was passiert, wenn die dann miteinander in Konflikt geraten?
Man könnte vermuten, dass der Autor sich den Rahmen der Science-Fiction ausgesucht hat, um darüber zu reflektieren – und seine Leser dabei unterhaltsam mitzunehmen.

Insgesamt: Ein Super-Buch!
Wenn man sich auf eine ordentlich Portion Absurdität einlassen kann und darüber hinweg sieht, dass im letzten Viertel vielleicht eine Schleife zuviel eingebaut wurde. Ich hatte da das Gefühl, dass der gute Mann einfach so gerne schreibt und seine Geschichte so liebt, dass er einfach nicht aufhören konnte…
Ich wäre ihm noch weiter gefolgt und werde mit Sicherheit mehr von diesem Menschen lesen!

(Übrigens: Wer noch nie ein Hörbuch ausprobiert hat, der sollte es hier mal tun. Die Stimme passt optimal zu der Geschichte.
Vielleicht mal ein kostenloses Probe-Abo bei Audible ausprobieren?
(Dies ist keine gesponserte Werbung! Ich bin wirklich davon überzeugt).

“Jäger, Hirten, Kritiker” von Richard David PRECHT

Ich sage es gleich vorweg: Ja, ich bin ein PRECHT-Fan! Und ich schäme mich noch nicht einmal dafür.
Ich finde es außerordentlich positiv, dass man in diesem unserem Lande tatsächlich auch als Intellektueller – und gar als Philosoph – ein echter Promi werden kann. Wie erholsam und hoffnungsvoll, dass dies nicht ausschließlich irgendwelchen Sportlern oder Serien-Stars vorbehalten bleibt…

Aber unabhängig von meiner Freude über die – oft vermisste – Wertschätzung geistiger Leistungen bin ich auch inhaltlich meist ganz auf der Seite Von PRECHT. Er hat einfach – meiner bescheidenden Meinung nach – meistens recht. Das “recht” ist sozusagen bei Precht schon eingebaut….

Na gut, sympathisch finde ich ihn auch noch. Wer traut sich denn am Ende des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrtausends noch, als Mann lange Haare zu tragen…

Okay, ich werde langsam ernst. Das soll ja schließlich eine Rezension werden.

Ich bin ein wenig enttäuscht von diesem Buch!
Nicht, weil Precht diesmal inhaltlich daneben läge, sondern weil ich mir etwas anderes gewünscht und versprochen hatte. Ich hatte auf eine digitale Utopie gehofft. Auf ein Gegenmodell sowohl zum naiven Daten- und Vernetzungsfetischismus des Silicon-Valley als auch zur allgemeinen Katastrophisierung der digitalen Zukunftswelt durch die ewigen Bedenkenträger.

Was PRECHT liefert, ist mir – bezogen auf diesen Spannungsbogen – zu einseitig und zu kurz gegriffen. Für ihn besteht die positive Utopie hauptsächlich darin, die von vielen gefürchtete Vernichtung von Millionen von Arbeitsplätzen durch die digitale Revolution (positiv) umzudeuten.
Wenn dieser Trend schon nicht vermeidbar ist, dann sollte man doch bitte auch die Vorteile sehen. Die lägen nämlich darin, dass die von eher stupider Arbeit befreiten Menschen sich Tätigkeiten zuwenden könnten, die nicht durch Maschinen zu ersetzen wären oder die schlichtweg ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprächen und vor allem im besten Sinne “menschlich” bleiben.

Damit dieses Modell funktionieren kann, bedarf es weitreichender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Anpassungsprozesse. Im Hauptteil des Buches beschreibt PRECHT genau diese notwendige Umsteuerung bei der Verteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtums (Steuern auf alle Finanztransaktionen, bedingungsloses Grundeinkommen) und in der Bildung, die in Zukunft ja auf ein sinnstiftendes Leben auch ohne lückenlose Erwerbsbiografie vorbereiten müsste.

Das ist alles logisch und plausibel. Aber es läuft fast durchweg nach dem Motto: “Die Digitalisierung schafft Probleme und Risiken – wir müssen neue und kreative Lösungen finden und die schlimmsten Auswüchse durch demokratische Kontrollen verhindern.”
Was mir fehlt, ist schlichtweg ein wenig Begeisterung für bestimmte Aspekte der neuen Technologien. Bestimmte Fortschritte und Möglichkeiten werden zwar pflichtgemäß genannt (z.B. effizientere Steuerung von Verkehr oder Energieverbrauch, verbesserte medizinische Möglichkeiten, Zugang zu Informationen) – aber das alles klingt doch sehr verhalten gegenüber den Erfordernissen der Kontrolle und Einschränkung.
Was ist das für eine Utopie, die hauptsächlich defensiv ausgerichtet ist?

Gut folgen kann ich PRECHT, wenn er Forderungen nach einer gesellschaftlichen Grundversorgung bzgl. der digitalen Infrastruktur formuliert. Natürlich können und dürfen zentrale Elemente unseres zukünftigen gesellschaftlichen Seins nicht in der Hand von immer monopolistischeren US-Megakonzernen bleiben.

Schwieriger – übertrieben zurückhaltend – finde ich seine Gedanken zu den moralischen Aspekten der heranwachsenden künstlichen Intelligenzen in unserer Umwelt. PRECHTS Vorschlag, in keinem Fall moralisch-ethische Abwägungen zu agorithmisieren – also in Maschinen oder Roboter zu integrieren – erscheint mir fast fundamentalistisch: Warum sollte es nicht möglich sein – vielleicht sogar vorteilhaft sein – anerkannte moralische Prinzipien/Normen zu programmieren? Wäre es wirklich so unakzeptabel, wenn ein Mensch durch die autonome “Entscheidung” eines Roboters oder eines selbstfahrenden Autos zu Tode käme, wenn gleichzeitig 10 oder 100 Menschenleben dadurch gerettet würden, dass “menschliches Versagen” als Fehlerquelle ausgeschaltet wäre?
An solchen Punkten habe ich einfach das Gefühl, das PRECHT sich weigert, weiterzudenken. Er will – und das ist ohne Zweifel sympathisch und lobenswert – möglichst viel “Humanität” bewahren und gegen die digitalen “Monster” verteidigen.
Zu einer Utopie würde es – meiner Meinung nach – aber auch gehören, mal ein wenig “herumzuspinnen” und mal Szenarien auszumalen, in denen unsere Zukunft vielleicht gerade durch die Digitalisierung – möglicherweise auf eine neue Art – humaner (gerechter, friedlicher, …) werden könnte.

Vielleicht muss jemand anderes diese digitale Utopie entwerfen bzw. ich muss einer bereits vorhandenen begegnen.
Bis dahin empfehle ich auch dieses Buch von PRECHT all denen, die seine Grundthesen nicht sowieso schon aus Web, Funk und Fernsehen zu Genüge kennen.

“Die Tyrannei des Schmetterlings…” von Frank SCHÄTZING

Ich bin ein wenig aufgeregt. Wage ich mich doch an die Rezension eines aktuellen Mega-Bestsellers eines der unbestrittenen Star-Autoren in unserem Lande. Ja, es geht um SCHÄTZING. Ja, es geht um das Trend-Thema „KI“ (Künstliche Intelligenz).
In den Buchhandlungen liegt sein dicker Roman auf Sonder-Tischen. Reicht das nicht als Empfehlung? Können so viele Leser irren?

Um es vorweg zu nehmen: Ich mag dieses Buch nicht! Es hat mich enttäuscht und zwischenzeitlich auch geärgert. Ich finde sogar, dass es ein schlechtes Buch ist: nicht empfehlenswert! (Und ich habe es sogar schon verschenkt…).
Dieses harte Urteil bedarf einer Begründung.

Wer SCHÄTZING kennt, weiß, dass er in seinen ausladenden Romanen in der Regel zwei Stränge miteinander vermischt: Er nimmt sich ein Hype-Thema in der Grauzone zwischen aktueller Wissenschaft und Science-Fiction vor und erzählt auf diesem Hintergrund eine auf Spannung getrimmte Geschichte von realen Personen.
Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden. Allerdings würde ich mir wünschen, dass bei dieser Mischung das Thema – in diesem Falle die aus dem Ruder gelaufene Künstliche Intelligenz eines Super-Computers – im Mittelpunkt stände. Die Geschichte hätte dann die Funktion, eine Rahmenhandlung für die Auseinandersetzung mit dem Thema zu bilden und damit die Botschaft („Achtung: Das könnte gefährlich werden“) unterhaltsam zu vermitteln. Weil man z.B. gerade keine Lust auf ein Sachbuch hat.

SCHÄTZINGs Buch erweckt bei mir den umgekehrten Eindruck: Im Vordergrund steht der alte Konflikt „Gut gegen Böse“, es geht um Macht, um actionreiche Kämpfe, um spektakuläre Szenarien (bei denen man schon an die Verfilmungs-Rechte denkt), um Liebe, Loyalität und menschliche Hybris. Es geht um Waffen, um Gewalt, um Gruseleffekte, um Schneller, Größer, Raffinierter. Und als Spielfeld für all das dient eben diesmal die digitale Zukunft – weil es gerade mal dran ist.
Für mich stimmt die Gewichtung nicht. Ich brauche all diese endlose Action nicht und hätte gerne mehr über KI erfahren.

Vielleicht sollte ich mal erwähnen, dass es in dem Buch nicht einfach nur um super-intelligente Computer geht. Die haben nämlich schon ordentlich vor sich hin digitalisiert und algorithmisiert und haben insbesondere auf zwei Ebenen Besonderes geleistet: Sie haben Insekten aller Art zu biologisch-digitalen Wunderwaffen gemacht (daher die Schmetterlinge im Titel) und sie haben den Zugang zu beliebig vielen Paralleluniversen geschaffen. Diese kann man bereisen und dort noch fortgeschrittenere Technik mopsen. Das führt zu einer Menge weiterer Verwicklungen, die mit dem Thema KI erstmal gar nichts zu tun haben.
Aber das schadet ja nichts: Hauptsache es passieren (vermeintlich) spannende Dinge!

Doch jetzt mal zu den – in leicht verdaulichen Portionen eingestreuten – Botschaften des Buches:
Ja, es gibt tatsächlich lesenswerte Überlegungen u.a. zu folgenden Fragen:

  • Was könnte passieren, wenn selbstlernende Computersysteme die von der (biologisch determinierten) menschlichen Intelligenz ersonnenen Begrenzungen überschreiten?
  • Könnte es nicht sein, dass ab einer bestimmten Komplexitätsstufe die digitalen Netze und Systeme ein vorher nicht eingeplantes und einprogrammiertes Eigenleben entwickeln und tatsächlich so etwas wie Bewusstsein, eigenen Willen und eigene Ziele entwickeln?
  • Läge vielleicht in der Vermischung von biologischen und digitalen Elementen ein besonderes Risiko, weil sich die Potentiale beider Systeme in einer völlig neuen Art gegenseitig aufschaukeln?
  • Ist das alles wirklich prinzipiell beherrschbar? Zumal der Mensch ja auch naturgegeben zu Missbrauch und Gier neigt und selbst die bescheidenen Sicherungen noch außer Kraft setzen kann?

(Die Sache mit den Paralleluniversen ist zwar auch spektakulär; hier lohnt aber aus meiner Sicht keine ernsthafte Beschäftigung. Das ist eher was für Nerds der theoretischen Astro-Physik.)

Zurück zur Bewertung:
Wie gesagt – diese Überlegungen zu solchen digitalen Zukunftsszenarien sind wirklich anregend und machen Lust auf mehr. Was man bekommt, ist aber ein mehr an Hin-und-Her-Fliegereien, überraschenden Wendungen (wer ist nun der Ober-Böse?) und banalem Kampfgetöse – mit und ohne Waffen, mit und ohne Horror-Insekten. Für mich eher langweilig….

Ach – fast hätte ich es vergessen: die Sprache!
Der Schreibstil ist – kurz gesagt – eine echte Zumutung, geradezu unerträglich.
Hier wollte jemand um jeden Preis nahezu jeden einzelnen Satz bis zum Bersten aufladen mit Sprachgewalt – bzw. mit dem, was der Autor sich darunter offensichtlich vorstellt. Am laufenden Meter gibt es künstlich geschwurbelte Satzkonstruktionen, die mit möglichst starken und spektakulären Adjektiven und Adverben vollgepumpt sind – oft so grotesk, dass nur (unfreiwillige) Komik übrigbleibt.
Warum macht man sowas? Stand da jemand mit einem geladenen Revolver neben Herrn SCHÄTZING – oder gar mit einem angriffsbereiten Killer-Insekt? Wie kann man ein ganzes Buch dauernd auf dem höchst-möglichen Sprach-Steigerungs-Level halten?

Okay. Ich will mich nicht hineinsteigern. Gerne bekomme ich von den Lesern dieser Rezension anderslautende Rückmeldungen.
Ich werde jetzt, nachdem ich diesen Text geschrieben und gepostet habe, mal in andere Kritiken dieses Romans hineinschauen. Vielleicht verstehe ich ja dann den Sinn von allem…
(Falls das so sein sollte; werde ich dies demnächst an dieser Stelle kundtun).

Bin immer noch ein bisschen aufgeregt. Wenn nun alle anderen das Buch super finden…???

“Verzerrte Welt” von Andrew E. Kaufmann

Dieses Buch habe ich aufgrund einer persönlichen Empfehlung gelesen; von alleine wäre ich vermutlich nie darauf gestoßen. Ein Grund dafür ist, dass ich eher selten “Thriller” lese – und genau diese Bezeichnung steht auf dem Cover.

Es geht um die Welt der forensischen Psychologie. Der Ich-Erzähler, als Psychologe angestellt in einer Spezial-Einrichtung für  kranke Straftäter, bekommt den Auftrag, einen als Serienkiller von jungen Mädchen verdächtigten Mann auf seine Schuldfähigkeit zu begutachten.

Es stellt sich heraus, dass diese beiden Hauptpersonen eine Gemeinsamkeit haben, nämlich einen schizophren-gewalttätigen Vater. Dies – und die offensichtlich fast grenzenlose Manipulationsfähigkeit des Angeklagten – führt zu immer extremeren Verwicklungen, in deren Verlauf die bisher geordnete “heile” Welt des Psychologen völlig aus der Bahn gerät.

Die sehr genau beschriebene Entwicklung hin zu der Auflösung aller bis dahin als sicher geglaubten beruflichen und privaten Gewissheiten des Protagonisten machte mich beim Lesen sehr schnell ungeduldig und zunehmend ärgerlich. Es erschien einfach nicht plausibel und glaubhaft, dass dieser Verlauf tatsächlich so stattfinden könnte.

Nun ist besteht die Kunst des Rezensierens auch darin, den Clou einer Geschichte nicht vorweg zu nehmen. Das schränkt jetzt meine Möglichkeiten deutlich ein. Vielleicht istdie Anmerkung erlaubt, dass nicht alles ist, wie es scheint.

Unter dem Strich bleibt die Frage, ob in der Gesamtsicht – nach der Auflösung aller Zusammenhänge – eine spannende und/oder lehrreiche Lektüre hinter mir liegt.
Ich bin bzgl. dieser Bewertung ambivalent. Ich muss zugeben, dass ich während der überwiegenden Lesezeit eher wenig angetan und motiviert war.
Zwar gibt es im Nachhinein einen anderen Bewertungsmaßstab – aber für mich macht das allein dieses Buch nicht zu einer echten Empfehlung.
Natürlich lernt man etwas über das mögliche Erleben einer psychotischen Störung, natürlich gelingt es dem Autor, falsche Fährten zu legen.

Aber richtig überzeugt hat mich dieser Roman trotzdem nicht.
Vielleicht bin ich einfach nicht der richtige Thriller-Leser…

“Wunder wirken Wunder” von Eckart von Hirschhausen

Dieses Buch lief mir zufällig über den Weg – ich habe dann einfach mal zugegriffen. Ich will davon kurz berichten.

Hirschhausen ist ein bisschen der “everybody’s darling” der Medizin. Es ist der nette Onkel, ein sympatischer, eher harmlos wirkender Mensch, der einen bestimmt nicht überfordern möchte. Auch nicht in einem 500-Seiten-Buch.
Hirschhausen ist Mainstream, bekannt aus Funk und Fernsehen.
Lohnt es sich, so ein Buch zu lesen, wenn man sich schon einigermaßen informiert und aufgeklärt fühlt?
Insgesamt möchte ich diese Frage bejahen – wenn man auch mal seicht-unterhaltsam dargebrachte Kost mag.

Vom Selbstverständnis her soll dieses Buch der Versöhnung zwischen Schul- und Alternativmedizin dienen. Der Autor will die guten Seiten beider Ansätze nutzen und im Interesse der Patienten kombinieren.
Dieser Anspruch hat mich zunächst etwas skeptisch gemacht. Ich befürchtete eine eher wohlwollend-unkritische Haltung gegenüber den zahlreichen irrationalen Irrwegen der “anderen” Medizin. Diese Sorge erwies sich als gänzlich unberechtigt. Der Autor hat überall dort, wo es um eine Abgrenzung von Scharlatanerie, Esoterik und windigen Heilsversprechen geht, eine glasklare Haltung. Er arbeitet immer wieder sauber heraus, was an den alternativen Heilungsansätzen hilfreich und nützlich ist: nicht der (sowieso nicht messbare) Inhalt von irgendwelchen Globulis oder die Wirkung geheimer Kraftfelder, sondern Zeit, empathische Zuwendung und persönliches Gespräch.
Das Erfolgsgeheimnis von Heilpraktikern und Naturheil-Ärzten liegt nicht in ihren spezifischen Methoden, sondern in der angebotenen Beziehung, in der die Patienten auch oft ein wenig von ihrer Sehnsucht nach der “Heil-Kunst” befriedigt finden.

Hirschhausen benutzt zwar den reißerischen Begriff “Wunder” als Buchtitel, beschreibt aber letztlich wortreich die vielen Facetten des Placebo-Effektes. Dabei macht er deutlich, dass das systematische Wecken und Nutzen von positiver Erwartung und Zuversicht – mit den damit verbundenen Selbstheilungskräften –  bestimmte Rahmenbedingungen brauchen. Er betrachtet den Patienten nicht nur als Empfänger von Informationen und Arznei-Stoffen, sondern als Menschen, die in der Gesamtheit ihrer Voraussetzungen und Bedürfnisse gesehen werden wollen.
Seine Vorstellung einer angemessenen medizinischen Grundversorgung erfüllt eher der klassische Hausarzt als das hochspezialisierte und technisierte Facharzt-Zentrum.

Das Wunder-Buch ist aber viel mehr als ein Plädoyer für eine menschliche Medizin. Es ist ein recht umfassender Gesundheits-Ratgeber für den Alltag; nicht für das Erkennen und Behandeln bestimmter Erkrankungen, sondern als Richtschnur für eine gesundheitsfördernde Lebensweise. Sympathisch ist dabei die unaufgeregt-humorvolle Darstellung, aus der ununterbrochen Toleranz für menschliche Schwächen und Unvollkommenheiten träufelt.

Besonders  gefallen hat mir, dass Hirschhausen auch nicht blind für die gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit ist. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er auch die Bedeutung von Bildung für das Gesundheitsverhalten anspricht – ebenso wie einige bekannte Fehlentwicklungen in unserem milliardenschweren Gesundheitssystem, das seiner Überzeugung nach in einigen Bereichen eher an einer Überversorgung als an einer Unterversorgung leidet.

Mein Tipp: Dies Buch ist ein gutes Geschenk für Menschen, die wohldosierte und nett garnierte Informations- und Aufklärungshäppchen ohne erhobenen Zeigefinger genießen wollen. Ein Gesundheitsbuch für diejenigen, die sich dieser Thematik ohne den Promi-Bonus und den anekdotenhaften Stil nicht in dieser Ausführlichkeit widmen würden.

Aufklärung, die nicht anstrengt und nicht weh tut. Aus meiner Sicht ohne Nebenwirkungen.

…. Autozeitschriften

Manchmal sitzt man irgendwo und hat keine Wahl. D.h. – eigentlich hätte man doch eine Wahl, denn man könnte ja irgendwas mit dem Smartphone machen. Das könnte man immer. Aber denke ich: “Du willst nicht zu den Menschen gehören, die immer und überall aufs Handy glotzen!”. Und dann nehme ich mir eine Zeitschrift…

Neulich in der Werkstatt war die Auswahl begrenzt. Es gab nur “Auto-Bild”. Ich fing an zu blättern. Und dann staunte ich.

Es kann doch unmöglich wahr sein – so dachte ich – dass hier die Zeit stehen geblieben ist. Befinde ich mich im Jahr 1968? Spiele ich noch Auto-Quartett?Dreht sich diese skurrile Welt hier wirklich noch um autoähnliche Geschosse, die über 600 PS in sich tragen? Wird hier über “fehlenden Fahrspaß” geschrieben, weil irgendein Familienauto mit 150 PS untermotorisiert wäre? Freut man sich kindisch, weil irgendein BMW-Sondermodell nochmal einen Meter länger ist als die normale 7-ner-Reihe?

Leben diese Menschen – die Redakteure und die Leser – wirklich in der gleichen Welt wie ich?

Es geht mir nicht darum, hier irgendeine moralisch-intellektuelle Überlegenheit zu zelebrieren. Aber ich begreife einfach nicht, wie Auto-Journalismus im Jahre 2018 noch mit der gleichen naiven Begeisterung über reinen Technik-Protz überleben kann. Es fällt mir wirklich schwer, dass Thema “Auto” aus dem Kontext des 21. Jahrhunderts zu reißen. Und dieser Kontext heißt: Klimawandel, Schadstoffe, Lärm, moderne Mobilitätskonzepte, lebenswerte Städte, Energiesparen, Sicherheit.

Ich will den Menschen nicht den Spaß am Leben nehmen. Nicht jede unserer Entscheidungen oder Handlungen muss den Umweltengel tragen. Aber ich erlaube mir die Frage: Wie lange sollen die PS-Dinosaurier noch wie Götzen angebetet werden? Darf sich das Bewusstsein einer Gesellschaft auch irgendwann mal weiterentwickeln? Haben wir vielleicht angesichts der dramatischen Veränderungen einfach keine Zeit, bis der Auto-Wahn auch aus den letzten Köpfen von selbst verschwunden ist?
Konkret: Muss man in irgendwelchen Autotests immer die hoch-motorisiertesten Varianten gegeneinander antreten lassen? Muss man irgendwelche verrückten und unbezahlbaren Extrem-Autos verherrlichen?

Genug aufgeregt. Eigentlich wollte ich mich ja nur wundern….

“Shape of Water” – ein Film von Guillermo del Toro

Dieser Film nimmt einen mit in eine längst vergangene (amerikanische) Welt; er ist auf eine liebenswerte und perfekte Art altmodisch.

Altmodisch, weil das Ambiente der 50iger/60iger Jahre wirklich detailverliebt umgesetzt wird.
Altmodisch, weil es sich um einen so klaren Kampf “gut gegen böse” handelt.
Altmodisch, weil die Liebe noch alle Grenzen überschreitet – selbst zwischen Mensch und einem einsamen Fantasiewesen.
Altmodisch, weil er sich traut, nichts als ein Märchen zu erzählen.
Altmodisch, weil hier Kino noch die gute alte Traumfabrik sein darf.
Altmodisch, weil es natürlich eine Art Happy-End gibt (das darf mal wohl bei einem solchen Film, bei dem es nicht wirklich auf die Handlung ankommt, sagen).

Darüber hinaus ist dieser Film auch ein Fest für Cineasten: Er spielt virtuos und gleichzeitig augenzwinkernd mit Versatzstücken aus Spionage-, Fantasy-, Musical- und Liebesfilm.
Natürlich ist auch die filmtechnische Umsetzung über jeden Zweifel erhaben – aber das ist eigentlich nicht so wichtig.

Und der Film zelebriert das Thema “Wasser” auf vielen verschiedenen Ebenen – mit z.T. genialen Bildern und Szenenübergängen. Ein Genuss für Freunde von visuellen Ideen jenseits der krachenden Computer-Effekten.

Ach ja – da bleibt ja noch die Liebe: Zwei einsame und unverstandene Wesen finden – gegen jede Wahrscheinlichkeit und Vernunft – doch zueinander, weil sie sich in einem innersten Kern gegenseitig entdecken. Dabei spielt die Gemeinsamkeit der Stummheit eine entscheidende Rolle. In einer Zeit, wo vermeintlich alles gesagt werden kann und alles gesagt werden muss, finden zwei sprachlose Wesen eine ganz andere Verbindung.
Vielleicht kann man das als Metapher dafür betrachten, dass sich eine tiefere Seelenverwandtschaft nicht gleich an der Oberfläche zeigt und auch nicht von den üblichen Attributen einer Attraktivität abhängig ist.

Man kann und darf aber auch diesen Film einfach als eine amüsante und unterhaltende Auszeit aus der Elektronik- und Facebookwelt genießen. Man darf schmunzeln  – oder gerührt sein – und das Kino insgesamt bereichert verlassen.
Wer das möchte, trifft mit diesem Film eine gute Entscheidung.