“Von hier bis zum Anfang” von Chris WHITAKER

Bewertung: 5 von 5.

Manchmal haben sie schlichtweg Recht – die euphorischen Stimmen von Kritikern, die ein Buch zu einem Ereignis erklären. WHITAKER hat einen Roman vorgelegt, der sich in die Spitzengruppe der aktuellen Meisterwerke gehobener Unterhaltungsliteratur katapultiert hat.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht ein Mädchen, dem das Schicksal vor riesige Herausforderungen gestellt hat. Als Tochter einer psychisch instabilen alleinerziehenden Mutter trägt sie die Verantwortung für die Versorgung ihres jüngeren Bruders fast allein. Schaut man ihr beim Leben zu, scheint sie ausschließlich zu geben – ohne selbst Aufmerksamkeit, Fürsorge oder Orientierung zu bekommen.
Die Kraft, die Duchess trotzdem entwickelt, zieht sie aus einer Selbstzuschreibung, die sie aus ihrer Familiengeschichte zieht: Die Identität eines “Outlaws” schafft ihr eine kämpferische Unabhängigkeit, aus der sie eine Art Unverletzlichkeit zu schöpfen versucht. Sie überschreitet in dieser Rolle immer wieder Grenzen – innere und äußere – und wächst auf vielen Ebenen weit über das hinaus, was ein “normales” Mädchen am Übergang zwischen Kindheit und Jugend zu leisten im Stande ist.

Duchess Geschichte ist verwoben mit einem Umfeld, in dem ein Jahrzehnte zurückliegendes tragisches Ereignis bleibende Spuren in der Biografie einiger Personen hinterlassen hat. An den Folgen einer frühen Verfehlung (mit Todesfolge) arbeiten sich insbesondere der Täter und ein mit ihm eng befreundeter Polizist ab, die beide wiederum eine enge Verbindung zu Duchess Mutter haben. Zu den weiteren dramatischen Zuspitzungen in der Gegenwart gehört, dass Duchess mit ihrem Bruder den Haushalt der Mutter verlassen muss. Ein weiteres Verbrechen will aufgeklärt werden…
Da die Dynamik dieses Romans auch von den Verwicklungen und unerwarteten Wendungen lebt, soll hier nicht mehr verraten werden.

Es gibt ein paar Stellen, an denen man stutzt. Gelegentlich scheinen die Kräfte dieses Mädchens ein wenig zu übermenschlich gezeichnet zu sein; auch wirkt die Logik der Ausgangssituation (ein Jugendlicher verursacht einen Todesfall und kommt lange ins Gefängnis) – zumindest für deutsche Verhältnisse – eher fremd.
Aber das sind Kleinigkeiten – wenn man einmal entschieden hat, der Geschichte zu folgen.

Man bekommt eine Menge geboten, in diesem Buch: Eine kunstvoll konstruierte Geschichte, kriminalistische Spannungsbogen (mit Thriller-Anteilen), psychologisch-feinfühlig ausgearbeitete Figuren mit hohem Identifikationspotential, jede Menge emotionale Anrührungen und eine prachtvoll-bildhafte Sprache – mit einzelnen Formulierungen, die einen zum staunenden Innehalten zwingen.
Für mich ist das gleichzeitig lesbare Unterhaltung und echte Qualitäts-Literatur.

Eine uneingeschränkte Empfehlung für alle, die sich durch tiefe menschliche Emotionen und tragische Verstrickungen berühren lassen wollen! Dieses Buch braucht zum Aufbau von Intensität keine Helden, keine drastischen Schilderungen von Gewalt oder Sex. Die Intensität entsteht im Nachfühlen der Figuren, die allesamt fehlbar und brüchig sind.

Der neu PRECHT/LANZ-Podcast

Da legen zwei der bekanntesten Medien-Stars aus den Bereichen Journalistik bzw. angewandter Philosophie kurz vor der Bundestagswahl ein neues Podcast-Format auf. Der GRÜN-engagierte Hörer fragt sich natürlich: Was wird die Botschaft sein? Werden diese beiden intellektuellen Lichtgestalten ihrer gesellschaftlichen Verantwortung wohl gerecht?

Man spricht lange über Afghanistan, über die Feigheit der Parteien vor dem Wähler, über die Bewertung der Merkel-Ära, über die Fehler bei der Kandidaten-Kür und insgesamt über die Unfähigkeit von Politik und Gesellschaft, sich den wirklich großen Zukunftsfragen ehrlich und mutig zu stellen.
Dabei steht eine Botschaft – sozusagen auf der Meta-Ebene – über allem: Hier sprechen zwei Typen, die es besser wissen! Die sich auskennen, Dinge durchdacht haben, ganz viele wichtige Leute kennen, die Märchenerzählungen fürs einfache Volk entlarven und sich kompromisslos der Wirklichkeit stellen!
Super Jungs, ihr seid die Größten!

Es muss toll sein, sich so zu fühlen. Und irgendwie stimmt ja auch (ziemlich) alles.
Nur eine kleines Gefühl der Unstimmigkeit schleicht sich ein:
Ist es vielleicht doch irgendwie einfacher (und bequemer), aus einer Beobachterperspektive die Zusammenhänge zu analysieren – ohne sich der Mühe zu unterziehen, aus Einsichten eine konkrete Politik zumachen, die in einer konkreten Gesellschaft zu einem konkreten Zeitpunkt zu realer Zustimmung führt?

Ich kann sie nur schwer ertragen, diese pauschale Schelte über alle Programme und alle Kandidaten. Wenn man nur weit genug in der Idealwelt sitzt, verschwimmen wohl auch die Unterschiede zwischen GRÜN, SCHWARZ und ROT.
Aber in der Realpolitik, in dieser Wahl, kommt es auf die Unterschiede an. Dann macht es eben Sinn, die Richtung im Auge zu haben und nicht nur das Endziel.

Es ist nichts einzuwenden gegen das “Weiterdenken”; wir brauchen Ideen, Konzepte und Utopien, die über das Tagesgeschäft hinaus reichen. Ich bin froh, dass es PRECHT gibt.
Aber seine Haltung gegenüber dem Versuch, (gemäßigt) GRÜNE Politik mehrheitsfähig zu machen, ist in dieser Situation (drei Wochen vor einer wichtigen Wahl) dumm und verantwortungslos. Es fühlt sich wie Profilierung als Selbstzweck an.

Schade, PRECHT und LANZ; von euch wäre mehr zu erwarten gewesen.

“Der Fall des Präsidenten” von Marc ELSBERG

Bewertung: 3 von 5.

Aus einem zeitgeschichtlich relevanten Thema einen Spannungs-Roman zu machen, ist erstmal eine tolle Idee. Genau das passiert zur Zeit am laufenden (Regal-)Meter beim Mega-Thema Klima/Nachhaltigkeit.
Im aktuellen Buch von ELSBERG geht es um einen anderen, sehr kontrovers diskutierten Fragenkomplex: Welche persönliche Schuld laden Oberbefehlshaber auf sich, wenn es unter ihrem Befehl bei Kampfeinsätzen zu Kriegsverbrechen kommt? Unter welchen Bedingungen kann bzw. soll der Internationale Gerichtshof in Den Haag solche Vergehen behandeln können?

Um die Sache noch ein bisschen verstrickter zu machen, hat sich der Autor folgende konkrete Ausgangslage ausgesponnen: Obwohl die USA die Zuständigkeit dieses Gerichtes für seine Bürger nicht akzeptiert, hat sich eine engagierte Gruppe von Mitarbeitern das Ziel gesetzt, den Ex-Präsidenten anzuklagen. Um seiner habhaft zu werden, nutzen sie die Kooperationsbereitschaft einer griechischen Ministerin und erreichen eine vorläufige Festnahme.
Der Roman stellt die sich daraus ergebenden Verwicklungen im Stile eines Gerichts-Thrillers dar – wobei der Hauptteil des Geschehens außerhalb des (griechischen) Gerichtssaals stattfindet.
Wie man sich unschwer vorstellen kann, unternehmen die USA alles Erdenkliche, um die Freilassung ihres Ex-Regierungschef zu erreichen. So entsteht eine klassische zwei Fronten-Konstellation, in der David (insbesondere eine engagierte Anwältin und ihr Mini-Team) gegen Goliath (den gesamten amerikanischen Staatsapparat) kämpft.
(Dass es noch eine dritte Front gibt, lasse ich mal beiseite).

Was so oft in solchen Plots passiert, geschieht auch bei ELSBERG: Wo es am Beginn noch um einen differenzierten Einblick in die Feinheiten des Völkerrechts und um die (sehr emotionalisierte) Darstellung der Folgen z.B. des Drohnenkriegs für die Zivilbevölkerung geht, findet später eine immer abstruserer Schlagabtausch zwischen “gut” und “böse” statt. Der Wettlauf gegen die Zeit kulminiert letztlich (Überraschung!) in einem klischeehaften Showdown, in dem einem die zahlreichen Drohnen nur so um die Ohren sausen.

Okay: Wer einfach spannende Unterhaltung sucht und die dafür üblicherweise eingesetzte Action-Elemente nicht scheut, der macht mit diesem ELSBERG-Werk sicher nichts falsch. Nebenher gibt es doch eine recht gründliche Aufklärung über die Grundlagen und Mechanismen der internationalen Gerichtsbarkeit im Bereich Kriegsverbrechen.
Wenn man nach dem themenorientierten Einstieg jedoch etwas anders erwartet als die die üblichen Zutaten aus dem Spannungssortiment, dann enttäuscht dieser Roman letztlich doch.
Fairerweise muss man allerdings sagen: Es steht “Thriller” drauf – und man bekommt einen Thriller.

Steuer-Stasi?

Es macht sich zunehmend eine besondere Form der Definition von Freiheit breit, die folgende Idee zur Grundlage hat:
“Es gibt zwar (notgedrungen) juristische Regeln, die Gesellschaft soll aber nicht allzu viel Mühe darauf verwenden, deren Einhaltung zu überprüfen.”
Da “Freiheit” mit “Freiheit zur sanktionsfreien Regelüberschreitung” verwechselt wird, regen sich Leute z.B. über Radarfallen, regelmäßige Steuerprüfungen und über Pläne auf, Höchstbeträge für den Einsatz von Bargeld einzuführen (weil Deutschland nämlich eine Oase für internationale Geldwäsche ist).

Da wundert es nicht, dass der Versuch, dem Riesenproblem der (eindeutig asozialen) Steuerhinterziehung auch auf digitalem Wege etwas entgegenzusetzen, hemmungslos diffamiert und skandalisiert wird.
Da schreien einerseits alle Leute nach der “digitalen Verwaltung”, eine Online-Meldestelle für (auch anonyme) Hinweise auf Steuerhinterziehung wird fix zu einer Blockwart-Institution erklärt.

Ich begrüße jede Initiative, die dem (meist sehr kompetent gestalteten) Betrug am Gemeinwesen etwas entgegensetzt. Der GRÜNE Finanzminister aus Baden-Württemberg (Danyal Bayaz) verdient jeden Respekt!

“Das Links-Gespenst”

Es war ja erwartbar und unvermeidlich, dass es irgendwann von der Kette gelassen würde: das Gespenst des dramatischen Links-Rucks – ausgelöst durch eine drohende Regierungsbeteiligung der LINKEN an einer GRÜN/SPD-geführten Regierungskoalition.
Nun wird es also von UNION und FDP mit viel Tamtam durch die Medien gejagt, mit dem Ziel, von eigenen Schwächen und all den Themen abzulenken, bei denen es an eigenen tragfähigen und zukunftsbezogenen Konzepten mangelt.

Warum – so fragen sich viele – machen die GRÜNEN (oder die SPD) nicht einfach das Licht an und verwandeln so das Gespenst in eine hilflose und nackte Witzfigur? Der Schalter dafür wäre das explizite Ausschließen einer Zusammenarbeit nach der Wahl.
Der zusätzliche Vorteil könnte sein, dass sich möglicherweise einige Links-Sympathisanten doch noch umschwenken, wenn sie sicher sein könnten, dass eine Links-Stimme letztlich nichts Konkretes bewirken könnte.

Was spricht eigentlich dafür, sich diese Option (GRÜN/ROT/ROT) doch noch einen Spaltbreit offen zu lassen?

Hinsichtlich der Programmatik gibt es schlichtweg nicht zu übersehende Schnittmengen zwischen den drei Parteien, inzwischen nicht nur in der Sozialpolitik, sondern auch in der Klima-Frage (selbst wenn dahinter vielleicht mehr Taktik als echte ökologische Überzeugung stehen sollte). Es ist grundsätzlich nicht abwegig, dort nach Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu suchen, wo sie sich inhaltlich ganz offensichtlich bietet.

Dem kann man entgegenhalten, dass in einigen – gerade für die Bundespolitik bedeutsamen – Bereichen die Positionen der LINKEN als “unannehmbar” eingeschätzt wird. Hier geht es um NATO, Auslandseinsätze, eine gewisse DDR-Nostalgie und eine deutliche Affinität in Richtung Putin. Einräumen muss man dabei, dass die LINKE hinsichtlich ihrer Skepsis bzgl. militärischer Interventionen gerade einen Punkt machen konnte (Afghanistan); was bleibt ist aber ihre prinzipiell dogmatische Haltung an diesem Punkt (wobei die Enthaltung beim Rückholungs-Einsatz aus Sicht der Betonfraktion vermutlich schon eine Nachgiebigkeit war).

Wiederholt wurde (z.B. von Baerbock und Scholz) gesagt, dass man im Bund nicht mit einer Partei koalieren könne, die sich nicht zur NATO bekenne; gleichzeitig verweigert die LINKE ganz explizit dieses Bekenntnis. Wo bleibt da Spielraum?
Rein formal kommt es letztlich auf die Koalitionsvereinbarung an: Keine Partei (erst recht nicht eine sehr kleine) kann schließlich alle ihre Vorstellungen in einen solchen Vertrag einbringen. Daraus ergibt sich die Frage: Kann und darf man mit einer Partei koalieren, die in ihrem Programm “toxische” Forderungen hat, diese aber nicht in die gemeinsam vereinbarte politische Agenda eingehen?
Ich könnte darauf kaum eine andere Antwort geben als “ja”.
Genau deshalb ist es eben kein “Herumgeeiere”, wenn z.B. Baerbock sagt: “Nach Stand heute wäre eine Koalition nicht vorstellbar”, weil es die (vielleicht eher unwahrscheinliche) Möglichkeit offen lässt, dass letztlich ganz konkret eine gemeinsame Linie ausgehandelt werden könnte.
(Verhandlungstaktisch – z.B. gegenüber der FDP – wäre es ein zusätzlicher Vorteile, wenn es rein theoretisch noch eine andere Koalitionsoption geben könnte).

Das alles finde ich nicht wünschenswert! Meine erhoffte Regierung heißt GRÜN/ROT (zur Not auch ROT/GRÜN oder – zähneknirschend – GRÜN/SCHWARZ). Weder die FDP noch die LINKEN sollten wegen mir die Gelegenheit bekommen, Einfluss auf die Politik der nächsten Jahre zu nehmen.
Aber eine Sache treibt mich um:
Wenn der Klimafrage und der (sozial abgefederten) Nachhaltigkeits-Wende wirklich die Priorität bekommen sollen, die sie verdienen, dann wäre es tragisch und wirklich unentschuldbar, wenn eine irrationale Panik vor dem LINKS-Gespenst gutmeinende Menschen in die Arme der Bremser und Zauderer treiben würde (die im Zweifelsfall zuerst den wirtschaftlichen Interessen ihrer Klientel verpflichtet sind).
Wir sollten daher die Kirche im Dorf lassen und uns nicht einreden lassen (und das wird wirklich versucht!), dass die LINKE (mit ca. 7% Stimmanteil) die GRÜNEN und die SPD in ein sozialistisches (oder sonstwie radikales) Regierungsprogramm zwingen könnte. Das ist billigste Propaganda, die eigentlich nur im AfD-Lager verfangen sollte!

Zum Schluss nochmal im Klartext:
Wenn es wirklich gelingen sollte, die LINKEN so in ein Regierungsbündnis einzupflegen, dass ein Maximum an GRÜNER Politik dabei herauskommt (bei gleichzeitiger Vermeidung aller “toxischen” Inhalte), dann wäre das nicht nur kein Weltuntergang, sondern eine verantwortbare Option.
Sollten solche Verhandlungen (was wahrscheinlich ist) scheitern, dann führt das hoffentlich dazu, dass die Regierungsunfähigkeit der LINKEN dann auch für alle deutlich wird.