19.03.2020

Im Moment weiß ich gar nicht mehr genau, was anstrengender wäre: eine parmanente besorgte Anspannung oder ein Wechsel zwischen einer relativen Gelassenheit und akuten Ängsten.

Doch auch diese Alternative können wir uns nicht mehr wirklich aussuchen. Es passiert einfach mit uns. Es hängt davon ab, ob wir ein paar Stunden mit etwas ganz anderem beschäftigt sind, ob wir im Minuten-Takt Nachrichten konsumieren und welchem Virologen wir gerade zuhören.

Wir sollen wir die unterschiedlichen Perspektiven integrieren:
Da werden in der gleichen Sendung Bilder aus norditalienischen Krankenhäusern gezeigt, in dem die Menschen offenbar wegsterben wie die Fliegen – und Statistiken aus Asien, in denen man in bestimmten Regionen die Infektionen unter Kontrolle hat und kaum Opfer zu beklagen sind.

Ebenfalls irritierend: Während sich auf der einen Seite noch täglich die Appelle steigern, dass sich doch unbedingt alle an die Einschränkungen halten müssten, werden schon die ersten hoch-intellektuelle Betrachtungen darüber veröffentlicht, wie den die Erfahrung der (überwundenen) Pandemie unser Zusammenleben und Wirtschaften langfristig (natürlich zum Guten) verändern könnten. Mehrfach wurde schon eine “geläuterte” Gesellschaft prognostiziert, mit veränderten Prioritäten und einem neuen Bewusstsein für die wesentlichen Dinge des menschlichen Lebens.

Was für ein Kaleidoskop von Impressionen, Meinungen und Gefühlen!

Wie viele Stunden am Tag sollte oder kann man sich dem aussetzen? Was muss man vorzugsweise pflegen: den Körper (durch Abschottung), die Psyche (durch Ablenkung oder Selbstfürsorge), das soziale Miteinander (durch Kontakt und Gespräch), den Geldbeutel (durch Konsumverzicht, Nebenjob oder Geldgeschäfte)?

Bis morgen!

18.03.2020

Im Moment wird es mir ein wenig zu strubbelig.

Da wird gestern Abend bei LANZ unentwegt über die vermeintliche Notwendigkeit einer Ausgangssperre gesprochen – ein Tag nach dem Beschluss über die weitreichensten Einschränkungen des öffentlichen Lebens ever.

Wo ist die Grenze zwischen ernsthafter Vorsorge und eigendynamischer Steigerungsspirale?

Wird man in den nächsten Tagen als unverantwortlicher Gesellschafts-Schädling betrachtet, wenn man für sich alleine eine Runde auf dem Fahrrad dreht?
Ist man ein Outlaw , wenn man im eigenen PKW zu einem Teil seiner “Kern-Gruppe” unterwegs ist – zu Menschen, mit denen man sowieso Kontakt hatte und hätte, so wie andere auch in ihren Familien? Sollen sich Paare nicht mehr treffen, weil sie (aus welchen Gründen auch immer) nicht zusammen wohnen?

Das macht alles keinen Sinn! Weder medizinisch, noch sozial, emotional oder psychisch.

Es gäbe nur ein Argument: Müssen wir vielleicht auch völlig unsinnige Maßnahmen ergreifen, damit der Druck erhöht wird, die notwendigen Dinge auch tatsächlich zu tun bzw. zu unterlassen?
Das würde bedeuten: Die Menschen, die sich nicht an sinnvolle Appelle und Regeln halten, zwingen ihren verantwortlichen Mitmenschen überflüssige und belastende Einschränkungen auf.
Vielleicht ist die Welt so.
Aber sollte man nicht erstmal versuchen, die tatsächlich angesagten Vorschriften durchzusetzen?

17.03.2020

Als ich mich am Anfang des Jahres entschloss, meinen Blog bis auf Weiteres mit täglichen Kurzeinträgen zu versehen, konnte ich noch nicht erahnen, was das einige Wochen später bedeuten könnte. Ich ging ja von der bis dahin bekannten und gelebten Normalität aus.

Inzwischen scheint unvermeidbar, dass die Posts auf diesem Blog zu einer Art Tagebuch dieser sehr besonderen Krise werden. Und zwar einer Krise, die uns mit Sicherheit in bisher völlig unbekannte Lagen führen wird – mit jeder Menge Herausforderungen und Verunsicherungen.

Ja, es wird bestimmt irgendwann informativ und spannend sein, diese Texte noch einmal zu lesen und sich so in die Empfindungen dieser Zeit zurückzuversetzen.
Von dieser Situation – also dem entspannten Rückblick auf eine Ausnahmezeit – trennen uns leider noch einige Monate (Jahre?) und sicher auch Erfahrungen und Ereignisse, die alles andere als angenehm sein werden.

Ich kann mich nicht von dem Wunsch freimachen, dass es ich ganz gerne schon an diesem Punkt angekommen wäre, nach dem Motto: “Irre Zeit, aber geschafft und überstanden!”
Da es soweit aber noch nicht ist, werde ich an dieser Stelle weiter schreiben. Hauptsächlich für mich, auch als eine Art Bewältigungsstrategie. Schreiben kann auch Ängste und Stress abbauen.
Aber weiterhin freue ich mich natürlich auf den ein oder anderen interessierten Menschen, der meine Gedanken als lesens- und bedenkenswert betrachtet.

Bis morgen!

16.03.2020

“Hart aber fair” fängt um 20:15 Uhr an und geht irgendwann nach 23 Uhr fast nathlos in die Tagesthemen über.

Medien im Ausnahmezustand begleiten eine Gesellschaft im Ausnahmezustand.

Sie tun es gut. Informativ und umfassend. Seriös und verantwortungsvoll.

Wir haben ein funktionierendes Gemeinwesen – fast auf allen Ebenen. Das, was wir brauchen in schweren Zeiten, liefern weder Populisten noch Wutbürger oder Internet-Chaoten.

Ich bin sehr gespannt, welche mittel- und langfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen das alles haben wird. Schon allein deswegen würde ich es gerne auch ganz persönlich überstehen….

15.03.2020

Was soll man vor Beginn einer Woche schreiben, in der es zu einer Art “Ausgangssperre” kommen könnte?

Da bin ich im Moment etwas sprachlos.

Melde mich morgen wieder.

13.03.2020

Ich klage an: Der Corona-Virus betreibt Altersdiskriminierung!

Was ist nicht alles passiert in den letzten Jahrzehnten, um der Diskriminierung jeder erdenklichen Minderheit entgegenzutreten. Inzwischen ist alles erlaubt – jede/r/s Religion, sexuelle Präferenz, Kleidung, Körperkult, Weltanschauung, Partnerschaftsmodell. Familienkonstellation, Ernährungsregel, usw.
Niemand wird – zumindest offiziell – wegen irgendwas benachteiligt.
Das ist sicher ein gesellschaftlicher Fortschritt, auf den unsere liberale Demokratie stolz sein kann (auch wenn es die ein oder andere Übertreibung gab und gibt…).

Und jetzt kommt dieser bekloppte Virus und sagt: Ob ihr schwer erkrankt oder vielleicht auch sterbt, hängt in erster Linie von eurem Alter ab. Je nachdem, wie alt ihr seid, ist euer Leben (am Ende dieser Pandemie) zu 0,7% oder zu 25% zu Ende (statistisch betrachtet, im Falle einer Infektion, die wiederum zu ca. 70% wahrscheinlich ist).

Ups! Was ist auf einmal mit der stetig steigenden Lebenserwartung los?
Darf so ein hergeflogener Virus das einfach auf den Kopf stellen? Gibt’s da nicht irgendwo eine Gleichstellungsbeauftragte?

Das klingt vielleicht irgendwie lustig (soll es natürlich auch).
Aber das ist nur eine Übersprungshandlung, eine Bewältigungstechnik.
Ich finde es tatsächlich in keiner Weise amüsant, mich mit einer altersbedingten Sterblichkeitswahrscheinlichkeit von ca. 4% in diesem Jahr konfrontiert zu sehen (im – durchaus wahrscheinlichen – Falle einer Infektion).
Okay – das ist immer noch eine gute Überlebensrate – aber diese beruht darauf, dass alle Systeme funktionieren und die ernsthaft Erkrankten noch gut versorgt werden.

Ich gönne es den jüngeren Menschen, dass sie in dieser Krise eine größere Sicherheit haben. Es wäre total ungerecht und unnatürlich, wenn es umgekehrt wäre.
Ich weiß ja auch, dass ich allein durch mein Alter jedes Jahr eine höhere Sterblichkeitswahrscheinlichkeit habe, ist ja logisch.
Aber: Das muss ja nicht noch durch Corona potenziert werden!
Muss es wirklich das Alter sein? Darf nicht berücksichtigt werden, wo man gerade steht im Leben, was man noch vorhat, was einen alles interessiert, wen man alles mag und liebt?

Okay. Ich sollte fair und faktenorientiert bleiben. Wozu bin ich Psychologe?
Natürlich wird nicht nur unser (biologisches) Alter entscheiden, sondern letztlich unser Immunsystem, das auch von vielen anderen Faktoren beeinflusst wird. Eben auch von unserer Psyche.
Also – bei aller demütigen Schicksalsergebenheit: In eine ängstliche oder fatalistische Mutlosigkeit zu verfallen, wäre kontraindiziert! Seien wir selbstfürsorglich und hoffnungsfroh! Behalten wir eine lebensbejahende Grundhaltung; tun wir Dinge, die uns und unser Leben bereichern!
Dafür ist es vielleicht gar nicht so schädlich, dass man aufgrund der besonderen Situation mal innehält und seine Prioritäten überdenkt.

Wir sollen Sozialkontakte einschränken. Das ist sicher vernünftig – soweit es um größere Gruppen von eher anonymen Personen oder um besonders gefährdete Menschen geht.
Das kann aber nicht die Richtschnur sein für den Umgang mit den paar Menschen, die unser Leben wirklich im Kern bereichern und einen Teil unserer Identität ausmachen. Diese Menschen brauchen wir, um unsere positive Lebensenergie zu erhalten.

Es ist sicher eine Zeit zum Innehalten und zur Besinnung, zum Nachdenken, zu Gesprächen, zu einem gutes Buch; für die wirklich bedeutsamen Menschen.
Das alles gilt unabhängig vom Alter.

12.03.2020

Vermutlich könnte man in den nächsten Wochen und Monaten jeden Tag über den Corona-Virus reden. Es würde wohl nie langweilig werden.
Man könnte die Situation mit früheren Krisen vergleichen, könnte die Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik, Zukunftsperspektiven und die menschliche Psyche betrachten.
Vielleicht werden die Zeiten ja so schwierig, dass eine solche Fixierung auf ein Thema sogar angemessen erscheint.

Heute – jedenfalls – ist die Verbindung zwischen Trump und dem Virus daran.

Das ist ein außerordentlich interessantes Thema – denn der Virus macht sich ausgerechnet in Wahlkampfzeiten breit.
Was macht ein Trump mit einem Gegner, der sich nicht durch “twitter-tweets” provozieren, nicht durch “fake-news” beirren und nicht durch einen “perfect deal” einfangen lässt? Der sich sogar gegenüber dem Slogan “america first” taub stellt? Dem man nicht mit Anwälten und dem Zorn der “real americans” drohen kann?

Ein paar Sachen gehen noch!
Man könnte z.B. sagen, dass andere Schuld sind. Das könnten ja die gegnerischen Demokraten sein: Haben die nicht die ganze Sache erfunden oder hochgespielt, nur um den so einzigartig erfolgreichen Präsidenten zu schaden?
Und wenn es den Virus nun doch gibt: Haben nicht diese Europäer die Verbreitung ermöglicht, die wegen ihrer bekloppten humanistischen Ideen dauernd irgendwelche Ausländer reinlassen – statt ihre Grenzen durch angemessene Mauern zu schützen (“gab es da nicht schon mal irgendwo gute Ansätze…?”).
Und wenn ich (Trump) dann doch handeln muss: Dann sperre erstmal die Europäer aus – egal wie viele Infektionen schon im Land grassieren (weil das mit den eigenen Tests nicht geklappt hat).

Wir werden es sehen: Ein Land, in dem Egoismus Staatsräson ist und ein allgemeine Krankenversicherung als Sozialismus gilt – so ein Land wird ganz sicher mit dem Virus die größten Probleme kriegen.
Nach dieser Krise werden solche Dinge wie “ein starker, fürsorglicher Staat”, eine “funktionierende Verwaltung” und “eine ausgebaute Infrastruktur” eine hohe Wertschätzung genießen. Weltweit.
Wer auf persönlichen Reichtum statt auf ein geordnetes Gemeinwesen setzt, wird die globalen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte nicht meistern!
Die Klimakrise lässt grüßen!

“Der Wal und das Ende der Welt” von John IRONMONGER

Bewertung: 4 von 5.

Dieses Buch hat mir eine besondere Erfahrung vermittelt: Ohne dass ich es vorher ahnte, hat es mitten in der Corona-Krise eine Hintergrundgeschichte aufgespannt, die eine gravierende Grippe-Epidemie zum Thema hat. So hatte ich in den letzten Tagen sozusagen auf einer zweiten -literarischen – Ebene eine Art Prognose, wohin eine solche Epidemie auch führen könnte.
Natürlich sagt diese zeitliche Koinzidenz nichts über die Qualität des Buches aus. Für mein Leseerlebnis hat es aber tatsächlich eine Rolle gespielt.

Erzählt wird folgende Geschichte: Ein vermeintlich gescheiterter Banker (genauer gesagt Analyst) setzt sich aus seinem Büro ab und landet nach einer Autofahrt sozusagen am Ende der Zivilisation. In einem kleinen, abgeschiedenen Fischer-Örtchen spielt er offensichtlich mit dem Gedanken, seinem nutzlos gewordenen Leben ein Ende zu setzen. Er wird gerettet. Dabei spielen ein Wal und die ca. 300 Einwohner des beschaulichen Ortes eine Rolle.
Ich will natürlich nicht die ganze Geschichte nacherzählen. Joe wird sehr schnell ein integriertes Mitglied dieser Dorfgemeinde und trägt maßgeblich dazu bei, dass sich dieser Ort in einer besonderen Weise auf die allseits verbreitete Grippe-Epidemie vorbereitet. Natürlich entstehen auch persönliche Beziehungen und auch an diesen lässt uns der Autor teilhaben.

Die erzählerische Dynamik speist sich auch daraus, dass es Rückblenden in das – so ganz andere – Leben des Londoner Finanzzentrums gibt. Aus dem Kontrast dieser beiden Subkulturen werden letztlich die entscheidenden Botschaften des Buches herausdestilliert: Es geht in diesem Buch um Gemeinschaft und Solidarität, die ganz offensichtlich im Gegensatz stehen zu einem rein auf den egoistischen Vorteil bezogenes Handeln und Wirtschaften.

Und nun zur Einordnung:

Der Autor erzählt so etwas wie ein modernes Märchen. Entscheidend sind dabei weniger die Einzelheiten der Handlung, sondern die „Moral von der Geschicht“.
Die Figuren sind durchweg sympathisch oder leicht ambivalent gezeichnet, richtig böse Menschen gibt es in diesem Buch nicht. Das ist sicher ein Teil der Botschaft.
Das märchenhafte des Buches liegt darin, dass man sich eine tatsächliche Umsetzung der beschriebenen Ereignisse in die Realität doch nicht ganz vorstellen kann. Insbesondere das groß zelebrierte Solidaritäts-Ereignis am Ende des Buches hat eher einen symbolischen Wert; man muss das alles nicht wörtlich nehmen.
Eine nette, vielleicht etwas sehr wohlmeinende Story mit viel moralischem Impetus. Das ist kein Buch für Intellektuelle, sondern eher für Menschen, die positive Geschichten mögen.

Insgesamt mochte ich dieses Buch, es ist menschenfreundlich und stimmt hoffnungsvoll.
Gegen Ende wurde meine Toleranz in Bezug auf das Abdriften ins Kitschige doch etwas stark strapaziert. Alles ziemlich dick aufgetragen, eben was fürs Herz. Ist ja okay…
Letztlich endet das Buch doch noch ganz originell. Immerhin.

Die echte (Corona-)Epidemie geht auch nach dem Lesen des Buches weiter. Der Grundgedanke, dass Menschen auch im echten Krisenfall nicht gleich zu egoistischen Monstern werden müssen, kann natürlich als Apell für die Realsituation betrachtet werden. Wir werden sehen, wie weit uns das Gemeinschaftsgefühl in den nächsten Monaten trägt.

“Das Ende der Illusionen” von Andreas RECKWITZ

Dies ist das zweite Buch des populären Soziologen Reckwitz, das ich innerhalb der letzten Wochen gelesen habe.
Während es im ersten Buch (“Die Gesellschaft der Singularitäten“) darum ging, die gesamte gesellschaftlicher Entwicklung der sog. “Spätmoderne” auf dem Hintergrund einer gemeinsamen Schablone zu betrachten (eben der Tendenz zur Singularität), spannt Reckwitz in seinen fünf Beiträgen der Bogen ein wenig weiter.

Diese fünf Aspekte betreffen:
– die Veränderungen im Kulturbereich und Kulturbetrieb
– die Entwicklung einer neuen gesellschaftlichen Klassen-Aufteilung
– die Ablösung eines industriellen Kapitalismus durch einen “kognitiv-kulturellen” Kapitalismus
– die Ausrichtung weiter Teile der Gesellschaft auf das Ziel der “Selbstverwirklichung” und dessen Folgen
– die Frage nach einem notwendigen und neuen politischen Rahmen für unsere Gesellschaft insgesamt (er nennt ihn: “einbettenden Liberalismus”)

Das klingt alles sehr abstrakt; ein wenig nach Soziologen-Kauderwelsch.
Und zugegeben: Wer Sätze mit mehr als zwei Fachbegriffen oder Fremdworten nicht mag, sollte nicht zu diesem Buch greifen.
Wer sich an gut hergeleiteten Analysen von zeitgeschichtlichen Entwicklungen erfreuen und die damit verbundenen “Aha-Erlebnisse” genießen kann, der ist bei Reckwitz genau richtig.

Was bekommt man?
Letztlich bekommt man ein beschreibendes und z.T. auch erklärendes Gerüst für ganz unterschiedliche Phänomene in Wirtschaft, Konsum, Bildung, Reisen, Wohnen, Partnerschaft, usw.
Damit werden bestimmte – gut nachvollziehbare – Beobachtungen (z.B. bzgl. der Wertigkeit von bestimmten Ausbildungen oder Berufsbildern) nicht als interessante Einzelphänomene betrachtet, sondern in einen verbindenden Kontext gesetzt. Viele Veränderungen ergeben – gemeinsam betrachtet – einen Trend. Aus solchen Trends ergeben sich neue Gewohnheiten, Bewertungen und letztlich auch Strukturen.
Mit Distanz und aus analytischer Perspektive betrachtet erkennt dann der Soziologe eine eine neue gesellschaftliche Epoche. In diesem Fall die “Spätmoderne”.

In den fünf Aufsätzen werden zwar unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, es geht aber immer um die gleiche Grundbetrachtung. Es gibt daher große Überschneidungen; die entscheidenden Begrifflichkeiten tauchen immer wieder auf.
Lesbar und verständlich sind die Kapitel aber auch für sich alleine.

Für psychologisch interessierte Menschen ist das Kapitel über die “Selbstverwirklichung” und ihre emotionalen Kosten ein wahrer Genuss. Es macht einfach total viel Spaß, einen Soziologen über ursprünglich psychologische Konzepte “reden” zu hören. Man möchte am liebsten die Grenzen zwischen den beiden Fachgebieten öffnen, sich auf einer gemeinsamen intellektuellen Spielwiese treffen und in einem fairen Wettkampf um die treffenderen und erkenntnisreicheren Konzepte antreten.
Mir hat es großes Vergnügen bereitet, mich selbst einzuordnen in den Irrungen und Wirrungen der Selbstverwirklichungs-Euphorie; man kann ganz gut über sich selber schmunzeln, man fühlt sich durchaus auch mal erwischt…

Okay, ich will niemandem dieses Buch als amüsante Nachttisch-Lektüre verkaufen. Es bleibt ein wissenschaftliches Fachbuch, es bleibt Lese-Arbeit.
Das (optisch) kleine und unscheinbare Büchlein ist inhaltsschwer – auch weil die Schrift recht kleingedruckt ist.

Und der Vergleich der beiden Bücher?
Das fällt mir schwer. Das Singularitäten-Buch ist auf jeden Fall das “schönere” Buch; es macht deutlich mehr her. Es ist noch systematischer aufgebaut als das hier besprochene Nachfolgewerk. Es gibt einen großen roten Faden.
Trotzdem ist man wohl als jemand, der Reckwitz und seine Theorien kennenlernen will, mit dem “Ende der Illusionen” besser bedient. Der Ansatz ist noch ein wenig breiter und nicht so stark zugeschnitten auf eine Hauptthese.

08.03.2020

Man gibt uns ein Gefühl des Umsorgtwerdens.
Krisenstäbe treffen sich, Politiker treffen sich. Es werden Empfehlungen ausgesprochen, mit zunehmender Dringlichkeit.
Das ist gut und richtig. Auch ich verlasse mich darauf, dass es Notfallpläne für den Fall gibt, dass die sensiblen Schnittstellen unserer hochkomplexen Grundversorgung in Gefahr zu kommen drohen.
Da wird es Urlaubssperren und Dienstverpflichtungen geben (müssen).

Es gibt auch aktuelle Pläne und angekündigten Entscheidungen, die mich irritieren:
Steuersenkungen sollen vorgezogen werden, Kurzarbeitergeld soll fließen, Konjunkturprogramme werden vorbereitet.
Ich frage mich: Muss schon bei den ersten zarten Auswirkungen das Pulver aus vollen Rohren verschossen werden? Wissen wir schon, was insgesamt auf unsere Gesellschaft zukommt? Ist es wirklich vordringlich, den privaten Konsum anzuheizen, angesichts einer völlig unklaren Perspektive? Könnte es nicht sein, dass wir die Milliarden, die jetzt eine erste wirtschaftliche Delle ausgleichen sollen, später für weit dringendere, existenzielle Aufgaben benötigen?

Noch allgemeiner gefragt: Welches Signal brauchen wir? Dass alles so weitergehen kann wie bisher? Teile der Wirtschaft kommen zum erliegen – der Staat richtet es so schnell und so perfekt, dass keiner was merkt?

Wie lange soll das funktionieren? Wie lange will man den Leuten vormachen, dass die Corona-Krise nicht mit Zumutungen verbunden sein wird?
Glaubt man wirklich, die Spielchen aus der Klimapolitik ließen sich auf das Virus übertragen? Nach dem Motto: “Es ist zwar schlimm und wir müssen was tun – aber es darf keiner spüren?”

Müsste es nicht genau umgekehrt sein? Müsste nicht die Konfrontation mit den unvermeidbaren Zumutungen der Epidemie eine Art Modell dafür sein, dass wir auch mit den mittel- und langfristigen Bedrohungen mutiger und konsequenter umgehen sollten. Auch die Bekämpfung der Klimakrise wird in einigen Bereichen ans Eingemachte gehen (müssen).

Ich bin für jede Art von Hilfe und Unterstützung – aber hört auf den Menschen vorzugaukeln, es ginge ohne Zumutungen ab.
Und spart die Ressourcen für den Fall, dass aus Zumutungen echte Not wird.